Millionen für Flop-Arzneien
Der Bund streicht zweifelhafte Mittel nicht von der Liste der kassenpflichtigen Medikamente. So werden sie weiter verschrieben – und die Prämienzahler geben Unsummen dafür aus.
Veröffentlicht am 13. April 2010 - 16:09 Uhr
Den Krankenkassen sind die Hände gebunden: Sie müssen fragwürdige Medikamente zahlen, wenn das Bundesamt für Gesundheit (BAG) sie dazu verdonnert. Denn gegen Entscheide des BAG haben die Kassen kein Rekursrecht. Ganz anders die Pharmafirmen: Sie können sich bis vor Bundesgericht wehren, wenn das BAG ein kassenpflichtiges Medikament streicht oder dessen Preis senkt. Das ist ein Grund, weshalb das BAG kein einziges Medikament nennen kann, dem es von sich aus die Kassenpflicht entzogen hat.
Häufig versprechen neue Medikamente einen grösseren Nutzen als bestehende. Als Indiz legen die Pharmafirmen eine oder mehrere Studien mit einer kleinen Zahl von Patienten vor. In der Hoffnung, dass sich dieser grössere Nutzen bei einer breiten Anwendung bestätigt und dass keine grösseren Schäden auftreten, setzt sie das BAG möglichst schnell auf die Liste der kassenpflichtigen Medikamente. So können Patienten frühzeitig von neuen, erfolgversprechenden Medikamenten profitieren.
Probleme entstehen, wenn sich der Nutzen später als kleiner herausstellt oder wenn Nebenwirkungen gravierender sind als vermutet. Das BAG müsste zwar Medikamente wieder aus der Liste streichen, sobald sie «nicht mehr alle Aufnahmebedingungen erfüllen». So steht es in der Verordnung zum Gesetz. Doch diese zwingende Vorschrift bleibt toter Buchstabe. «In den letzten Jahren sind keine Streichungen aufgrund dieser Verordnung erfolgt», bestätigt BAG-Sprecherin Miranda Dokkum.
Die Zulassungsbehörde Swissmedic bewilligt alle Medikamente, deren Nutzen grösser ist als der Schaden, den sie mit ihren Nebenwirkungen anrichten. Die Kassen jedoch müssen solche Medikamente nur zahlen, wenn sie – im Vergleich mit bisherigen Medikamenten – sowohl zweckmässig als auch wirtschaftlich sind. So steht es im Gesetz, und so hat es der Bundesrat kürzlich bestätigt. Doch das BAG hat die Kassen verpflichtet, einen immer grösseren Teil aller Medikamente zu zahlen. An den Umsätzen gemessen, waren vor 20 Jahren nur 53 Prozent aller zugelassenen Medikamente kassenpflichtig. Heute sind es über 80 Prozent.
Unter den fragwürdigen, besonders teuren Arzneimitteln, die die Kassen zahlen müssen, befinden sich die umsatzstarken Cholesterinsenker Ezetrol und Inegy mit dem Wirkstoff Ezetimib. Anders als die Medikamentengruppe der Statine senkt Ezetimib den Cholesterinspiegel nicht über die Leber, sondern über den Verdauungstrakt. Es schont deshalb die Leber. Und Ezetimib senkt den Cholesterinspiegel erst noch stärker. Wegen dieser Vorteile hatte das BAG die Ezetimib-Präparate in die Kassenpflicht aufgenommen und einen Verkaufspreis bewilligt, der 2,5-mal so hoch ist wie die gängige Behandlung mit Statinen. Inzwischen erzielen die Pharmafirmen Merck und Schering mit Ezetimib weltweit einen Jahresumsatz von über sechs Milliarden Franken. In der Schweiz erreichen die Umsätze 26 Millionen, was die Krankenkassen mit den Margen von Apotheken und Ärzten fast 36 Millionen pro Jahr kostet.
Doch vor zwei Jahren kamen ernsthafte Zweifel auf, ob die teuren Ezetimib-Präparate wirklich zweckmässiger sind als andere. Auf politischen Druck in den USA hin mussten nämlich Merck und Schering ihre eigene Studie «Enhance» veröffentlichen. Die ernüchternden Resultate waren den Firmen laut «New York Times» schon zwei Jahre vorher bekannt: Obwohl Ezetimib-Präparate den Cholesterinwert tatsächlich stärker senken als Statine allein, verhindern sie die Arterienverkalkung nicht.
Diese Ergebnisse seien «schockierend», befand Chefkardiologe Steven E. Nissen von der Herzklinik in Cleveland. Ablagerungen in den Arterien sind für das Risiko von Herzinfarkten und Schlaganfällen entscheidender als der Cholesterinspiegel. Herzspezialist Harlan M. Krumholz, Professor an der Yale-Universität, kam zum Schluss: «Mit dem heutigen Wissen ist das Verschreiben von Ezetrol anstelle von Statinen ein Arztfehler.» Das unabhängige deutsche «Arznei-Telegramm» rief dazu auf, «den überteuerten Cholesterinsenker nicht zu verordnen und einzunehmen». Doch das Schweizer Bundesamt für Gesundheit stufte Ezetimib-Präparate weiter als zweckmässig und wirtschaftlich ein.
Anderthalb Jahre später, im November 2009, veröffentlichte das «New England Journal of Medicine» eine Studie mit einem noch bedenklicheren Resultat. Wer Statine zusammen mit Ezetimib nahm, starb häufiger an Herzkreislaufkrankheiten, als wer Statine zusammen mit Vitamin B3 einnahm. Die Studie wurde vorzeitig abgebrochen. Die Zugabe von Vitamin B3 senkte die Ablagerungen in den Halsschlagadern signifikant, während die Zugabe von Ezetimib diese kaum beeinflusste. Die Pharmafirmen Merck und Schering warnen jetzt auf ihrer eigenen Homepage in fetten Buchstaben selber: «Im Gegensatz zu einigen Statinen gibt es bei Ezetrol keinen Beweis, dass es Herzkrankheiten oder Herzinfarkten vorbeugen kann.»
Der Schweizer Herzchirurg Thomas Lüscher hat die Konsequenzen gezogen. Er verwendet immer zuerst Statine, dann die neueren Cholesterinsenker Sortis und Crestor. Nur «als letzte Wahl» verschreibt er Ezetimib. Allerdings ist mit keiner Studie belegt, dass Ezetimib nach Versagen der anderen Cholesterinsenker das Risiko von Schlaganfällen und Herzinfarkten tatsächlich senkt.
Trotzdem verknurrt das BAG die Krankenkassen weiterhin dazu, Ezetrol auch als Ersttherapie zum 2,5-fachen Preis zu vergüten. Viele Ärzte verschreiben die teuren Ezetimib-Präparate immer noch als erste Therapie zum Vorbeugen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das zeigen die Ezetimib-Kosten der Krankenkassen: Sie sind immer noch fast gleich hoch wie vor zwei Jahren. Tausende von Patientinnen und Patienten werden also weiterhin mit Medikamenten behandelt, die nach heutigem Wissen gegen das Risiko von Herzinfarkt und Schlaganfall – wenn überhaupt – weniger gut vorbeugen als Statine allein oder zusammen mit Vitamin B3. Das BAG lässt die Patienten im falschen Glauben, dass kassenpflichtige Medikamente im Vergleich mit andern Standardtherapien für alle «zweckmässig» sind.
Ob Ezetimib verschrieben wird, liege «im Ermessensspielraum der Ärzte», meint BAG-Sprecherin Miranda Dokkum. Wenn jedoch die Ärzte über die Zweckmässigkeit entscheiden, kann das BAG gleich sämtliche zugelassenen Medikamente kassenpflichtig machen. Das BAG erklärt ausserdem, dass sich bei den ezetimibhaltigen Arzneimitteln «am Zulassungsstatus nichts geändert» habe. Die erwähnten Studien würden «kontrovers beurteilt». Pharmafirmen kritisieren Methoden und Patientenauswahl von Studien mit unerwünschten Resultaten, selbst wenn sie diese selber in Auftrag gegeben haben.
Auf zwei entscheidende Fragen gibt das BAG keine Antwort: Weshalb wird die Kassenpflicht nicht wenigstens auf die wenigen Fälle beschränkt, bei denen alle anderen cholesterinsenkenden Medikamente versagen oder nicht vertragen werden? Und weshalb hat das BAG die hohen Preise von Ezetrol und Inegy nicht auf das Niveau gängiger Statine herabgesetzt? Es geht um viel Geld: Hätte das BAG die Preise von Ezetrol und Inegy vor zwei Jahren auf das Niveau des Statins Simvastatin gesenkt, hätten die Kassen und Prämienzahler inzwischen 35 Millionen Franken gespart.
Seit einiger Zeit läuft eine grössere Ezetimib-Studie mit 11'000 Patienten im Auftrag der Pharmafirmen. Der Abschluss war für 2012 geplant. Doch jetzt sollen plötzlich 18'000 Patienten untersucht werden, was die Studie um mindestens ein Jahr verlängert. Die Studie, wie sie ursprünglich konzipiert war, habe noch keine signifikanten Resultate ergeben, erklärt Merck. 2015 läuft das Patent des Umsatzrenners Ezetimib aus.
Leberschäden, Todesfälle: Gefährliche Medikamente
Sobald neue Studien zeigen, dass kassenpflichtige Medikamente im Vergleich zu anderen nicht mehr zweckmässig oder wirtschaftlich sind, müssten die Kassen die schlechteren Arzneien eigentlich nicht mehr zahlen – oder nur noch zu einem tieferen Preis. Bei folgenden Medikamenten hat das Bundesamt für Gesundheit die Zweckmässigkeit nicht in Frage gestellt, obwohl neue Daten vorlagen.
Die Kassen mussten bis zum Tag zahlen, an dem Swissmedic oder die Firmen die Medikamente vom Markt entfernten.
Das Breitband-Antibiotikum Trovafloxacin: Die Kassen mussten bis 2001 zahlen. Alarmsignale gab es schon vorher.Hunderte erlitten schwere Leberschäden.
Der Cholesterinsenker Lipobay: Die Kassen mussten bis 2002 zahlen. Auch hier war die Zweckmässigkeit schon früher fraglich. Viele Patienten litten an Auflösung der Skelettmuskulatur und akutem Nierenversagen.
Das Rheuma- und Schmerzmittel Vioxx: Die Kassen mussten bis 2004 zahlen, obwohl Alarmglocken schon Jahre vorher läuteten. Vioxx verdoppelte das Risiko von Herzinfarkten und verursachte in der Schweiz über 600 Todesfälle.
Prepulsid und andere Medikamente mit dem Wirkstoff Cisaprid gegen Sodbrennen: Die Kassen mussten bis 2005 zahlen, obwohl Cisaprid in den USA bereits im Jahr 2000 nach Herzrhythmusstörungen mit Todesfällen vom Markt genommen wurde.
Raptiva gegen schwere Schuppenflechte: Bis 2009, als Hersteller Genentech Raptiva vom Markt nahm, mussten die Kassen pro vierwöchige Kur über 1600 Franken zahlen. Längere Behandlungen haben zu schweren Virusinfektionen des zentralen Nervensystems geführt.