921 Opfer, 510 Beschuldigte, insgesamt 1002 Fälle: Das ist die Bilanz der ersten nationalen Untersuchung zu sexuellen Missbräuchen im Umfeld der katholischen Kirche in der Schweiz. Während rund eines Jahres hat ein Team um die beiden Geschichtsprofessorinnen Marietta Meier und Monika Dommann für eine Pilotstudie im Auftrag der katholischen Kirche die Archive kirchlicher Institutionen durchkämmt. 


Drei Viertel der Opfer waren minderjährig

Die Studienleiterinnen gehen davon aus, dass die publizierten Resultate bloss die Spitze des Eisbergs sind. Bisher habe man erst rund zwei Dutzend Archive von kirchlichen Institutionen durchleuchten können. 

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Praktisch alle Täter waren nach den Erkenntnissen der Forschenden Männer. Und sie vergingen sich mit Vorliebe an Minderjährigen. In 74 Prozent der identifizierten Opfer handelte es sich um Kinder oder Jugendliche. 14 Prozent der Opfer waren erwachsen, bei weiteren 12 Prozent liess sich das Alter nicht mehr feststellen. Auffällig ist, dass viele der Täter mehr als ein Opfer missbraucht haben. In einem besonders krassen Fall fanden sich Belege über 67 Opfer eines einzigen Priesters. 

Bischöfe vertuschen

Die Untersuchung zeigt, dass die Verantwortlichen der katholischen Kirche – allen voran Bischöfe und Äbte – oft sehr genau im Bild waren über die Missbräuche. Sie nahmen die Fälle nicht ernst oder vertuschten sie gar aktiv. Die Forschenden zitieren dazu exemplarisch einen Fall aus den 1950er-Jahren. Im Bistum Chur war ein Priester wegen «Unzucht mit Kindern» zu einem Jahr Gefängnis bedingt verurteilt worden. Weil ihn im Bistum Chur keine Gemeinde mehr anstellen wollte, empfahl ihn der Bischof ans Bistum Basel und schrieb dem Priester: «Nach einiger Zeit (…) können Sie zurückkehren.» 

Der Priester wurde zu Beginn der 1960er-Jahre erneut angeklagt und wegen «Unzucht» mit 39 Kindern zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Ein Domherr aus dem Bistum Chur schrieb darauf: «Der Fall müsste nach Kirchenrecht nach Rom berichtet werden. Wir tun das gewöhnlich nicht, damit die Priester nach Verbüssung der Strafe leichter wieder irgendwo verwendet werden können.» In seinem Heimbistum Chur sei «ein wesentlicher Teil der Personalakte verschwunden», heisst es in der Pilotstudie über den Fall. «In seinem Nachruf wurden die teilweise mehrjährigen Haftstrafen nicht erwähnt und ein Lebenslauf eines verdienstvollen Priesters präsentiert.»

Fälle wurden oft nicht gemeldet

In den Archiven fanden sich zahlreiche Hinweise darauf, dass das kirchenrechtliche Strafrecht in Missbrauchsfällen nur sehr selten zur Anwendung kam. So stiessen die Forschenden auf einen Brief des damaligen St. Galler Bischofs Otmar Mäder aus den 1980er-Jahren. Mäder schrieb, er hätte zwar genug Material gegen einen Missbrauchstäter beisammen, um einen kirchenrechtlichen Prozess zu führen.«Allerdings ist das ein Weg, den ich deswegen nicht schätze, weil er ausserordentlich lange geht. Denn er ist nur über Rom möglich.» Hinweise für ein kirchenrechtliches Verfahren in dem Fall fanden die Forschenden nicht. Erst ab 2010 seien konsequenter kirchenrechtliche Verfahren durchgeführt worden, heisst es in der Studie dazu. 

Es mache Betroffene wütend, nach wie vor lesen zu müssen, wie Bischöfe und Offizielle mit Opfern von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche umgehen, sagte dazu Vreni Peterer, Präsidentin der Betroffenenorganisation IG-MikU. Sie sprach damit die zuletzt bekannt gewordenen Fälle an, die von Bischöfen aktiv vertuscht oder nicht nach Rom weitergeleitet wurden. Verfahren sollen ab sofort nach rechtsstaatlichen Kriterien geführt werden, verlangte Peterer. Und sie zeigte sich erfreut über die Ergebnisse der Pilotstudie: «Wir fordern Transparenz in kirchlichen Verfahren, wir fordern Gerechtigkeit.»

Kirche kündigt Massnahmen an

Der Churer Bischof Joseph Bonnemain kündigte als Vertreter der Bischofskonferenz aufgrund der Studienergebnisse Massnahmen an. Sie sollen im Verlauf des kommenden Jahres umgesetzt oder zumindest eingeleitet werden:

  • Unabhängige Anlaufstellen: Opfer von sexuellen Missbräuchen im Umfeld der katholischen Kirche sollen sich bei unabhängigen Stellen melden können. Bei der Schaffung dieser Anlaufstellen sollen die Opferorganisationen einbezogen werden. 
  • Verschärfte Kontrollen: Bewerberinnen und Bewerber für kirchliche Ämter müssen sich standardisierten psychologischen Tests unterziehen, ebenso Menschen, die in einen Orden oder ein Priesterseminar eintreten wollen. 
  • Professionalisierung des Personalwesens
  • Keine Aktenvernichtung mehr: Mit einer schriftlichen Selbstverpflichtung garantieren die Bistümer, die zuständigen Stellen der katholischen Landeskirche und die Orden, dass künftig keine Akten zu sexuellen Missbräuchen mehr vernichtet werden. Diese Selbstverpflichtung widerspricht dem Kirchenrecht. Er wisse nicht, ob der Vatikan davon schon Kenntnis habe, erklärte der Churer Bischof Joseph Bonnemain bei der Vorstellung der Missbrauchsstudie: «Ich nehme allfällige Proteste aus Rom auf meine Kappe.»
So kam es zur Studie zu Missbrauch

Auftraggeber für die Pilotstudie waren die Schweizerische Bischofskonferenz (SBK), die Konferenz der Ordensgemeinschaften und anderer Gemeinschaften des gottgeweihten Lebens in der Schweiz (Kovos) sowie die Römisch-Katholische Zentralkonferenz (RKZ). 

Die Aufarbeitung der Missbrauchsgeschichte in der katholischen Kirche soll fortgesetzt werden. Bereits Ende Juni hatte die katholische Kirche der Universität Zürich den Auftrag für eine Folgestudie erteilt, die von 2024 bis 2026 dauern soll.