«Ich schäme mich nicht»
Wer aus psychischen Gründen arbeitsunfähig wird, stösst oft auf Unverständnis. Wie lebt es sich mit dem Bewusstsein, als Drückeberger zu gelten? Die Geschichte von Andreas Springer, der aus der Bahn geworfen wurde und nun den Weg zurück sucht.
Veröffentlicht am 26. März 2009 - 13:13 Uhr
Beobachter-Serie: Der Weg zurück, Folge 1
Menschen mit psychischen Störungen beruflich wiedereinzugliedern, bevor sie eine Invalidenrente beziehen, ist ein vordringliches Ziel der 5. IV-Revision, die seit Anfang 2008 in Kraft ist. Was schnell dahergesagt ist, erweist sich für die Betroffenen als ein beschwerlicher Kraftakt – geprägt von einem Auf und Ab aus Hoffnungen und Rückschlägen.
Der Beobachter begleitete den Winterthurer Andreas Springer auf dem langen Weg zurück. Der heute 39-jährige kaufmännische Angestellte wurde als Folge einer Angsterkrankung arbeitsunfähig und suchte in der Stiftung Espas wieder den Anschluss.
Andreas Springer kann gut von sich erzählen. Vom Traum des Bodensee-Buben etwa, Matrose zu werden, die Welt zu sehen. Der als junger Mann dann aber im erstbesten Hafen wieder ausstieg, erschrocken ob der rüden Zustände an Bord. «Später ist das Schiff abgesoffen», sagt er und lacht schallend. Springer lacht oft, wenn er aus seinem Leben berichtet. Das tut er unaufgeregt und so, dass man versteht, worum es ihm geht. Ab und zu untermalt er seine Schilderungen mit knappen Armbewegungen, um dann die Hände wieder vor sich zusammenzufalten. Es sind Hände, die zupacken können. Typ Kumpel, denkt man sich, einer, mit dem man es gut haben kann. Einer wie du und ich halt.
Doch Springer gehört zu einer Gruppe von Menschen, die von vielen nicht verstanden und deshalb gemieden werden. Schlimmer noch: die unter dem Generalverdacht stehen, sich vor der Arbeit zu drücken und das Sozialsystem auszunutzen. Andreas Springer ist psychisch krank und deshalb aus dem Erwerbsleben ausgeschieden – das ist ein Stigma in einer Gesellschaft, die sich stark über die Arbeit definiert und von Populisten mit Begriffen wie «Scheininvalide» gefüttert wird. «Pauschale Verunglimpfungen kränken, wenn man selber betroffen ist», sagt Springer. Aber wütend wird er nicht deswegen, das wäre nicht seine Art, eher fatalistisch. «Ich sage mir immer: Wer so denkt, hat einfach keine Ahnung von diesen Krankheiten.»
Deshalb, um Nichtwissen und Falschverstehen aufzuweichen, will Andreas Springer seine Geschichte erzählen: geboren 1970, aufgewachsen in Arbon, dort die Schulen und eine kaufmännische Lehre bei Saurer absolviert. Dann die RS und die erste Stelle in der Buchhaltung einer Baufirma in St. Gallen. Später der missglückte Abstecher zur See, gefolgt von einer Phase der Arbeitslosigkeit. 1993 der Eintritt bei einem Detailhandelsunternehmen, in die Administration eines Zentrallagers für Haushaltsartikel – Start zu neun zufriedenen Jahren eines jungen Berufslebens. «Mir ging es gut dort», erinnert er sich in einem Tonfall, der sagt: Ach, wäre es doch nur immer so geblieben.
Auf Springer ist Verlass im Job, deshalb beauftragt man ihn mit der Projektleitung für den Aufbau einer Kunden-Hotline. Mit der neuen Rolle schleicht sich die Krankheit in sein Leben, unerkannt, perfid. An Sitzungen vor dem Chef und den Kollegen aufzutreten ist ihm ein Gräuel. «Mir wurde jedes Mal schwindlig, ich zitterte. Doch ich dachte: Du bist nur nervös, das legt sich mit der Zeit.» Dass es ein Vorbote der Angsterkrankung Agoraphobie ist, ahnt er nicht. Als die Symptome nicht von allein verschwinden, konsultiert Springer den Hausarzt. Dieser macht es sich einfach und verschreibt ihm zur Beruhigung Medikamente. «Es hat funktioniert, ich bin total cool geworden», meint Springer ironisch. Diesmal klingt sein Lachen bitter.
Die Abwärtsspirale beginnt sich zu drehen. Keine Besprechung mehr, ohne zuvor eine Tablette eingeworfen zu haben. Und an der Hotline die Belastung, «den ganzen Tag angemotzt zu werden». So hilft auch am Abend immer öfter nur noch der chemische Tranquilizer, um zur Ruhe zu kommen. Ein elendes Gefühl des Gefangenseins ergreift Andreas Springer: «Ich wollte im Job stark sein, und gleichzeitig machte mich der Job kaputt.» Nach einem halben Jahr schluckt er täglich eine Ration Temesta, dessen Wirkstoffe bei regelmässiger Einnahme abhängig machen. Nachschub ist kein Problem – der Hausarzt händigt das Psychopharmakon bereitwillig aus, ohne nachzufragen.
Andreas Springers Leben teilt sich in zwei auseinanderdriftende Welten: tagsüber das Geschäft, wo er sich krampfhaft am Funktionieren hält, abends das Entkommen ins Schlupfloch der eigenen vier Wände. Springer zieht sich immer mehr zurück, geht kaum mehr aus dem Haus; nur die geliebten Fussballspiele mit einer Multikulti-Equipe erhält er sich noch eine Zeitlang als Abwechslung.
Eine neue Stelle in der gleichen Organisation bringt nicht den erhofften Ausweg. Springer ist nun mitverantwortlich für die Einführung eines Computerprogramms im Bestellwesen, doch das Team ist überdotiert – er, der gern arbeitet, hat schlicht zu wenig zu tun. Den halben Tag sitzt er bloss grübelnd herum, «und das hat mich runtergezogen».
Vielleicht, sinniert Andreas Springer im Rückblick, habe er erst in dieser Zeit wirklich realisiert, dass mit ihm ernsthaft etwas nicht stimmt. Wenn ihn die Arbeitskollegen dabei ertappen, wie er Tabletten schluckt, spielt er das Problem jeweils herunter, verschweigt, dass er von den Medikamenten schon längst abhängig ist. Heute weiss Springer: «Ich habe zu lange versucht, den Schein zu wahren. Mir einzugestehen, dass ich es allein nicht mehr schaffe, war ein riesiger Schritt.»
Anfang 2005 gibt es kein Verstecken mehr. Andreas Springer, mittlerweile zu seiner Freundin nach Winterthur gezogen, erleidet auf der Fahrt zur Arbeit in St. Gallen aus heiterem Himmel eine heftige Panikattacke. Zwei Stunden lang steht er auf einem Autobahnrastplatz, unfähig, sein Handeln zu bestimmen – er hyperventiliert, der Körper bebt, das Herz rast. Um zu beschreiben, wie es ist, wenn die Angst ihn überfällt, benutzt er ein Bild: «Es ist, als wenn du um die Ecke biegst – und dort lauert ein Löwe, der jederzeit auf dich losgehen kann.» Andreas Springers «Löwe» kehrt immer wieder zurück, jede Fahrt zwischen Daheim und Geschäft wird zur Tortur. Natürlich, rein rational wisse er, dass da nichts sei – doch das Bedrohliche lässt sich nicht verscheuchen. Zu Springers Krankheitsbild gehört, dass die Angst umso grösser wird, je weiter weg er von zu Hause ist. So wird die Hochhauswohnung in Winterthur-Wülflingen letztlich zum einzigen sicheren Refugium.
Welche Ironie: Ausgerechnet der Mann, der einst als Matrose die Weite der Meere suchte, kann den Heimathafen nicht mehr verlassen.
Als die täglichen Panikattacken zu viel werden, kommt es zum Zusammenbruch – es geht nicht mehr mit Arbeiten. Auf Drängen seiner Lebenspartnerin sucht Springer die Hilfe eines Psychiaters, begibt sich später für drei Monate in eine psychiatrische Klinik. Dort stabilisiert sich sein Zustand, doch geheilt ist er nicht. Am Arbeitsplatz wieder Fuss zu fassen erweist sich als schwierig. Obwohl er sich nur Teilzeitpensen zumutet, lässt sich die Krankheit nicht abschütteln. Mehrfach wird er versetzt: ins Lager, an die Kasse, in die Spedition – irgendwie gehört er nicht mehr dazu. Im Sommer 2006 dann der Hammer: Ihm wird gekündigt. «Jahrelang habe ich meine Leistung gebracht, und dann haben sie mich einfach abgeschossen.» Es ist das einzige Mal im Gespräch, dass Andreas Springer Zorn und Anklage spüren lässt.
Nun verzieht er sich erst recht in die Isolation der eigenen vier Wände. Stufenweise reduziert er die Dosen des Medikaments, dann beginnt er mit den «Trainings», wie er es nennt: an einem Tag 50 Meter aus dem Haus, am nächsten vielleicht 100 – kleine Schritte gegen die Angst, zur Rückeroberung des sozialen Lebens. Zwei, drei Monate hält er die Parforceleistung durch, dann die bittere Erkenntnis, «dass es mir nicht gelingt, ohne die Tabletten normal zu leben». Und schon gar nicht ohne fremde Hilfe: Als Ausweg bleibt wieder ein Klinikaufenthalt, wieder «Trainings», diesmal unter Anleitung von Fachleuten. Mit der Zeit geht es aufwärts.
Dafür gibt es andere Stressfaktoren – die Institutionen melden sich: Die Taggeldversicherung stellt ein Jahr nach der Kündigung ihre Zahlungen ein. Stempeln beim Arbeitsamt kommt nicht in Frage; in seinem Zustand ist der psychisch Kranke nicht vermittelbar. So drohen IV-Rente und Sozialhilfe - keine Optionen, mit denen sich Springer anfreunden will. Ihm stellen sich bange existentielle Fragen. «Dann habe ich endlich einmal Schwein gehabt!» – sagts und lacht wieder auf. Die IV-Stelle, die seine Unterlagen prüft, empfiehlt ein Berufsintegrationsprogramm bei der Stiftung Espas. Die Eingliederungsstätte mit Standorten in Zürich, Winterthur und Richterswil unterstützt Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr voll leistungsfähig sind, bei der Rückkehr in den regulären Arbeitsmarkt.
Im November 2007 steigt Andreas Springer bei Espas Winterthur in die dreimonatige Abklärungsphase ein, die Aufschluss über seine Leistungsfähigkeit gibt. Seit Februar dieses Jahres läuft das Arbeitstraining, von der IV vorerst für drei Monate bewilligt, mit Option auf Verlängerung. Welche Hoffnungen verknüpft Springer damit? «Es ist eine Chance, wieder auf die Beine zu kommen, aber ich weiss nicht, wie gross sie ist.» Dann, etwas leiser: «Es ist vielleicht meine letzte Chance.»
Alles in allem hat es sich positiv angelassen bei Espas. Es vermittle ihm ein gutes Lebensgefühl, wenn er morgens wieder «zur Arbeit» könne, sagt Springer. Am Vormittag ist er jeweils vier Stunden dort und danach ziemlich kaputt. Rückschläge bleiben freilich nicht aus. Es gibt sie immer noch, die Tage, an denen er es nicht aus dem Haus schafft. Dann macht er sich Vorwürfe: «Gopf, das hättest du jetzt packen müssen!» In solchen Situationen ist seine Freundin die wichtigste Gesprächspartnerin, ihr kann er sich mit allen Schattierungen seiner Geschichte anvertrauen. Zu wissen, dass sie zu ihm hält, bewahre ihn davor, sich fallenzulassen, sagt Springer.
Und was möchte er einer Öffentlichkeit mitteilen, die psychische Krankheiten, so verbreitet sie auch sind, immer noch tabuisiert? Wer selber betroffen ist, solle früh genug dazu stehen und sich bewusstmachen, dass er kein Einzelfall ist, so sein Ratschlag. «Es gibt nichts, wofür man sich schämen müsste.» So schaffe man eine Normalität, die es auch den Gesunden ermögliche, unverkrampfter mit dem Thema umzugehen. Hat er selber sich denn je geschämt? Andreas Springer überlegt lange. Wenn, dann höchstens dafür, dass er es bisher nicht geschafft habe, wieder auf die Beine zu kommen, sagt er dann. «Aber dafür, dass ich diese Krankheit bekommen habe, dafür schäme ich mich nicht.»
So geht es weiter
Folge 2: Hartes Training für kleine Siege
Weitere Infos
Die Stiftung Espas setzt sich für die wirtschaftliche und soziale Integration von Menschen ein, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr voll leistungsfähig sind: http://espas.ch