«Mir war klar, dass es enden muss»
Ein Mann schlägt seine Frau regelmässig brutal. Es dauert Jahre, bis sie realisiert, dass es nicht ihre Schuld ist.
Veröffentlicht am 10. Oktober 2017 - 10:02 Uhr,
aktualisiert am 10. Oktober 2017 - 09:05 Uhr
Sie hat sie kommen sehen, die Schläge. Damals in den Ferien in Österreich. Schon am Morgen war ihr Mann gereizt. Den Grund hat Bea Seiler* vergessen. Vielleicht hat sie einem falschen Mann einen falschen Blick geschenkt. Vielleicht hat sie ihrem Mann das falsche Joghurt mitgebracht.
Eine Wutwolke hatte sich aufgetürmt. Sie konnte sie fühlen, wie jedes Mal. Konnte sie fast auf der Zunge schmecken. Sie hätte die Rückkehr in die Ferienwohnung noch länger hinauszögern können. Aber es war heiss, und sie war ohne Wasser und ohne Geld unterwegs. Und nach fünf Jahren Ehe mit René* wusste sie: Die Wutwolke ist unausweichlich.
Kaum hatte sie die Schwelle übertreten, trafen seine Fäuste ihr Gesicht, seine Knie ihren Bauch, seine Worte ihre Seele.
«Das war das letzte Mal, dass mein Mann die Hand gegen mich erhoben hat.» Bea Seiler sitzt mit angezogenen Knien am Küchentisch, die dunkelbraunen Haare zusammengebunden. Die Haarbüschel, die die wütenden Hände ihres Ehemanns ausgerissen haben, sind nachgewachsen.
17'685 Straftaten wegen häuslicher Gewalt verzeichnete das Bundesamt für Statistik 2016. Das sind zwei Fälle pro Stunde, 20 verletzte Frauen pro Tag. Aber es gibt viel mehr Opfer als Anzeigen.
Von Bea Seiler zum Beispiel, Juristin und zweifache Mutter, weiss die Statistik nichts. Sie gehört zur Dunkelziffer. Nur 22 Prozent der Fälle häuslicher Gewalt landen bei der Polizei. Das zeigt eine Studie der Schweizerischen Opferbefragung. Bea Seiler hat ihren Mann nie angezeigt, nie die Polizei zu Hilfe geholt. Deshalb ist ihre persönliche Ehehölle auch heute, sieben Jahre später, unregistriert.
In der Küche tickt die Wanduhr. Bea Seiler ringt nach den richtigen Worten. «Es war, als hätte sich ein Schalter umgelegt. Riesige Wut brach in mir los, als er wieder auf mich losstürmte. Ich wehrte mich.» Damals lebte sie von ihrem Mann getrennt. Für die Kinder und die gemeinsame Zukunft gaben sie sich mit den Ferien eine zweite Chance – sie endete mit dem Schlussstrich.
«Ich habe um mich geschlagen und alles vergessen.» Sie weiss noch, wie seine Tante plötzlich da war und sie festhielt. «Sie hat gedacht, ich greife ihn an. Die Kinder weinten. Und mir war klar, dass es enden muss.» Die Ferienwohnung gehörte Bea Seilers Eltern. Sie gab ihrem Mann und seiner Tante zehn Minuten, um zu packen und aus der Wohnung zu verschwinden. Und aus ihrem Leben.
Angefangen hat ihre Beziehung genauso impulsiv, wie sie geendet hat. Gleich beim ersten Date verlobten sich René und Bea. Davor hatten sie in ihrer Lesegruppe monatelang heimlich füreinander geschwärmt. Bea Seiler war Anfang 20, Jus-Studentin und alleinerziehende Mutter. René war ihre erste grosse Liebe.
Dass er diese Liebe schon nach einem falschen Joghurtkauf in Frage stellen konnte, wollte sie lange nicht wahrhaben. «Wenn ich Apfel kaufte statt Nuss, unterstellte er mir, dass ich es nicht ernst meine mit ihm. Diese Absurdität überstieg meinen Verstand. Ich war machtlos.» Mit der Zeit glaubte sie, sie müsse sich für ihre Liebe mehr bemühen. Einmal überkamen sie Zweifel. Doch da waren die Hochzeitseinladungen schon bereit für den Druck. Bea und René legten ihr Fest auf Eis und überliessen die Zukunftsfrage dem Schicksal: Falls sie, unabhängig voneinander, auf dasselbe neue Hochzeitsdatum kommen sollten, würden sie der Ehe eine Chance geben. Zwei Nächte später träumte Bea Seiler vom Datum. Es stimmte mit seinem Wunschtermin überein. Ein halbes Jahr später heirateten sie.
Experten unterteilen häusliche Gewalt in drei Phasen. Am Anfang ist der Spannungsaufbau. Der Partner ist eifersüchtig, besitzergreifend und kontrollierend. Dann wird er zum ersten Mal gewalttätig.
Bei Bea Seiler war das wenige Wochen nach der Hochzeit. Wieder einmal lagen sie sich wegen Kleinigkeiten in den Haaren. «Er hat ausgeholt und mir eine Ohrfeige verpasst. Da ist ein Stück meiner Würde gestorben. Es war der Anfang vom Ende. Für eine Sekunde hat meine Welt angehalten und ist dann untergegangen.» René war geschockt. Weinte. Versprach, dass es nie mehr vorkommen werde. Er liebe sie.
«Was mich langsam, aber sicher zerstört hat: dass ich dieser permanenten Willkür ausgesetzt war.»
Bea Seiler*
Sie liebte ihn und blieb. In der kleinen Familie zog Harmonie ein. Monatelang überschüttete René Bea mit Geschenken und Aufmerksamkeiten. Er brachte ihr Blumen und schrieb Liebeskärtchen. Er putzte die Wohnung und kochte exotische Menüs. Dabei hasst er Kochen. «Ich war seine Königin. Das habe ich genossen.» Experten nennen das die Honeymoon-Phase.
Dann schlug er zum zweiten Mal zu. Wann, weiss Bea Seiler nicht mehr. Ihre Erinnerung an diese Zeit ist verschwommen. Ihr gemeinsamer Sohn kam zur Welt. René war ein guter Vater, über die Kinder stritten sie nie.
Und doch lebten sie eine klassische Gewaltbeziehung. Die guten Phasen zwischen den Schlägen waren am Anfang mehrere Monate lang. Dann wurden sie immer kürzer. Diese Phase nennen Experten Eskalation.
Die meisten Frauen werden vom Partner gestossen, gepackt, geschüttelt oder geschlagen. Dazu kommt verbale Gewalt. Für Bea Seiler haben die Beleidigungen «faule Schlampe», «Drecksau» oder «linke Fotze» fast mehr zerbrochen als die Schläge. Bei jedem Streit ging es um ihre Qualitäten als Frau und Partnerin. «Es war wie eine Gehirnwäsche. Etwas in meinem Inneren hat sich verschoben. Ich fing an, an mir selbst zu zweifeln.»
Die Streitereien nahmen zu. Sie besuchten einen Ehetherapeuten. Der sagte, sie solle ihm nach der Arbeit etwas Raum lassen. Von der Gewalt hatte sie nichts erzählt. Ihr Gesicht liess René bei seinen Schlägen damals noch aus. Auch Familien und Freunde ahnten nichts. Es eskalierte im Geheimen.
Die Schläge wurden härter, die Geschenke teurer. Schmuck und Dessous sollten seine Liebe beweisen. Doch wie eine Königin fühlte sich Bea Seiler längst nicht mehr. «Was mich langsam, aber sicher zerstört hat: dass ich dieser permanenten Willkür ausgesetzt war. Dass ich nie wusste, ob auch dieser Tag wieder im Streit endet.» Irgendwann habe sie nur noch auf den nächsten Schlag gewartet.
Warum ist sie bei ihm geblieben? Bea Seiler versucht zu erklären. Sie ist Juristin, aufgeklärt und emanzipiert. Aber lange habe sie schlicht und einfach nicht realisiert, dass es häusliche Gewalt ist, was sich jeden Abend in ihren vier Wänden abspielte.
Dabei wusste Bea Seiler schon lange, zu welcher Gewalt ein Mann fähig sein kann: Als sie 17 war, wurde sie von einer Zufallsbekanntschaft vergewaltigt. Sie kam gerade von einem Hilfseinsatz in Polen zurück. Im Regionalzug lernte sie einen Polen kennen, stieg mit ihm aus. Sie dachte, er wolle mehr über ihre Zeit in Polen erfahren. Er dachte, er könne ihre naive Jugendlichkeit ausnutzen. In einem verlassenen Velohäuschen nötigte er sie.
«Ein Lebensabschnitt ist da brutal zu Ende gegangen. Auch damals war es, als hätte man bei mir einen Schalter umgelegt.» Mit den humanitären Werten ihrer Eltern wollte sie nichts mehr zu tun haben. Sie experimentierte mit Drogen und Liebhabern, feierte Partys. Daneben machte sie die Matur.
Nach einem Jahr erlitt sie einen Nervenzusammenbruch, hatte Panikattacken. Unterstützt von den Eltern, machte sie eine Therapie. Sie begann zu studieren, wurde schwanger, bekam ihr Kind. Dann lernte sie René kennen.
Als sie wieder an Panikattacken zu leiden begann, googelte Bea Seiler die Symptome und stiess auf eine Infoseite über häusliche Gewalt. «Da begriff ich, dass die Schläge meines Mannes die neuen Panikattacken ausgelöst haben. Ich erkannte mich zum ersten Mal als Opfer häuslicher Gewalt. Alles, was sich in meinem Innern über die Jahre der Gewalt verschoben hatte, begann sich ab diesem Zeitpunkt wieder zurückzuschieben.»
Sie bestellte Bücher zum Thema, las Broschüren und Internetseiten. Lernte, dass ihre Ehe ein Bilderbuchbeispiel ist. Und sie lernte, das System zu durchschauen, sich zu wehren. Ein Tagebucheintrag zeugt von einem ersten Erfolg. «Er hat wieder einmal gesagt, dass ich ihm nur schaden will. Und ich habe es ihm nicht geglaubt.»
Heute, am Küchentisch, sagt Bea Seiler, sie sei auch geblieben, weil sie ihn immer noch geliebt habe. Weil sie lange versucht habe, das sinkende Schiff mit Klebeband zu flicken. Nach ihrer Google-Erkenntnis verstrichen eineinhalb Jahre. «Eine Trennung ist keine Entscheidung, sondern ein Prozess», sagt Bea Seiler.
Aber irgendwann war genug. Sie blätterte durch alte Tagebucheinträge und stiess auf einen Absatz, wo sie mit dem Gedanken spielte, sich das Leben zu nehmen. «Da ist meine Wahrnehmung wohl endlich wieder an die richtige Stelle gerückt. Ich wusste, das kann ich meinen Kindern keinen Tag mehr länger antun.» Sie schlug ihrem Mann eine vorübergehende Trennung vor. Er willigte ein. Und dann kamen die Ferien in Österreich.
Nach diesem letzten Knall war die Trennung definitiv. Das war Bea Seiler klar. Das machte sie ihrem Ehemann klar. Sie drohte ihm mit der Polizei, sollte es je wieder zu einem Zwischenfall kommen. Und sie werde seinem Umfeld jedes schmutzige Detail erzählen, wenn er sie von nun an nicht in Ruhe lasse. Dann outete sie sich vor Familie und Freunden und vertraute sich dem Chef an. Mit ihrer Arbeit war sie für den neuen Lebensabschnitt finanziell abgesichert.
All das hat ihr geholfen, sich aus der Gewaltspirale zu befreien. «Ich habe mir immer versprochen, dass ich gehe, wenn die Kinder die Gewalt mitbekommen. Als Mutter ist man automatisch Mittäter. Diese Verantwortung nimmt dir niemand ab.»
Bea Seiler liess sich nach gut fünf Jahren Ehe scheiden. Sie und ihr Exmann einigten sich aussergerichtlich. Er hat inzwischen eine Therapie gemacht. Das Sorgerecht für die zwei Kinder teilen sie sich. Bea Seiler lebt heute in einer neuen Beziehung und erwartet ihr drittes Kind.
*Name geändert