Beobachter: Der frühere Nationalbank-Chef Philipp Hildebrand und seine Partnerin, Rohstoffkönigin Margarita Louis-Dreyfus, erwarten im April Zwillinge. Beide sind über 50. Wie finden Sie das?
Irène Kummer: Eine so späte Mutterschaft finde ich nicht per se falsch – und vielleicht wird es das ja in Zukunft auch öfter geben. Aber Zwillinge in diesem vorgerückten Alter sind natürlich immer ein grosses Risiko, und die Eltern können meist die Kinder nicht mehr so ohne weiteres lange begleiten. Immer wenn sich neue technische Möglichkeiten auftun, müssen wir den Umgang mit ihnen erst einmal erlernen und erproben – und uns stets auch auf den Prozess einer ethischen Reflexion einlassen.

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Quelle: Flurin Bertschinger

Quelle: BFS; Infografiken: Beobachter/AS

Beobachter: Sie selber sind ebenfalls relativ spät Mutter geworden – mit 38. Warum?
Kummer: Ich wollte immer Kinder, einfach nicht schon im Alter 20 plus. Es ist oft nicht leicht, einen Partner zu finden, der dieselbe Lebensvision hat. Schliesslich trat ein Mann in mein Leben, der auch unbedingt Kinder wollte. Da die biologische Uhr immer intensiver tickte, setzte ich mit dem Einverständnis meines Partners die Pille ab und wurde sofort schwanger. Ich war überglücklich, schwebte einige Meter über dem Boden. Auch heute noch bin ich dankbar, dass ich das Glück hatte, so spät noch Mutter zu werden.

Beobachter: Ältere Mütter sind aber gesellschaftlich immer noch nicht so richtig akzeptiert. Sie handeln egoistisch, heisst es.
Kummer: Das ist eine Frechheit. Wieso soll eine Frau nicht auch individuelle Lebensziele verfolgen dürfen – wie ein Mann – und mit 40 noch Mutter werden? Wenn sie sich entschlossen hat, so lange zu warten, muss sie allerdings auch heute noch mit dem Risiko leben, dass es vielleicht trotz aller modernen Reproduktionsmedizin nicht mehr klappt.

Beobachter: Wieso reagieren viele so emotional und ablehnend auf 40-jährige Mütter?
Kummer: Leute, die etwas gegen späte Mütter haben, unterstellen ihnen ganz viel: etwa dass diese Frauen nur Karriere machen und sich dann später schnell ein Kind leisten wollen. Das ist ein gesellschaftliches Vorurteil, das immer noch viel mit dem traditionellen Rollenverständnis zu tun hat. Die meisten Frauen heute entscheiden sich für Kinder und Berufstätigkeit. Sie geraten unter Druck, wenn sie es nicht tun. Die Situation hat sich also umgekehrt, aber es gibt heute zum Glück viel mehr Varianten, wie eine Frau ihre Lebensvision gestalten kann. Jeder gesellschaftliche Wandel ist mit Schwierigkeiten und Zweifeln verbunden. Das muss so sein.

Quelle: Flurin Bertschinger

Beobachter: Mehr als 5000 Frauen wurden 2014 hierzulande mit über 39 Jahren Mutter, das sind gut sechs Prozent der Gebärenden. Das ist nur dank dem technischen Fortschritt überhaupt möglich.
Kummer: Was technisch machbar und legal ist, wird in der Regel ausgeschöpft – wenn nicht in der Schweiz, dann anderswo.

Beobachter: Haben Paare wegen der immer grösseren Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin auch höhere Ansprüche?
Kummer: Ja, sicher. Wir leben in einer Gesellschaft, die einem grossen Machbarkeitswahn unterliegt. Man liest von Promifrauen wie der italienischen Sängerin Gianna Nannini, die mit 54 Mutter wurde. Natürlich beeinflusst das auch «normale» Frauen. Der Gedanke «Wenn ich nur will, dann geht es auch» liegt nah. Aber man kann bis heute kein Kind mit Sicherheit produzieren. Die wichtige ethische Frage lautet ohnehin: Darf man alles, was man kann, auch tun? Wo ist die Grenze? Ich kann das nicht beantworten, aber jede Generation muss sich immer neu mit dieser Frage auseinandersetzen. Das gehört zu unserer Entwicklung, denn wir werfen uns immer in eine unbekannte Zukunft.

Beobachter: Die Schweiz hat im Vergleich zum Ausland sehr restriktive Gesetze. Nun soll die Präimplantationsdiagnostik – die genetische Untersuchung von Embryonen, die durch künstliche Befruchtung entstanden sind – unter gewissen Umständen erlaubt werden.
Kummer: Ich finde das absolut stimmig und konsequent. Heute kann man die diagnostische Untersuchung erst durchführen, wenn der Embryo schon in die Gebärmutter eingepflanzt worden ist, die Frau also schwanger ist. Wenn dann eine schwerwiegende Diagnose wie Trisomie 18 vorliegt, kommt es oft zum Abbruch der Schwangerschaft, was für eine Frau sehr einschneidend ist. Darum ist es viel sinnvoller, diese Diagnose vorher in der Plastikschale zu machen, um späteres Leid zu verhindern.

«Der Gap zwischen den Geschlechtern ist eines der Hauptprobleme in der heutigen Gesellschaft.»

Irène Kummer, Psychotherapeutin

Beobachter: Sie betreuen als Psychotherapeutin Paare mit unerfülltem Kinderwunsch, haben also oft mit Frauen zwischen 30 und 40 zu tun. Was sind deren grösste Probleme?
Kummer: Viele Frauen um die 30 sagen, für ihre gleichaltrigen Partner sei ein Kind in diesem Alter noch zu früh. Natürlich haben diese Frauen noch Zeit, aber die Coolness, das auszuhalten, haben nicht alle. Sie hören ihre biologische Uhr ticken, sie wissen, dass sie nicht unendlich lange warten können – im Gegensatz zu den Männern, die auch mit 60 noch problemlos Vater werden können. Dieser Gap zwischen den Geschlechtern ist eines der Hauptprobleme in der heutigen Gesellschaft.

Beobachter: Wie helfen Sie diesen Frauen?
Kummer: Wenn der Partner mit in die Therapie kommt, ist die Hälfte gewonnen, dann ist ein Dialog möglich. Sonst muss die Frau sich die Frage stellen, ob ihr die mögliche Erfüllung des Kinderwunschs oder die Partnerschaft wichtiger ist. Und sie muss den allfälligen Verlust betrauern können und den Schmerz aushalten, dass sie ihren Lebensentwurf vielleicht anpassen muss. Dies ist eine Herausforderung, die immer wieder an uns herantritt: wie umgehen mit unerwarteten Veränderungen?

Beobachter: Kann der Kinderwunsch zum Wahn werden?
Kummer: Ich würde nie von einem kranken Kinderwunsch reden, sondern von einem unglücklichen Umgang damit. Manche Frauen erfasst er tatsächlich sehr stark, wenn die biologische Uhr intensiv tickt. Solche Frauen verkrampfen sich manchmal total. Sie verrennen sich und verharren in ihrem Lebensmuster, kriegen einen Röhrenblick, bei dem der ganze Horizont verschwindet. Ein Teufelskreis. Dieses Klammermuster muss abgebaut werden, damit überhaupt andere Bedürfnisse und andere Perspektiven auftauchen können.

Beobachter: Sagen Sie Ihren Patientinnen auch mal: «So, jetzt hören Sie mal auf»?
Kummer: Ja, ich hole mir die Erlaubnis beim Paar, es stoppen zu dürfen, wenn es selber nicht mehr aus dem Hamsterrad der gegenseitigen Verstrickung herausfindet.

Beobachter: Manche Frauen sehen ihre Kinderlosigkeit als Makel, fühlen sich als Versagerin.
Kummer: Immer wenn sich eine Lebensvision nicht erfüllt, tut das weh. Es braucht Zeit, mit diesem Schmerz umzugehen. Ihm wird in unserer Gesellschaft viel zu wenig Raum gegeben, das Verständnis anderer dafür ist relativ gering. Wenn es mehr Teilnahme gäbe, dann bräuchte es mich als Therapeutin ja auch nicht mehr.

Irène Kummer, 71, ist Psychotherapeutin in Zürich. Einer ihrer Schwerpunkte ist die Arbeit mit Frauen und Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch. Seit 1990 leitet sie das Zentrum für Form und Wandlung. Sie ist Mutter zweier erwachsener Kinder und Autorin von Sachbüchern im Bereich Psychologie und Beratung.

Fortpflanzung: Was gilt in der Schweiz?

Die Schweiz steht an einem Wendepunkt: Bisher waren hierzulande die Gesetze rund um die künstliche Befruchtung sehr restriktiv.

Verboten sind unter anderem Ei- und Embryonenspende sowie die Leihmutterschaft. Das Bundesgesetz über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung bestimmt seit 2001, unter welchen Voraussetzungen Reproduktionsverfahren beim Menschen angewandt werden dürfen. Bisher untersagte es auch die Präimplantationsdiagnostik: Diese untersucht durch künstliche Befruchtung entstandene Embryonen vor dem Einpflanzen in die Gebärmutter.

Nun soll die Präimplantationsdiagnostik mit der Revision des Gesetzes unter gewissen Umständen erlaubt werden: Erblich vorbelastete Paare sollen sie nutzen können. Zudem soll erlaubt werden, Embryonen zu Fortpflanzungszwecken aufzubewahren. Bisher durften maximal drei Embryonen im Reagenzglas (in vitro) entwickelt werden, und alle lebensfähigen mussten in die Gebärmutter übertragen werden. Das führte oft zu Mehrlingsschwangerschaften, die mit Risiken für Mutter und Kind verbunden sind.
Um dieses Risiko zu verringern, soll man Embryonen künftig aufbewahren und allenfalls später einsetzen können. Das gilt für alle In-vitro-Verfahren; oft nutzen ältere Frauen die Verfahren, damit sie noch schwanger werden können.  Die betreffende Verfassungsänderung wurde im Juni 2015 von Volk und Ständen deutlich angenommen. Im Juni dieses Jahres stimmt das Volk über die konkrete Gesetzesänderung ab, die die Rahmenbedingungen definiert.

Buchtipp: Annette Wirthlin: «Bye-bye, Baby? Frauen im Wettlauf gegen ihre biologische Uhr»; Werd & Weber, 2015, 160 Seiten, CHF 31.90