Den medizinischen Gutachtern ausgeliefert
IV-Rente ja oder nein? Darüber entscheiden Gutachter. Sie sollen objektiv und integer sein. Viele Betroffene erleben sie anders.
Veröffentlicht am 23. Oktober 2012 - 09:20 Uhr
Endlich wissen, was Sache ist, das gäbe wieder Boden unter den Füssen. Aber nichts da. Hans Loos*, 47 Jahre alt, schwebt im Ungewissen, und nichts geht vorwärts. 2008 wurde bei ihm eine psychische Erkrankung diagnostiziert, und der frühere Treuhänder beantragte eine Rente der Invalidenversicherung. Ob er jemals eine erhalten wird, weiss er bis heute nicht. Was er inzwischen aber weiss: In seinem Verfahren mischte ein Arzt mit zweifelhafter Vergangenheit mit. «Je länger das alles dauert, desto mehr fühle ich mich gedemütigt und nicht mehr wahrgenommen als Mensch.»
Demütigung, dieses Gefühl kennt auch Ida Kopp* nur zu gut. Die 50-jährige frühere Krankenpflegerin erhält seit 1995 eine volle IV-Rente – ihre rechte Hand ist seit einer fehlerhaft ausgeführten Operation nur noch ein schlaffes, unbewegliches Anhängsel. Eine Umschulung brach die IV 1997 ab, 2005 bestätigte sie die Rente letztmals. Ende 2011 schickte die IV Kopp wieder zur Begutachtung in eine Medizinische Abklärungsstelle (Medas). An die Befragungen dort erinnert sie sich mit Schaudern: «Man behandelte mich von oben herab, befragte mich zu intimen Details, die mit meiner Rente nichts zu tun hatten. Ich war danach so verletzt, dass ich mich am liebsten vors nächste Tram geworfen hätte.»
Die Invalidenversicherung wolle dem «Anspruch gerecht werden, dass Versicherte zwar streng, aber auch fair beurteilt werden» – dies sagte Stefan Ritler, Vizedirektor des Bundesamts für Sozialversicherungen und Leiter der IV, im Sommer dieses Jahres in einem Interview mit dem Beobachter. Zahlreiche Leserreaktionen auf den Artikel zeigen aber: Von Fairness spüren viele Versicherte und ihre Ärzte kaum etwas. Sie fühlen sich vielmehr ohnmächtig. Verloren in einem Verfahren, das sich schier endlos hinschleppen kann. Häufig Gutachtern ausgeliefert, die unverhohlen durchblicken lassen, dass sie die Patienten für Simulanten halten.
Unter dem Druck des Bundesgerichts hat die IV diesen Frühling Reformen eingeleitet: Versicherte können bei der Wahl ihres Gutachters mitreden, die Gutachter müssen der IV ihre Berichte schneller liefern. Bald soll auch ein Qualitätsausschuss ihre Arbeit überprüfen. Ob diese Neuerungen tatsächlich greifen, lässt sich noch nicht sagen. Sicher ist aber, dass Reformen dringend nötig sind.
Das zeigt das Beispiel von Hans Loos, der lange funktionierte, ohne dass ihm jemand eine Erkrankung anmerkte. 1995 gründet er in Zug ein Treuhandbüro, beschäftigt zehn Leute. Er heiratet, wird Vater, alles läuft wie geschmiert, wenigstens gegen aussen. Seine depressiven Schübe versteckt er, die traumatischen Erinnerungen an die sexuellen Übergriffe, die er als Kind erlitt, behält er für sich.
2004 kracht Loos' Leben zusammen: Er muss Konkurs anmelden, die Ehe scheitert. Er erleidet einen Zusammenbruch, der Psychiater diagnostiziert eine «mittelgradige depressive Episode mit somatischem Syndrom». Die IV spricht ihm für 2005 eine Rente zu. Ab 2006, so glaubt man, ist Loos wieder voll arbeitsfähig. Loos glaubt das auch, stellt eine neue Firma auf die Beine. Doch es klappt nicht mehr. «Ich war zunehmend wie gelähmt», sagt er.
2007 folgt ein erneuter Zusammenbruch inklusive Klinikaufenthalt. Zwei Ärzte kommen zum Schluss: Loos leidet an einer psychischen Erkrankung, als Treuhänder wird er nie mehr arbeiten können. Die IV Zug aber zieht einen Arzt des Regionalärztlichen Dienstes Zentralschweiz (RAD) zu Rate. Und der kommt – ohne Loos jemals gesehen zu haben – zum Schluss, dass es keine «medizinisch begründbare Unfähigkeit» für die Ausübung seines Berufs gebe.
Im Sommer 2009 dann der Vorbescheid der IV: keine Rente. Hans Loos legt Beschwerde beim Verwaltungsgericht ein und erhält im Oktober 2010 recht: Das Gericht kritisiert explizit den RAD-Arzt und ordnet eine Begutachtung an. Doch dann passiert erst einmal gar nichts. Die erste der angeordneten Begutachtungen findet erst im Juni 2011 statt, die letzte im Dezember 2011 – über ein Jahr nach dem Urteil.
Da stösst Loos zufällig auf Informationen, die ihn erschüttern: Der RAD-Arzt war früher in einer psychiatrischen Klinik in der Westschweiz tätig und führte dort den Titel «Dr. med», ohne je eine Dissertation verfasst zu haben. Und: Er verlor seinen Job und kassierte acht Monate Gefängnis bedingt, weil er mit einer Patientin ein Verhältnis angefangen hatte – ein klares Tabu, da zwischen Arzt und Patient immer ein Abhängigkeitsverhältnis besteht. Bei Loos kommt da seine eigene Missbrauchsgeschichte hoch. «Was sind denn das für Zustände? Da schreibt einer, ich sei gesund, entscheidet damit über mein weiteres Leben, und gleichzeitig ist er moralisch nicht sauber.»
Vorgesetzter des RAD-Arztes ist Donald Locher, Direktor der IV Luzern. Er bestätigt dessen Vorgeschichte, sagt aber: «Sie hat keinen Einfluss auf seine fachliche Eignung. Er ist ein ausgewiesener Fachmann mit grosser Erfahrung.» Seine Verfehlungen seien der IV bekannt gewesen, als sie ihn angestellt habe; der Mann habe sie selber kommuniziert. «Er hat Fehler gemacht, aber er hat die Konsequenzen getragen, die sich daraus ergaben. Damit ist das für uns kein Thema mehr», sagt Locher. In seiner Funktion als RAD-Arzt habe er sich keine Unregelmässigkeiten zuschulden kommen lassen.
Ein schaler Nachgeschmack bleibt dennoch. Genau wie bei der Verfahrensdauer. Warum verstreichen fast zehn Monate zwischen einer gerichtlich angeordneten Begutachtung und dem ersten Begutachtungstermin? Heidi Schwander, stellvertretende Leiterin der IV Zug, weist den Vorwurf zurück, ihre Stelle verschleppe Rentengesuche. «Wenn die Gutachten einmal vergeben sind, liegt die zeitliche Hoheit nicht mehr bei der IV», sagt sie.
Doch ein Begutachtungsverfahren kann nicht nur langwierig sein, sondern auch krank machen. Zum Beispiel im Fall der bereits erwähnten Ida Kopp, die bei Psychotherapeut Werner Disler wegen einer depressiven Episode in Behandlung ist. Ihr Zustand bessert sich laufend – bis zur Begutachtung in einer Medas und den dort erlebten Demütigungen. Disler schreibt an den Aufsichtsrat der IV Zürich: «Nach der Begutachtung stehen wir an einem anderen Punkt: Der Gesundheitszustand der Patientin ist zurzeit wesentlich bedenklicher als bei Beginn der Therapie.»
Der administrative Leiter des Gutachterzentrums tut sich am Telefon schwer, Dislers Beschwerde zu kommentieren. Dem Beobachter liegt aber die Stellungnahme vor, die das Zentrum der IV zukommen liess. Die Verantwortlichen weisen darin sämtliche Vorwürfe zurück und beendet das Schreiben mit dem Satz: «Gerne haben wir Sie bei Ihren Bemühungen, der Beschwerde Ihrer Kundin abzuhelfen, unterstützt.» Eine Schlussfloskel, die etwas sehr willfährig klingt, findet Ida Kopps Anwältin. Sie schreibt denn auch der IV: «Diese Worte können nur so verstanden werden, dass es die Ärzte des Gutachterzentrums als ihre Aufgabe betrachten, der IV zu Diensten zu sein, was auch beinhaltet, allfällige Reklamationen vom Tisch zu wischen.» Die IV Zürich äussert sich aus Gründen des Datenschutzes nicht zum Fall.
Hans Loos und Ida Kopp, zwei Menschen, verloren im IV-Rentenverfahren. Wie es weitergeht, ist offen. Ida Kopp soll ihre Rente nach 17 Jahren verlieren, ihre Anwältin kämpft dagegen. Kämpfen muss auch Hans Loos: Nachdem das psychiatrische Gutachten endlich vorliegt und ihm eine Arbeitsfähigkeit von lediglich 50 Prozent attestiert, will die IV Zug es zurückweisen – sie hält den Gutachter für befangen, weil dieser in einem Satz schreibt, er habe «grossen Respekt» vor Loos’ Psychiaterin. Heidi Schwander von der IV-Stelle will den Entscheid nicht kommentieren, da Hans Loos dagegen noch Beschwerde erheben kann.
Es dauert noch, bis Loos endlich wieder Boden unter den Füssen hat. Seine Psychiaterin schreibt: «Ich wiederhole, dass Herr Loos unter rezidivierend auftretenden schwer depressiven Episoden leidet; immer wieder treten Suizidgedanken auf, deutlich vermehrt im Zusammenhang mit dem Verhalten der IV-Stelle.»
*Namen geändert