Beobachter: Sie sind seit 45 Jahren verheiratet, müssen es also wissen: Ist die Ehe ein Liebeskiller?
Jürg Willi: Für mich nicht. Aber ich kenne das Argument. In den siebziger Jahren kam die Idee auf, dass die Liebe in einer freien Beziehung lebendiger ist, weil man sich nicht fallenlassen darf. Es gibt tatsächlich Menschen, die nach der Heirat denken: «Jetzt bin ich unter der Haube, mir kann nichts mehr passieren.» Die hören auf, sich umeinander zu bemühen.
Beobachter: Warum gibt es eigentlich Menschen, die partout nicht heiraten wollen?
Willi: Die meisten haben eine panische Angst vor dem Jawort. Sie scheuen vor einem offiziellen Entscheid und einer Verpflichtung zur «Treue, bis dass der Tod uns scheidet» zurück. Heute leben Menschen häufiger in einem Dauerprovisorium. Alles muss schnell gehen, sowohl das Zusammenziehen wie auch das Auseinandergehen. Manche steigen bereits mit einer Resignation in die Beziehung ein. Für manche ist das Konkubinat ein Dauerprovisorium, andere wollen mit einer Ehe eine unbefriedigende Beziehung kitten. Beim Aufbau einer Beziehung fehlt es oft an Geduld und Sorgfalt. Im Grunde aber sehnen sich immer mehr Menschen nach einer festen und sicheren Ehe. Es wird aber zunehmend schwieriger, eine solche zu schaffen.
Beobachter: Eine Heirat ist demnach also der Versuch, aus dem Provisorium auszusteigen.
Willi: Für manche schon. Verheiratete versuchen eher als Konkubinatspaare, gemeinsam ein eigenes Nest zu bauen, miteinander eine neue Wohnung zu suchen und gemeinsam die Wohnung einzurichten. Bei Konkubinatspaaren ist es häufig so, dass der eine der beiden zum anderen zieht. Die Wohnung ist vom «Platzhirsch» bereits eingerichtet, der Zuzüger fühlt sich oftmals nur als Gast oder Eindringling geduldet. Er fühlt sich in der Wohnung nicht wirklich zu Hause.
Beobachter: Spielt es für die gemeinsame Entwicklung als Paar eine Rolle, ob man verheiratet ist oder nicht?
Willi: Ich halte es für falsch, allgemein zu sagen, was besser ist, Konkubinat oder Ehe. Die Menschen sind verschieden. Nicht alle eignen sich für eine Ehe. Es ist ein Gewinn, dass man heute die Lebensform frei wählen kann, die einem passt.
Beobachter: Trotzdem: Gibt es einen Unterschied?
Willi: Ja. Vor zehn Jahren haben wir eine Studie mit mehr als 600 Probanden gemacht. Verheiratete und Unverheiratete mit fester Partnerbeziehung wurden gefragt, was aus der grossen Liebe ihres Lebens geworden ist. Das Resultat: 60 Prozent der Verheirateten gaben an, mit der grossen Liebe ihres Lebens zusammen zu sein, bei den Konkubinatspaaren waren es nur 25 Prozent. Aber gleichzeitig bezeichneten sich die Konkubinatspaare als glücklicher in ihrer Beziehung als die Verheirateten. Wir interpretierten das so, dass Konkubinatspaare vielleicht häufiger von ihrer Beziehung nicht voll überzeugt sind und deshalb die Heirat scheuen. Zugleich scheinen sie eine Beziehung schneller zu beenden, wenn sie damit nicht zufrieden sind, so dass die noch Zusammenlebenden eine Auswahl der Glücklichen sind.
Beobachter: Konkubinatspaare betonen, dass sie weniger Besitzansprüche an den Partner haben als Verheiratete.
Willi: Klar schwingt in der Ehe etwas mit, was gern als Besitzdenken kritisiert wird. Man kann darin aber auch einen Grundzug der Liebe sehen: Man möchte den Partner ohne zeitliche Begrenzung lieben, nicht bloss als Lebensabschnittspartner. Diese Exklusivität der Liebe ist eine Eigenheit der Liebe bei allen Völkern zu allen Zeiten.