«Gehen, wenn es zu viel wird»
Getrennte Paare, die sich nicht zusammenraufen können, sollen im Zweifelsfall lieber separat feiern – auch den Kindern zuliebe. Heiligabend ist mit Sicherheit der falsche Zeitpunkt, um schmutzige Wäsche zu waschen, sagt Jugend- und Familienberaterin Ursula Enderli.
Veröffentlicht am 21. Dezember 2009 - 13:37 Uhr
Beobachter: Weihnachten ist doch das Fest der Liebe, oder?
Ursula Enderli: So sollte es sein, ja.
Beobachter: In vielen Familien sieht die Realität anders aus.
Enderli: Und das hat sehr oft genau mit dieser Erwartungshaltung an Weihnachten zu tun. Warum sollen es Mami und Papi an Heiligabend nett miteinander haben, wenn sie das Jahr über nur gestritten haben?
Beobachter: Die Weihnachtstage könnten doch der ideale Zeitpunkt sein, um das Kriegsbeil zu begraben?
Enderli: Natürlich. Doch die Gefahr ist gross, dass der Schuss nach hinten losgeht. Denn wer glaubt, ein Seelenstriptease an Weihnachten wirke reinigend, irrt sich. Es ist der falsche Zeitpunkt, um schmutzige Wäsche zu waschen oder irgendwelche Geldthemen anzusprechen. Da soll man insbesondere auch Kinder davor schützen.
Beobachter: Könnte man Heiligabend nicht im Voraus simulieren, zum Beispiel bei einem Abendessen, und dann schauen, ob es geigt?
Enderli: Ja. Ich würde aber nicht gleich mit einem Abendessen mit Kerzenlicht starten, sondern mich in einer ungezwungeneren Atmosphäre an den Expartner annähern. Ihn mal zum Kaffee einladen oder mit ihm auf den Spielplatz gehen. Ist man draussen und unter anderen Leuten, fällt man nicht so leicht in alte Verhaltensmuster zurück.
Beobachter: Warum brechen denn ausgerechnet an Weihnachten alte Wunden wieder auf?
Enderli: Wir wissen ja alle, wie schnell das geht an Weihnachten. Mutter, Vater, Schwester – alle haben wieder ihre alten, angestammten Rollen. Das passiert auch den zerstrittenen Paaren. Deshalb ist die Gefahr gross, dass just an Weihnachten Reizworte fallen und es zu Reizhandlungen kommt, die die Stimmung zum Kippen bringen können.
Beobachter: Auch darauf könnte man sich vorbereiten. Denn die Frage ist doch, wie reagiere ich dann?
Enderli: Ja, man kann zum Beispiel ein Codewort abmachen. Eines, das signalisiert: «Stopp, hier müssen wir uns jetzt entscheiden, ob wir wieder ins alte Fahrwasser geraten wollen oder nicht.» Man kann auch festlegen, dass man nach Hause gehen darf, wenn es einem zu viel wird. Man sollte sich dann aber anständig von den Kindern verabschieden und ihnen erklären: «Sorry, es ist im Moment schwierig. Wir wollen das aber nicht jetzt an Heiligabend austragen, deshalb gehe ich jetzt.»
Beobachter: Warum schaffen es so viele Paare nicht, ihren Rosenkrieg den Kindern zuliebe beizulegen?
Enderli: Sich zu sagen: «Du bist mein Expartner, ich hasse dich, aber mein Kind soll dich lieben dürfen», das ist ganz schwierig. Es heisst, dass man sich selber, mit all seinen Verletzungen, zurücknehmen muss. Zudem sind die Kinder im Konfliktfall ein guter Streit- und Machtfaktor, der auch gerne eingesetzt wird. Da steht dann nicht mehr das Kindswohl im Zentrum, sondern der Krieg. Und da ist das Kind die wichtigste Handelsware, um die gestritten wird.
Beobachter: Zeit heilt alle Wunden, sagt man.
Enderli: Das stimmt auch, aber nur, wenn nicht ständig in alten Wunden gestochert wird. Hat man aber mal den ersten Schritt aufeinander zu getan, fallen die nächsten leichter. Das sollten diese Paare wissen.
Beobachter: Inwiefern können da Drittpersonen helfen?
Enderli: Sagt ein Paar ja zu einer Therapie, einer Mediation oder Paarberatung, ist ein grosser Schritt bereits getan. Denn das zeigt, dass das Paar grundsätzlich bereit ist, sich zusammenzuraufen im Interesse der Kinder. Das ist die Basis. Auf dieser kann man dann aufbauen.
Beobachter: Finden Geschiedene, die die Kinderbetreuung von Anfang an gemeinsam bestreiten, schneller zu einem respektvollen Miteinander zurück?
Enderli: Ja, weil sie quasi gezwungen sind, sich abzusprechen und vernünftig zu kommunizieren. Zudem haben dann beide in etwa gleich lange Spiesse. Wenn hingegen ein Vater die Kinder nur alle zwei Wochen sieht, wird er in eine Eventvaterrolle gedrängt. Es ist ja verständlich, dass er in der kurzen Zeit mit seinen Kindern Konflikte scheut. Die Mutter muss den Alltag mit den Kindern bestreiten und kann nie nur die Supermami sein. Das führt oft dazu, dass der Vater idealisiert und die Mutter entwertet wird. Andererseits hat die Mutter automatisch die engere Bindung zu den Kindern, und der Vater trauert dem nach.
Beobachter: Stimmt es, dass Familienberatungsstellen zur Vorweihnachtszeit Hochkonjunktur haben?
Enderli: Im November und Dezember häufen sich Anmeldungen. Das hat zum Teil etwas mit Weihnachten direkt zu tun. Häufiger aber spielt das Wetter eine Rolle. Weil man einfach wieder mehr daheim ist, sich auf die Pelle rückt und somit stärker aneinander reibt. Und manchen Menschen schlagen auch die dunklen Tage aufs Gemüt.
Beobachter: Ist für Kinder Weihnachten noch wie früher?
Enderli: Natürlich. Der Baum, die Kerzen, die Geschenke – das alles macht Weihnachten zu einem grossen Tag. Heiligabend ist ein Ort, wo Kinder ihre Familie als Familie erleben können. Deshalb ist es gerade für sie so schmerzhaft, wenn dieses Fest wegfällt.
Beobachter: Dennoch kann es richtig sein, Weihnachten getrennt zu feiern – zum Wohl der Kinder?
Enderli: Natürlich. Und es ist wichtig, dass die Eltern ihren Entscheid begründen. Sie müssen dem Kind deutlich zu verstehen geben, dass sie als Erwachsene es nicht schaffen. Denn Kinder neigen dazu, die Schuld auf sich zu nehmen und die Fehler bei sich und ihrem Verhalten zu suchen.
Ursula Enderli, 46, ist Sozialpädagogin und Kinder- und Jugendpsychologin. Sie leitet die Jugendberatung «Blinker» im zürcherischen Limmattal.