Beobachter: Welche Fragen beschäftigen Eltern bei der Sexualerziehung am meisten?
Esther Elisabeth Schütz: Sie möchten wissen, was sie ihrem Kind vermitteln sollen und wie sie es fördern können, damit es auch in der Sexualität gut und gesund aufwachsen kann. Eltern wollen es gut machen, denn sie merken schnell, dass die Kinder sich für ihren Körper und die Unterschiede zwischen Mann und Frau interessieren. Zudem ist es so, dass die Sexualität der Antrieb ist, der Kinder vom Elternhaus entfernt. Ausserdem wollen Eltern ihr Kind schützen. Interessanterweise konzentrieren sich die meisten stark auf Gefahren von aussen. Dabei zeigen Studien, dass sexuelle Ausbeutung in über 90 Prozent der Fälle im engeren Umfeld der Familie passiert.

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Beobachter: Ist da der Rat, Kinder auf dem Wickeltisch auch im Genitalbereich zu berühren, nicht kontraproduktiv?
Schütz:
Körperkontakt ist etwas sehr Wichtiges für das Baby, doch natürlich gibt es Grenzen, die Eltern erkennen und einhalten müssen. Die kindliche Sexualität ist auf sich selber bezogen, nicht auf ein Gegenüber. Sie ist deshalb nicht mit der Sexualität Erwachsener zu vergleichen. Das Kind entdeckt sie so oder so, sie ist ein Lebensmotor, so elementar wie Essen und Trinken. Manche Eltern vermeiden es aber, die Geschlechtsteile des Kindes zu berühren und zu benennen, weil sie Hemmungen haben.

Beobachter: Warum eigentlich?
Schütz: Wenn Erwachsene als Kinder gelernt haben, dass sie auf ihre Fragen keine Antworten erhalten und somit keine Sprache zu Sexualität entwickeln konnten, wird es ihnen auch als Mutter oder Vater schwerer fallen, darüber zu reden. Es ist für Kinder eine gute Erfahrung, wenn sie von Eltern hören, dass es ihnen nicht leichtfällt, über solche Dinge zu reden. Das kann bereits ein Gespräch eröffnen.

Beobachter: Wie wirkt es sich auf die Sexualität im Erwachsenenleben aus, wenn sie in der Kindheit tabuisiert wird?
Schütz: Es ist wie bei allem: Manches lässt sich aufholen, anderes nicht. In der Sexualtherapie erzählen Männer und Frauen oft von Problemen, die zum Teil ihren Ursprung in der Kindheit hatten. Zum Beispiel eine Frau, die über Jahre Schmerzen hatte beim Geschlechtsverkehr und sich nicht traute, mit jemandem darüber zu reden. Oder ein Mann, der als Bub gelernt hat, sich auf eine Art sexuell zu stimulieren, bei der er derart viel Druck auf seinen Penis ausübt, dass es bereits früh zu Erektionsproblemen kam. In beiden Fällen fehlte Wissen, nämlich, dass es gut ist, sich rasch Hilfe zu holen, und wie man sich bei der Selbstbefriedigung so berührt, dass die Sinnesempfindungen lustvoll wahrgenommen werden.

Beobachter: Viele fürchten, dass Kinder Schaden nehmen, wenn man sie zu früh mit solchen Themen belastet. Auch die Verfechter der jüngst eingereichten Anti-Sexualisierungs-Initiative, die sich gegen Sexualkunde in Kindergarten und Primarschule richtet.
Schütz:
Kinder kommen täglich mit dem Thema in Berührung. Sei es, dass sie auf ein herumliegendes Präservativ stossen, Sendungen im TV oder Bilder im Netz sehen und inspiriert werden von den vielen Plakatwänden mit sexuellen Inhalten. Nur wenn sie altersgerechte Erklärungen erhalten, können sie in diese Welt hineinwachsen und damit umgehen.

Beobachter: Ist das denn eine Aufgabe der Schule?
Schütz: Kinder, die zu Hause keine Informationen erhalten, fallen zwischen Stuhl und Bank. Aber auch wenn Eltern ein Kind gut aufklären, fehlt ihm der geleitete und respektvolle Austausch zwischen Gleichaltrigen. Diese Lernschritte kann die Schule bieten, und sie kann zudem Wissen zu Sexualität vermitteln. Wenn Kinder und Jugendliche lernen, ausserhalb des Familiensystems über Sexualität zu reden, trauen sie sich im Notfall, anderen davon zu erzählen – etwa bei sexuellem Missbrauch in der Familie. So können sie sich Hilfe holen, um sich aus ihrer Not zu befreien. Wer sich nicht für die Sexualpädagogik an der Schule einsetzt, nimmt Kindern die Chance, das zu lernen.

Esther Elisabeth Schütz, 64, leitet das Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapie in Uster. Sie ist klinische Sexologin und Sexualtherapeutin.