Trennung ohne Tränen
Der Abschied vom Nachwuchs vor der Kindertagesstätte ist eine Herausforderung für Eltern und Kind. Ein Augenschein in der Zürcher Kita Riedtli.
Morgens um acht: Draussen ist es noch dunkel. Überall in der Stadt werden per Fahrrad, Tram, Bus oder Auto verschlafene Kinder von müden Eltern in die Kindertagesstätten, die Kitas, gebracht. Ein kurzer Abschied - da und dort Winken, ein Kuss auf die Wange und das Abschieds-Mantra: «Spiel schön... Mama holt dich dann wieder ab.» Jetzt kann der Arbeitstag seinen gewohnten Lauf nehmen.
Bestenfalls. Manchmal läuft es auch ganz anders. Dann nämlich, wenn das Kind beschlossen hat, dass die Mutter oder der Vater nicht weggehen soll. Das Kind klammert sich an den jeweiligen Elternteil und verleiht seinem Begehren mit Weinen und Flehen lautstark Ausdruck. Nein, so hat man sich den Abschied nicht vorgestellt. Vor allem nicht, wenn die Zeit bis zum Arbeitsbeginn sowieso knapp bemessen ist. Was nun? Soll man in der Kindertagesstätte so lange ausharren, bis das Kind durch intensives Zureden eingesehen hat, dass Mama unbedingt weggehen muss, weil sie just an diesem Morgen eine wichtige Besprechung hat? Oder soll man gleich alle Termine absagen, das Kind wieder mitnehmen und den Rest des Tages zu Hause bleiben?
Der vehemente Protest der Tochter oder des Sohnes kann Eltern ganz schön verunsichern. Vor allem Frauen, deren Platz manche noch immer sehr gerne am Herd sähen. Hatte Tante Else nicht doch recht, als sie beim letzten Familienessen mit strengem Blick erklärte, Mütter müssten unbedingt, und zwar von früh bis spät, am Windelzipfel ihrer Kinder hängen? Im Kopf hallt die tadelnde Stimme des Kollegen: «Das arme Kind, erst zwei, und schon in der Krippe!» Vielleicht - so versucht man sich gut zuzureden - handelt es sich beim Trennungsschmerz des Kindes, wie so oft im Kinderalltag, nur um eine Phase, und morgen ist alles wieder gut.
Ein kurzes Abschiedsritual hilft
«Der Abschied», bestätigt Markus Marti, Leiter der Kita Riedtli in Zürich, «soll sich nicht in die Länge ziehen. Am besten verläuft er nach einem Ritual. Die Eltern kommen an, helfen den Kindern in der Garderobe die Jacke aus- und die Hausschuhe anzuziehen. Danach sagen sie tschüss, und am Fenster winkt man einander nochmals zu.» Krisensituationen beruhigten sich nicht, wenn die Eltern noch lange blieben. Im Gegenteil: Kaum seien die Eltern weg, passiere bei den meisten Kindern genau das, was man zwar vermutet, aber sich doch nicht so recht vorstellen kann: Das ganze Leid ist vergessen. Das Kind dreht sich um, läuft ins Spielzimmer und tobt quietschvergnügt mit seinen Kameraden herum. Während Mama womöglich den ganzen Tag unter schlechtem Gewissen leidet und mit hängendem Kopf durch die Gänge schleicht. «Hin und wieder legen es Kinder auch auf Machtkämpfe an», sagt Marti. «Doch wenn die Eltern erst weg sind, haben sie keinen Grund mehr zu rebellieren.» Fühlen sich die Eltern allzu verunsichert, sollten sie später anrufen und sich nach dem Befinden des Kindes erkundigen. «Dann hören sie sehr schnell, ob sich das Kind wieder beruhigt hat», so Marti.
Oft fällt der Abschied den Eltern schwerer
«Lässt sich ein Kind aber gar nicht beruhigen, kann das unterschiedliche Gründe haben», erklärt Marti weiter. «Vielleicht ein Streit zu Hause oder die Geburt eines Geschwisters, die auslöst, dass das ältere Kind eifersüchtig mehr Aufmerksamkeit möchte.»
Marti rät, in jedem Fall die sogenannte Eingewöhnungsphase sorgfältig durchzuführen, also das Kind langsam an die Krippe zu gewöhnen. «Wird die Eingewöhnungsphase forciert, muss man mit einer Retourkutsche rechnen», erklärt Marti. Was eben bedeuten kann, dass das Kind stark unter Trennungsschmerzen leidet.
In der Kita Riedtli setzt man auf Mitarbeit der Eltern. Einmal im Monat kocht ein Vater oder eine Mutter für alle. Das Kind erlebt so die Eltern in seiner Tagesstättenwelt, und die Eltern bekommen etwas vom Tagesablauf ihrer Kinder mit. Denn dass es Eltern Mühe bereitet, sich vom Nachwuchs zu trennen, komme fast häufiger vor als umgekehrt, schmunzelt Marti.
Für Mütter und Väter ist es nicht immer ganz einfach, das Loslassen zu üben. Dem Abschied folgt noch ein Kuss und noch ein Tschüss, auch wenn das Kind längst am Spielen ist.
Nicht selten geschieht es auch, dass die Kinder, die morgens ein Drama veranstalten, abends kaum mehr nach Hause möchten, sich weinend an die Betreuerinnen krallen und der ganze Abschiedszyklus in umgekehrter Reihenfolge abläuft. Was einerseits die Eltern beruhigen mag: Zum Glück, dem Kind gefällt es ja doch. Aber natürlich noch lange keine Gewähr dafür ist, dass in der kommenden Woche nicht wieder alles ganz anders sein wird.
Nicole Santer mit Magdalena, 2,5 Jahre
«Mit dem Abschied haben Magdalena und ich keine Probleme. Ich überlasse es ihr, ob sie ausführlich tschüss sagen möchte oder ob sie gleich spielen gehen will. Bei meinem ersten Kind hatte ich am Anfang jeweils ein wenig Mühe. Aber das mit dem Loslassen ist wohl immer wieder ein Thema. Jedenfalls finde ich es toll, dass es Magdalena in der Krippe gefällt. Für mich ist es das Wichtigste zu wissen, dass es den Kindern gutgeht.»
Daniel Mewes mit Jil, 3 Jahre
«In der Kita fällt mir der Abschied von Jil nicht schwer. Ich weiss, dass sie in einer geschützten Umgebung ist und mit anderen Kindern spielt. Viel schwieriger ist es, aus dem Alltag mit ihr gerissen zu werden, mich dann zu verabschieden. Da ich nicht mit Jil zusammenwohne, lebe ich eine ‹On/Off-Vater›-Beziehung. Der Abschied in der Krippe ist einfacher, weil es für uns beide eine normale Alltagssituation ist.»
Yves Bollag mit Ella, 2,5 Jahre
«Ella ist ein sehr soziales Kind. Ich bin mir sicher: Wenn sie den ganzen Tag nur mit uns zusammen wäre, würde sie sich langweilen. Sie liebt es, in die Krippe zu gehen. Das war vom ersten Tag an so. Insofern gibt es keine grossen Abschiedsszenen. Ella sagt uns eher, dass wir jetzt endlich gehen sollen. Nein, einen dramatischen Trennungsvorfall
hat es wirklich noch nie gegeben.»
Elena Mpintsis mit Ioannis, 3 Jahre
«Mittlerweile habe ich mich an den Abschied gewöhnt. Am Anfang fühlte ich mich schon ein bisschen als Rabenmutter, wenn Ioannis weinte und jammerte. Doch nachdem mir die Betreuer jedes Mal versicherten, dass er bald mit dem Jammern aufhört, ging es besser. Und wenn er jetzt an einem ganz normalen Tag beschliesst, ein Drama zu veranstalten, hängt mir das nicht mehr ganz so arg nach.»
Anleitung für einen Abschied ohne Drama
- Die Vorbereitung des Abschieds beginnt zu Hause. Eigentlich bereits am Vorabend. Legen Sie Ihre Kleider und die Kleider des Kindes parat, so dass Sie am Morgen nicht noch lange nach sauberen Hosen und passenden Pullovern forschen müssen. Damit verhindern Sie, dass Ihr Nervenkostüm unnötig ausgedünnt wird, bevor der Tag überhaupt richtig begonnen hat.
- Zeigen Sie sich flexibel. Beharren Sie nicht auf der geblümten Hose, die so hübsch zum rosa Pullover passen würde, wenn sich das Kind für die Hose mit Karomuster entschieden hat. Unerbittlichkeit ist nur dann gefragt, wenn das Kind beschliesst, an einem kalten Wintermorgen in leichter Sommerkleidung in der Krippe Einzug zu halten.
- Versuchen Sie beim Anziehen des Kindes Ruhe zu bewahren. Ja, auch dann, wenn Sie spät dran sind und in zehn Minuten am anderen Ende der Stadt zu einem wichtigen Termin erwartet werden. Leider ist es eine Gesetzmässigkeit, dass sich die meisten Kinder als besonders widerspenstig erweisen, wenn sie merken, dass ihre Eltern in Eile sind.
- Bewahren Sie auch im Strassenverkehr Ruhe. Falls Sie mit Auto oder Fahrrad unterwegs sind, sollten Sie sich in jedem Fall auf den Verkehr konzentrieren.
- Veranstalten Sie keine Oper. Verabschieden Sie sich herzlich, aber kurz von Ihrem Kind. Sätze wie: «Mama muss jetzt leider gehen, und du bleibst ganz allein, ohne Mama hier» sind zu vermeiden.
- Seien Sie nicht beleidigt, wenn Ihrem Kind der Abschied leichtfällt.