Lange gibt es bei Marco Frommenwiler nur ein Motto: Vollgas. Der 43-jährige Bauleiter und Familienvater aus Sursee LU führt ein Leben auf der Überholspur. Er ist leistungsorientiert, nur Erfolg gibt ihm das Gefühl, jemand zu sein. Als Inhaber einer Bauleitungsfirma mit drei Angestellten arbeitet er fast Tag und Nacht. Wenn er doch mal freimacht, ist er auch da masslos. «Ich lebte immer am Limit, brauchte den Kick, war schlafmittelabhängig, hatte mehrere schwere Auto-, Ski- und Tauchunfälle», sagt er. Dass er zweimal knapp am Tod vorbeischrammt, bremst ihn nicht. «Ich glaubte, mich könne nichts umbringen.»

Partnerinhalte
 
 
 
 

«Als Bauleiter kann man nicht Teilzeit arbeiten. Es ist ein Vollgasberuf für Vollgastypen.»

Marco Frommenwiler, Burn-out-Patient

Das geht gut – bis vor etwa viereinhalb Jahren. Zittrige Hände, Schlafstörungen, kreisende Gedanken. Körper und Geist beginnen zu rebellieren. Widerwillig geht Frommenwiler zum Arzt. Die Diagnose Burn-out kann er lange nicht akzeptieren. Zwei Jahre lang hält er sich irgendwie über Wasser, lässt sich zu 50 Prozent krankschreiben, will einen Gang zurückschalten. Es klappt nicht. «Als Bauleiter kann man nicht Teilzeit arbeiten. Es ist ein Vollgasberuf für Vollgastypen.»

Plötzlich ein Nervenzusammenbruch

Im Herbst 2014 wird ihm das zum Verhängnis. Nach einem geschäftsinternen Zwischenfall erleidet Frommenwiler einen Nervenzusammenbruch. Er landet in der ambulanten Psychiatrie, danach für sieben Wochen in einer Klinik. Bis heute ist der 43-Jährige zu 80 Prozent arbeitsunfähig geschrieben.

Mit einem Pensum von 20 Prozent arbeitet er täglich als Aushilfe auf dem nachbarschaftlichen Bauernhof. Den Job hat er sich selber besorgt. Ansonsten traut er sich kaum aus dem Haus, aus Scham und Angst vor unangenehmen Fragen. Sein Geschäft hat er verkauft.

Frommenwiler muss sich neu orientieren, als Bauleiter kann er nicht mehr arbeiten. «Das wäre, wie wenn man einen Alkoholiker hinter die Bartheke stellen würde», sagt er. Er braucht eine Berufsberatung, vielleicht eine Umschulung, sicher aber Unterstützung, um wieder erwerbsfähig zu werden. Er meldet sich bei der IV an, bittet um Hilfe bei der Eingliederung (siehe Box). Als Burn-out-Patient ist er eigentlich prädestiniert für Integrationsmassnahmen, die sich laut den Absichtserklärungen des Bundesrats insbesondere an psychisch angeschlagene Personen richten.

Wiedereingliederung: So könnte die IV helfen

Bei der IV unterscheidet man vier Arten von Massnahmen zur beruflichen Wiedereingliederung:

  • Integrationsmassnahmen dienen der Vorbereitung auf berufliche Massnahmen (siehe nächsten Punkt). Dazu zählen Programme im geschützten Rahmen, die die Betroffenen wieder an den Arbeitsprozess gewöhnen sowie ihre Persönlichkeit und Arbeitsmotivation stärken oder ihre Belastbarkeit erhöhen.
  • Zu den beruflichen Massnahmen zählen Berufsberatungen, Umschulungen, berufliche Erstausbildungen, Arbeitsvermittlung, Arbeitsversuche sowie Einarbeitungszuschüsse und Kapitalhilfe für Selbständige.
  • Daneben übernimmt die IV Kosten für Hilfsmittel zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit.
  • Und sie bezahlt bis zum 20. Altersjahr auch medizinische Massnahmen, wenn diese unmittelbar der Eingliederung ins Erwerbsleben dienen.

Doch die IV klemmt, wo sie kann. Sie lässt abklären, wie es um Frommenwiler steht, und gibt ein Gutachten in Auftrag – bei einer Begutachtungsstelle, die dafür bekannt ist, Versicherte übermässig oft gesundzuschreiben. Der Leiter der Stelle berät in Vorträgen Versicherungen, wie sie sparen können. Frommenwiler wird prompt als 100-prozentig arbeitsfähig eingestuft. Die IV gibt ihm nicht einmal Adressen von Berufsberatern, weil er ein laufender Fall sei.

«Das ist völlig unverständlich», sagt sein Anwalt Christian Haag. Spätestens seit der 5. IV-Revision habe sich die Invalidenversicherung den Slogan «Eingliederung vor Rente» auf die Fahne geschrieben. Ein Rentenanspruch wird demnach erst geprüft, wenn die Eingliederung gescheitert ist. Im Fall von Marco Frommenwiler verweigere die IV nun Eingliederungsmassnahmen, weil aus ihrer Sicht keine Invalidität vorliege – und drehe damit den Spiess um. «Das hehre Motto wird zum toten Buchstaben.»

Der Zürcher Rechtsanwalt Jürg Leimbacher, der ebenfalls viele IV-Fälle vertritt, teilt diese Einschätzung: «Die IV versagt oft, wenn sie eingliedern sollte. Sie will auch da sparen. Bei Unfällen versucht nicht selten die Suva, die versicherte Person einzugliedern, obwohl sie dazu nicht verpflichtet wäre.»

Kein «IV-relevanter Gesundheitsschaden»

Die IV-Stelle Luzern antwortet auf Anfrage zum allgemeinen Vorgehen, man vertrete eine eingliederungsfreundliche Haltung, prüfe niederschwellige Massnahmen rasch und im Zweifel zugunsten der Versicherten. Für alle Leistungen müsse aber ein «IV-relevanter Gesundheitsschaden» vorliegen. «Bei Integrationsmassnahmen bedeutet das etwa, dass die Arbeitsunfähigkeit versicherungsmedizinisch korrekt attestiert ist und der zugrundeliegende Gesundheitsschaden die Massnahme nötig macht», so der Sprecher.

Nach Meinung der Anwälte Leimbacher und Haag ist das jedoch falsch. Das Gesetz verlange für Integrationsmassnahmen nur eine Arbeitsunfähigkeit von mindestens 50 Prozent während sechs Monaten. Das Zürcher Sozialversicherungsgericht bestätigte das im Oktober 2015 und hob einen Entscheid der IV-Stelle Zürich auf. Eine wegen Depressionen arbeitsunfähige Frau hatte keine Integrationsmassnahmen erhalten, weil die IV-Stelle die Beschwerden als «nicht invalidisierend» taxiert hatte. Das Gericht befand zudem, auch für berufliche Massnahmen wie eine Berufsberatung oder eine Arbeitsvermittlung reiche es, wenn jemand von Invalidität bedroht sei.

Gemobbt bis zum Gehtnichtmehr

Die Zürcher IV bleibt trotzdem streng. Etwa bei Lisa Brunner*. Die 59-jährige gelernte Sozialbegleiterin und Arbeitsagogin hat bis 2016 selber Menschen bei der Integration ins Arbeitsleben geholfen. Doch an ihrem letzten Arbeitsplatz wurde sie massiv gemobbt. «Man hat mich angeschrien, abgewertet, regelrecht geplagt.»

Lange versucht sie, die Vorfälle zu ignorieren, beisst die Zähne zusammen. Sie denkt, das höre von selber auf. Es wird nur schlimmer. Brunner fällt in eine Depression, mag nicht mehr richtig essen, kann nicht mehr schlafen, denkt an Suizid. Sie geht zum Arzt, erhält Medikamente. Dann bricht sie zusammen.

«Ich fühlte mich so wertlos, dass ich komplett überfordert war, mich gut zu verkaufen.»

Lisa Brunner*, Mobbing-Opfer

Im Januar 2016 wird sie zu 100 Prozent krankgeschrieben, im Februar meldet sie sich bei der IV. Sie verliert ihren Job. Im Sommer fängt sich Brunner wieder etwas, schreibt Bewerbungen, will unbedingt wieder arbeiten. Doch schon beim ersten Telefonat mit einem möglichen Arbeitgeber scheitert sie. Sie ist verunsichert, gerät ins Stottern. «Ich fühlte mich so wertlos, dass ich komplett überfordert war, mich gut zu verkaufen», sagt sie. Sie fällt erneut in ein Loch. Aus einer geselligen, aktiven Frau wird eine zurückgezogene, unsichere Person.

Integrationsprofi erhält keine Hilfe

Immerhin: Zunächst verlaufen die Gespräche mit der IV positiv. Lisa Brunner glaubt fest, dass sie Hilfe erhält und bald wieder arbeiten kann. Ein Gutachten wird eingeholt. Der Arzt empfiehlt ein Job-Coaching oder Arbeitseinsätze, bei denen man die Bewerbungssituationen umgehen kann. So werde sich Brunners angeschlagenes Selbstwertgefühl schnell normalisieren, und sie wäre bald wieder bereit für die Rückkehr ins Berufsleben.

Doch kurz vor Weihnachten schickt die IV einen überraschenden Vorbescheid. Die Versicherung lehnt jegliche Leistungen ab, weil kein andauernder Gesundheitsschaden vorliege. «Es war ein Schock», sagt Brunner. Sie erhebt Einwände gegen den Vorbescheid. Auf Nachfrage des Beobachters heisst es bei der IV-Stelle Zürich, man habe abgelehnt, da die Kundin selber Integrationsprofi sei. «Wir werden den Entscheid aufgrund der Einwände neu prüfen. Eingliederung hat bei uns Priorität, in 85 Prozent der Fälle bewilligen wir auch entsprechende Massnahmen», sagt die Sprecherin.

Wie oft sich Betroffene zuerst wehren müssen, ist nicht bekannt. Sicher ist: Rückschläge und Verzögerungen helfen niemandem. Aus Studien ist bekannt, dass die Wiedereingliederung umso eher gelingt, je schneller man handelt. Je länger die Abklärungen dauern, desto schwieriger wird es – die gesundheitlichen Beschwerden können chronisch werden, Betroffene fühlen sich Gutachtern ausgeliefert oder gar in die Simulantenecke gestellt.

Krank – aber hochmotiviert

Wie H. N. Wegen Schmerzen in der rechten Schulter muss die 43-jährige Pflegehelferin aus Ebikon LU ihren Job im Sommer 2015 aufgeben. Doch die Ärzte finden keine eindeutige Ursache, vermuten, dass auch die Psyche eine Rolle spielt. «Eine Frechheit, ich bilde mir die Schmerzen doch nicht ein», sagt N.

Da die Ärzte gute Heilungschancen prognostizieren, liegt bei N. kein «IV-relevanter Gesundheitsschaden» vor – sie muss sich selber eingliedern. «Wie soll das gehen? Ich versuche alles, habe mich auch bei Stiftungen angemeldet, die Handicapierten bei der Jobsuche helfen. Doch es hat leider nichts genützt.»

N. hat zwar eine Lehre im Detailhandel abgeschlossen, findet dort aber keinen Job. «Ich habe seit 16 Jahren nicht mehr auf diesem Beruf gearbeitet, bin gesundheitlich angeschlagen und über 40. Mich will keiner», sagt sie. Sie aber will unbedingt. Die letzten Monate hat sie mit einem Pensum von 80 Prozent im Verkauf gearbeitet – eine befristete Praktikumsstelle im geschützten Rahmen. «Ich bin für alles offen. Ich brauche einfach eine Chance, eine Praktikumsstelle mit der Option auf eine Festanstellung oder einen Job-Coach, irgendetwas, was mir hilft, in einem anderen Beruf Fuss zu fassen.»

Jetzt droht der Gang aufs Sozialamt

Ende Januar wird N. an der Schulter operiert, nachdem sie endlich von einem Spezialisten untersucht worden ist. Auf Anraten ihres Anwalts Leander Zemp hatte sie gegen die Ablehnung der Eingliederungsmassnahmen jedoch keine Einsprache erhoben. «Leider stehen die Chancen schlecht, denn grundsätzlich ist Frau N. ja erwerbsfähig. Es ist meine Erfahrung, dass die Invalidenversicherung Leute wie sie im Regen stehen lässt», sagt der Jurist aus Luzern. Das sei besonders unverständlich, wenn die Betroffenen motiviert seien. Jetzt droht N. der Gang aufs Sozialamt.

Burn-out-Patient Marco Frommenwiler hat in seinem Fall unterdessen ein neues, unabhängiges Gutachten verlangt. Die IV-Stelle Luzern wollte ihn darauf nochmals zum selben Gutachter schicken. Dagegen wehrte sich Frommenwiler – und bekam vom Luzerner Kantonsgericht recht. Allerdings hat die Invalidenversicherung das Urteil ans Bundesgericht weitergezogen. Damit vergeht erneut wertvolle Zeit. Der 43-Jährige bleibt bei der Eingliederung auf sich selbst gestellt.