Beobachter: Yuvviki Dioh, was ist an der Frage «Woher kommst du?» das Problem?
Yuvviki Dioh: Sie wird oft in Situationen gestellt, in der sie nicht relevant ist. Man trifft jemanden, macht Smalltalk, schnell kommt diese Frage. Die Haltung dahinter: Weisse Menschen sind Schweizer, dunkle eher nicht. Die Nationalität wird anhand von Hautfarbe, Aussehen oder des Namens definiert.


Wenn ich Freundinnen auf diese Problematik hinweise, kommt oft der Einwand: «Aber ich bin doch nur höflich. Sonst frage ich ja auch nach der Herkunft.»
In dem «sonst» ist die Unterscheidung drin. Schon klar: Wenn jemand etwa einen Ostschweizer Dialekt in Zürich hat, fragt man vielleicht deswegen nach. Der Dialekt ist ein klarer geografischer Marker. Aber wenn ich Zürichdeutsch spreche und wir sind in Zürich, hat die Frage da nichts verloren. Noch deutlicher wird es, wenn die Antwort nicht akzeptiert wird: «Ja, aber woher kommst du wirklich?» Da geht es nicht um Höflichkeit, sondern um Hautfarbe, die als nicht schweizerisch empfunden wird.

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Warum hält sich das so hartnäckig?
Das sind stereotype Ideen, wie sich eine Schweizerin, ein Schweizer verhält, aussieht, spricht. Das Problem ist, dass das viele ausschliesst. Gerade in einem Land wie der Schweiz, einer Willensnation, ist das eigentlich absurd. Im Schweiz-Mythos ist der ganze ethnische Aspekt kein Thema. Die nationale Identität basiert auf Vielfalt und Heterogenität – warum reproduzieren wir trotzdem dauernd dieses Bild vom Fremdsein?


Ich ertappe mich selber dabei. Wenn jemand etwa sagt: «Es gibt auch Rassismus gegen Schweizer», sehe ich Weisse vor mir, die sich beklagen.
Dunkelhäutigen Schweizerinnen kann es auch so gehen. Sie erkennen den Rassismus dahinter erst, wenn sie sich bewusst damit auseinandersetzen. Wir sind alle mit den gleichen Vorstellungen aufgewachsen, was es heisst, Schweizerin zu sein. Das ändert sich erst, wenn man Nationalität von Hautfarbe trennt. Also: Ja, es gibt sehr wohl Rassismus gegen Schweizer – gegen Schweizer BPoC (Black People und People of Color).


In der Frage nach der Herkunft schwingt ja auch mit: «Ich habe das Recht, zu wissen, wer du wirklich bist.»
Das ist eine Blut-und-Boden-Haltung. Jede Person, die – gefühlt – von aussen kommt, muss sich erklären. Das führt dazu, dass ich mich rechtfertigen muss, warum ich mich als Schweizerin sehe, warum ich Schweizerin bin.


Was verbirgt sich noch hinter dieser Sichtweise?
Dass wir die kolonialen Denkmuster und unsere Kolonialgeschichte nicht aufgearbeitet haben. In den Medien oder wenn es um Migration, Asylpolitik, Kriminalität geht, sieht man das besonders. Da merkt man, dass die Idee vom nationalen Zugehörigsein noch sehr tief drinsteckt. Gewisse Ideen von Kultur sind sehr statisch und fast unveränderlich. Etwa in den Diskussionen um muslimische Menschen: Man betrachtet sie als kulturell verfestigt und tut so, als könnten sie sich gar nicht verändern. Oder bei der Frage, wer Asyl erhalten oder gar Schweizer, Schweizerin werden darf: je näher die Herkunft, desto einfacher der Zugang. Warum? Dahinter steckt die Idee der kulturellen Nähe: Es ist einfacher, einen Menschen aus Europa zu integrieren als einen aus Afrika, weil die ja so anders sind als wir. Das ignoriert völlig, dass sich Sozialisation und Kultur dauernd verändern und es innerhalb des Landes verschiedene Sozialisationen und Kulturen gibt.


Es gibt ja auch das Gegenteil. Leute, die Unterschiede positiv kommentieren: «Du tanzt so gut! Du hast das halt im Blut.» Oder: «Schwarze sind einfach besser im Bett.»
Das ist Sexotisierung – also Sexualisierung und Exotisierung. Es gibt viele Sprüche dieser Art. «Bekommst du auch einen Sonnenbrand?», «Darf ich deine Haare anfassen?» oder «Ah, du hast so schön samtene Haut». Ein Körper, der «anders» ist, wird kommentiert, ungefragt. Der Körper wird einfach genommen, angenommen, benutzt. Weisse Menschen kennen das eher nicht, dass ihnen fremde Leute einfach in die Haare fassen.

«Es geht nicht darum, einzelne Vorfälle im Schlimmheitsgrad zu vergleichen, sondern zu erkennen, dass die Vorfälle zusammenhängen.»

Yuvviki Dioh, Kommunikationswissenschaftlerin

In meiner Familie hiess es: «Sich für andere zu interessieren, ist doch gut.»
Austausch ist wichtig und schön, absolut. Es gibt unterschiedliche Sozialisierungen, Verhaltensweisen, darüber kann man sich austauschen. Aber es wird zum Problem, wenn man sich nur auf einen Aspekt des Daseins fokussiert. Wenn ich eine Gruppe nur als fröhliche, tanzende, «Ach, die sind mit so wenig glücklich»-Menschen darstelle, werde ich ihrer Komplexität nicht gerecht. Man ist nicht offen, nur weil man auf einer Reise den Totentanz der Einheimischen grad so lässig findet. Zur Komplexität gehört auch, dass man den Menschen die Bestimmung über sich selbst überlässt.


Was aber ist, wenn sie sich selber in einer Rolle zeigen?
Dann ist es eine selbstbestimmte Entscheidung, keine Reduktion, und heisst nicht, dass sie nur das sind. Wenn ich den Song «WAP» der Rapperinnen Cardi B und Megan Thee Stallion höre, muss ich nicht meinen, dass es in ihrem Leben nur um Sex geht. Das sind Businessfrauen, die haben Kinder, gehen spazieren. Diversität heisst nicht nur, viele verschiedene Menschen zu zeigen, sondern auch Menschen in verschiedenen Rollen. Da wären Kunst und Kultur gefragt, weil sie pushen könnten.


Aber nur schon für uns Frauen fehlen dort viele und vielfältige Rollen.
Ja, es geht wahnsinnig langsam. Ich habe kürzlich mit einer guten Kollegin gesprochen, die Theater macht. Sie meinte, wenn sie in einem Stück die Rolle einer Prostituierten besetzen wolle, dürfe sie keine BPoC-Schauspielerin mehr nehmen, weil sie dann das Langstrassen-Klischee aufnehme. Aber es geht nicht darum, zu verneinen, dass das eine Realität an der Langstrasse ist, sondern darum, dass wir nicht immer nur diese eine Realität zeigen. Sonst entsteht das Gefühl, es sei die einzige. Man erkennt das Problem selten am Verhalten Einzelner, sondern erst in der Masse.


Dazu passt der Spruch: «Ich bin sicher nicht Rassist, ich habe ja einen Kollegen, der … ist.»
Wir müssen davon wegkommen, Rassismus als Charaktereigenschaft zu sehen. Viele erschrecken, wenn man sie auf Rassismus hinweist: «Ich?! Ich bin doch sicher keine Rassistin!» Weil im Wort mitschwingt: «Du bist ein böser Mensch.» Wir alle haben die Idee im Kopf: Rassisten, das ist der Ku-Klux-Klan, das sind Rechtsradikale, Nazis.


Ich habe auch in «schlimmen» und «harmlosen» Rassismus unterteilt. Ich dachte: Verprügeln und nach der Herkunft fragen ist ja wohl nicht dasselbe.
Das ging auch mir so. Aber es geht nicht darum, einzelne Vorfälle im Schlimmheitsgrad zu vergleichen, sondern zu erkennen, dass die Vorfälle zusammenhängen. Das ist erlernt, das ist Sozialisierung, Teil einer Struktur – einer Verhaltensstruktur, einer Denkstruktur.


Und wenn Weisse sagen: «Also, ich finde das nicht rassistisch»?
In der Wissenschaft wird Rassismus meist als strukturelles Problem angesehen, das dazu führt, dass Menschen systematisch ungleich behandelt werden. Es gibt keine Rassen, das wurde zigfach wissenschaftlich bewiesen. Das, was der Begriff «Rassismus» beschreibt, bezieht sich historisch auf dieses Konzept. Im europäischen Raum benutzen wir zwar das Wort «Rasse» seit dem Holocaust nicht mehr, aber wir ersetzten ihn mit «Kultur» oder «Nationalität». Und wir schliessen trotzdem anhand des Aussehens, anhand biologischer Eigenschaften, auf Verhalten, werten entsprechend und behandeln Menschen ungleich. Ich glaube, dieses Verständnis von Rassismus fehlt.


Können Nichtbetroffene überhaupt sagen: «Das ist nicht rassistisch»?
Oft sagen das ja Leute, die sich kaum mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Warum sollte deren Meinung jetzt die ausschlaggebende sein? Weisse Menschen sind es gewohnt, gehört zu werden. Nicht unbedingt die Einzelnen, sondern als Gruppe. Weisse Menschen sind in den Medien sehr viel präsenter im Vergleich zu anderen – zu fast allen Themen. Sie werden meist als Experten präsentiert. Ein Beispiel: Bei vielen archäologischen Dokus über das alte Ägypten reden ältere weisse Männer – obwohl es sehr viele Expertinnen und Experten aus dieser Region gibt, die an den Ausgrabungen beteiligt sind. Das suggeriert jungen weissen Männern: Sie können zu allem etwas sagen, ihre Stimme ist wichtig. Das ist sie ja auch. Aber es sollte halt nicht die einzige Stimme sein, die man hört. Und wenn sie Gegenwind bekommen, heisst es plötzlich: Hä, warum darf ich das jetzt nicht sagen, warum soll das jetzt rassistisch sein?


Sie wollen quasi einen Beweis.
Viele Nichtbetroffene haben diesen Anspruch: Erzähl mir von deinem Leben, den schlimmen Vorfällen, dem Rassismus, den du erlebt hast. Damit kommen Betroffene in eine sehr schwierige Position, in der sie sich immer wieder öffnen, Verletzungen zeigen müssen, retraumatisiert werden. Dahinter steht die Idee: Es ist dein Problem, gib mir die Lösung. Aber nicht die Betroffenen sind das Problem. Deshalb spreche ich öffentlich nicht über meine persönlichen Erfahrungen, weil es sonst heisst: «Ja, vielleicht bist du empfindlich» oder «Das war doch sicher nicht so gemeint».

«Ich kann mich selbst immer wieder hinterfragen: Was ist meine Position in der Welt, und welche Privilegien habe ich?»

Yuvviki Dioh, Kommunikationswissenschaftlerin

Lange habe ich mich gefragt, ob ich Sie als Expertin zum Thema Rassismus befragen soll. Ich könnte Sie ja auch als Expertin für die Darstellung von Terrorismus in den Medien befragen.
Da geht es erneut um Eindimensionalität. BPoC sind nicht «berufsschwarz» und nur Fachleute zum Thema Rassismus, wir sind auch in ganz vielen anderen Sachen Experten, Expertinnen. Wenn Medienschaffende BPoC auch zu anderen Themen befragen, dann normalisiert sich das. Aber wenn es um das Thema Rassismus geht, ergibt es vielleicht schon Sinn, Leute einzuladen, die betroffen sind – und die ausserdem eine Fachexpertise haben. Nicht einfach irgendeine dunkelhäutige Person, die sagt: «Es ist gar nicht so schlimm», und das dann als Beweis nehmen: «Ah, seht ihr?»


Eine Kollegin sagte kürzlich genau das: «Ich habe einen dunkelhäutigen Kollegen, den stört dies und das auch nicht.»
Klar gibt es das, natürlich, wieso auch nicht? Genauso gibt es ja Frauen, die gern Hausfrau sind – das ist auch kein Beweis, dass es keinen Sexismus gibt.


Ein Freund von mir sagt immer: «Hey, wenn es sexistisch ist, ist es nicht an dir, etwas dagegen zu tun, sondern an den anderen, damit aufzuhören.» Nicht die «Opfer» müssen sich wehren, sondern die «Täter» damit aufhören.
Genau. Ich versuche das selber ja auch umzusetzen, wenn ich auf Leute treffe, die auf eine Art diskriminiert werden, die ich nicht kenne. Wenn jemand zu mir sagt: «Hey, du hast mich jetzt übergangen» oder «Du hast mich unsichtbar gemacht», dann versuche ich, das zu ändern. Dafür muss ich nicht bei der Person nachfragen, was ich jetzt tun soll. Ich kann mich informieren, es gibt zahlreiche Sites, viele gute Bücher zum Thema. Und ich kann mich selbst immer wieder hinterfragen: Was ist meine Position in der Welt, und welche Privilegien habe ich?


Was ist meine Rolle als Journalistin?
Ihr habt die Verantwortung, die Vorstellung zu verändern, die Nationalität mit Aussehen oder Namen verknüpft. Ihr habt die Macht, Sichtbarkeit zu schaffen, neue Deutungsmuster zu entwickeln und anderen Menschen eine Stimme zu geben. Das muss nicht nur in den Medien passieren, sondern überall. Dann wird die Welt zwar plötzlich wahnsinnig viel komplexer. Aber sonst schliessen wir die Mehrheit der Menschen aus und erhalten eine Welt, die vor allem für weisse heterosexuelle Männer passt. Das heisst nicht, dass man ihnen etwas wegnehmen will. Es geht einfach darum: Alle sollen gleich anständig leben können. Und alle sollen gehört werden.

Zur Person

Yuvviki Dioh, 29, ist Kommunikationswissenschaftlerin und Aktivistin. Sie forscht an der Universität Zürich zum Thema Flüchtlingsberichterstattung im internationalen Vergleich und engagiert sich im Kollektiv Bipoc.Woc.

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