Schock für Versicherte
Die Krankentaggeldversicherer erhöhen ihre Prämien um bis zu 900 Prozent. Leidtragende sind vor allem Kleingewerbler.
Veröffentlicht am 19. Januar 2004 - 13:27 Uhr
Urs Gautschi hat ein Schreinergeschäft in Engwilen TG. Weil er sein eigener Chef ist und ihm keiner den Lohn weiterzahlt, wenn er krank ist, schloss er im Jahr 2000 bei der CSS-Versicherung eine Kollektivtaggeldversicherung für Kleingewerbler ab. Sie sollte ihm während 730 Tagen 119 Franken pro Tag zahlen, falls er länger als einen Monat im Bett läge.
Im Sommer 2002 musste sich Gautschi einer Rückenoperation unterziehen. Seither ist er zu 50 Prozent arbeitsunfähig. Bis September letzten Jahres zahlte die CSS das Taggeld von 58 Franken anstandslos aus. Doch dann kam der grosse Schock: Die Versicherung kündigte dem Schreiner die Police auf Ende Jahr und teilte ihm mit, dass sie zu diesem Zeitpunkt auch die Leistungen einstelle. Von den versicherten 730 Taggeldern konnte Gautschi lediglich 460 beziehen – obwohl er sämtliche Prämien immer rechtzeitig bezahlt hatte.
«Versicherungsprinzip ausgehöhlt»
Die CSS schlug dem vor den Kopf gestossenen Versicherten vor, in eine Einzeltaggeldversicherung überzutreten – in diesem Fall würden die Leistungen weiterbezahlt. Der Haken: Die Prämien der Einzeltaggeldversicherung sind um ein Mehrfaches höher. Statt 527 Franken pro Jahr müsste der Schreiner neu 5654 Franken zahlen.
«In unseren allgemeinen Versicherungsbestimmungen steht, dass die Leistungspflicht erlischt, wenn ein Versicherter ausscheidet», verteidigt CSS-Sprecher Stephan Michel die Praxis der Versicherung. Die CSS kann jeden Vertrag mit einer Frist von drei Monaten auf Ende Jahr grundlos kündigen – auch das ist im Kleingedruckten so festgelegt. Um Härtefälle zu vermeiden, habe die CSS aber inzwischen die Versicherungsbedingungen per 1. Januar 2004 angepasst, sagt Michel: «In Zukunft werden die laufenden Leistungen aus dem abgeschlossenen Vertrag auch über das Kündigungsdatum hinaus fertig bezahlt.»
Damit führt die CSS ein, was andere Gesellschaften ihren Taggeldversicherten schon lange gewähren. Für Urs Gautschi ist dies allerdings ein schwacher Trost. Denn für seinen Vertrag gelten noch die alten Bestimmungen – der teilweise arbeitsunfähige Schreiner profitiert von keinen Übergangsfristen.
«Vertragsbestimmungen wie jene im Kleingedruckten von Gautschis Police höhlen das Versicherungsprinzip total aus», kritisiert der Zuger Rechtsanwalt und Versicherungsrechtsspezialist Jean-Baptiste Huber. Dass ein Versicherter im Schadensfall eine 750 Prozent höhere Prämie akzeptieren müsse, um zu seinem Taggeld zu kommen, widerspreche «völlig der Vertragsnatur». Zudem sei diese Bestimmung ungewöhnlich und habe vom Kunden bei Vertragsabschluss nicht verstanden werden können. Huber: «Da müsste man einen Musterprozess führen.»
Doch dafür fehlen dem teilinvaliden Urs Gautschi die finanziellen Mittel: «Das kann ich als Einmannbetrieb schlicht nicht zahlen.»
Gautschi ist kein Einzelfall. Insgesamt hat die CSS rund 200 Kleingewerbe-Taggeldversicherungen auf Ende 2003 gekündigt, wenn in den letzten fünf Jahren Leistungen bezogen wurden. Alle Betroffenen erhielten Offerten mit massiv höheren Prämien. Im Fall eines Kälte- und Klimatechnikers aus Niederuzwil SG würde die neue Prämie um 900 Prozent steigen: Statt 1200 Franken müsste er der CSS für eine Einzeltaggeldversicherung in Zukunft 12000 Franken bezahlen. Dabei hat er bislang erst 6100 Franken an Taggeldleistungen bezogen.
Millionenverluste im Taggeldgeschäft
«Die Verluste der CSS im Taggeldgeschäft, besonders bei den Kollektivpolicen des Kleingewerbes, gehen in die Millionen», begründet Pressesprecher Stephan Michel die Massnahme. «Im Interesse der gesamten Kundschaft bleibt uns gar nichts anderes übrig, als das Geschäft zu sanieren.»
Andere Versicherungen gehen ähnlich vor. Letztes Jahr kündigte die Basler Versicherung insgesamt 470 Taggeldverträge. «Die Situation im Kollektivtaggeldbereich ist derzeit ausgesprochen schlecht», erklärt Pressesprecherin Isabelle Guggenheim. «In den letzten vier Jahren haben die Schadenzahlungen pro Jahr um 15 Prozent zugenommen.»
Offenbar haben die Versicherungen in guten Jahren zu wenig Reserven geäufnet. Jetzt müssen vor allem die «schlechten Risiken» dafür bluten: Kleingewerbler, Arbeitslose und kranke Personen.
Baubetriebe besonders betroffen
Krankentaggeldversicherungen sind keine Sozialversicherungen. Sie unterstehen dem Versicherungsvertragsgesetz, das die Interessen der Versicherungen viel stärker berücksichtigt als jene der Versicherten. Das Bundesamt für Privatversicherungen (BPV) genehmigte nicht nur die Prämienerhöhungen bei den Taggeldversicherungen – auch die Änderungskündigungen werden nicht beanstandet. «Ein Versicherer hat Anrecht auf die Bewilligung der Tarife, sofern sie solvenzerhaltend, aber nicht missbräuchlich sind», sagt BPV-Sprecher Patrick Jecklin.
Härtere Zeiten drohen vor allem Schreinern, Malern, Maurern und Arbeitnehmern in anderen Bereichen des Bau- und Nebenbaugewerbes, die wegen der harten körperlichen Arbeit oft längere Krankheitsabsenzen aufweisen. «Die Versicherungen wollen schlechte Risiken abstossen», sagt Christoph Häberli, Leiter des Rechtsdienstes der Gewerkschaft Bau und Industrie. «Wir haben von mehreren Baubetrieben gehört, die keine Taggeldversicherung mehr finden.»