Die Haare, das Lachen, ihre ganze Erscheinung: Wo sie auch ist, zieht Yvonne Apiyo Brändle-Amolo die Blicke auf sich. Wegen eines Polizisten zog die Tochter einer kenianischen Ingenieurs-Familie einst in die Schweiz.

Übers Jodeln fand sie Anschluss ans hiesige Dorfleben und machte Schlagzeilen als «Das schwarze Heidi»: eine dunkelhäutige Frau, die Tracht trägt und an Schwing- und Älplerfesten mitfeiert!

Heute ist die 44-Jährige SP-Gemeindeparlamentarierin in Schlieren und arbeitet als diplomierte interkulturelle Mediatorin. Nach dem gewaltsamen Tod des US-Amerikaners George Floyd ging auch sie auf die Strasse: «Um Solidarität zu zeigen, aber vor allem weil wir People of Color auch in der Schweiz täglich von Rassismus betroffen sind.»


Beobachter: Wie erleben Sie Rassismus persönlich?
Yvonne Apiyo Brändle-Amolo: Da gäbe es hunderte Beispiele. Als ich 2015 zusagte, in Oberengstringen die Rede zum 1. Augustfest zu halten, wurde mir Hundekot zugeschickt! Typischer aber sind andere Vorfälle wie dieser: Vor zwei Jahren half ich als Mitglied des Chilbi-Clubs Schlieren während der Chilbi im Festzelt. Eine Gruppe Männer und Frauen erkannte mich als Politikerin und wollte ein wenig schwatzen. Sie stellten sich vor, es war nett. Einer von ihnen fing aber plötzlich an, mich «Negerli» zu nennen. Ich sagte, dass ich das nicht lustig finde, sondern diskriminierend, er solle bitte damit aufhören. Er aber machte einfach weiter. Irgendwann wandte ich mich an seinen Freund, einen Polizisten, den ich vom Sehen kannte, und bat ihn, seinem Kumpel zu sagen, er solle aufhören mich zu beleidigen. Er sagte nur, «sei doch nicht so empfindlich».

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Das hat sie noch mehr verletzt als die Beleidigungen?
Ja. Ein Nicht-Betroffener sagt mir, der Betroffenen, wie ich zu fühlen habe. Weisse sagen Schwarzen, was Rassismus ist und was nicht. Meine Gefühle sind weniger wert, ihre Gefühle mehr. Das ist Rassismus – auch wenn das dem Gegenüber, hier dem Polizisten, vielleicht gar nicht bewusst ist.


Geht die Diskussion um Mohrenköpfe in die gleiche Richtung?
Im Kern schon, auch wenn man die Bedeutung der Begriffe «Negerli» und «Mohrenkopf» nicht miteinander vergleichen kann. «Neger» ist immer rassistisch, «Mohrenkopf» als Bezeichnung eines Schokogebäcks für sich allein nicht. In Verbindung mit früheren Abbildungen von Schwarzen auf Schokopapier oder Getränkeverpackungen und im Zusammenhang mit früheren Mohren-Darstellungen ist das Wort für mich aber negativ besetzt. Ich leide darunter, und viele andere People of Color auch. Warum ändern wir dann nicht den Namen für dieses Schokogebäck? Es ist doch nur ein Name! Hier zeigt sich, dass es um Macht geht. Die Mohrenkopf-Verteidiger sagen: Wir lassen uns nicht vorschreiben, wie wir Schokoerzeugnisse benennen. Wir bestimmen selber, was rassistisch ist und was nicht. Dieses Privileg hatten sie bisher und jetzt verteidigen sie es.
 

«Bitte, informiert euch zuerst – dann können wir reden.»

Yvonne Apiyo Brändle-Amolo

Wie können Weisse mit People of Color über Rassismus diskutieren?
Es ist schwierig. Es gibt das berühmte Buch der englischen Autorin Reni Eddo-Lodge mit dem Titel: «Warum ich mit Weissen nicht über Hautfarbe rede.» Was sie da beschreibt, empfinde ich auch. Ich will nicht mit Weissen über Hautfarbe reden, weil es mich so ermüdet, ihnen immer und immer wieder meine Empfindungen klarzumachen. Für Weisse ist ihre Hautfarbe etwas ganz anderes als für uns. Weisse haben nie erlebt, wie es ist, wegen der Hautfarbe benachteiligt zu werden Flüchtlinge «Stammtisch sieht nicht, wie verletzt sie sind» . Weisse können sich keine Vorstellung davon machen, was es bedeutet, schwarz zu sein in einer Welt, in der weiss als normal gilt und alles andere als abnormal.


Dann dürfen Weisse beim Thema Rassismus nicht mitreden?
Doch. Aber ich wünsche mir, dass sie sich öfters zuerst informieren würden und nicht einfach aus ihrem ersten Impuls heraus argumentieren. «Was, das soll rassistisch sein? Nein, das stimmt doch nicht! Schau, es ist so und so ...» solche Antworten höre ich oft. Ihr wart noch nie von Rassismus betroffen! Darum bitte, informiert euch über die Strukturen von Rassismus, über seine Geschichte, hinterfragt euch kritisch – dann können wir reden.


Sollen Weisse an Black-Lives-Matter-Kundgebungen teilnehmen?
Unbedingt. Wir brauchen Verbündete, die unsere Anliegen in weitere Kreise tragen. Die Tochter der Familie Meier, die gegen Rassismus demonstriert und das Thema mit ihren Eltern diskutiert, hat mehr Einfluss auf deren Denken, als das People of Color jemals vermögen.
 

Sie waren neun Jahre lang mit einem Schweizer Polizisten verheiratet. Haben Sie mit ihm über Polizeigewalt und Racial Profiling gesprochen?
Ich musste das nicht ansprechen, er hat das selber mitbekommen, andauernd. Im Zug zwischen Lugano und Zürich haben mich die Grenzbeamten jedes Mal kontrolliert. Bei jeder Auslandreise wurde ich am Zoll rausgepickt. Oder im Kleiderladen: Einmal hat die Verkäuferin vergessen, eine Diebstahlsicherung zu entfernen und der Alarm ging los. Der Sicherheitsmann wollte sofort die Polizei Schweizer Polizei und Rassismus «Bei uns ist Polizeiarbeit auch soziale Arbeit» holen, glaubte mir trotz Quittung nicht. Erst als mein Mann herankam und sagte, das müsse ein Versehen sein, glaubte er ihm.


Gibt es einen spezifischen Rassismus gegen Schwarze in der Schweiz?
Ja. Rassismus ist wie gesagt eine Machtfrage, und wir Schwarzen sind auf der untersten Stufe. Das war schon immer so. Die Gründe gehen weit in die Geschichte des Kolonialismus zurück. Man muss unterscheiden zwischen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Fremdenfeindlichkeit richtet sich gegen das Fremde, Rassismus gegen den Menschen in seiner ganzen Existenz, er ist nicht fremd, sondern weniger wert. Fremde können irgendwann nicht mehr fremd sein, rassistische Stereotypen aber bleiben. Ob Italiener Gastarbeiter-Kinder in der Schweiz Verboten, versteckt und abgeschoben , Portugiesen, die Menschen vom Balkan, ja sogar die Tamilen – alle wurden irgendwann als Teil der Schweizer Gesellschaft anerkannt. Wir Schwarze noch immer nicht.


Aber sind nicht gerade Sie der Gegenbeweis? Sie sind Politikerin, Sie singen im Jodelchor, Sie treten als Rednerin auf und werden ins Fernsehen eingeladen – sie sind doch Mitglied der Schweizer Gesellschaft.
Aber ich höre immer wieder: du gehörst nicht zu uns. An jedem Schwingfest kommt das vor, aber auch in Vereinen, in der Politik. Ich bin auf dem Papier eine Schweizerin. Aber ich bin hier nie eine Frau, eine Politikerin, eine Jodelchorsängerin, sondern immer eine schwarze Frau, eine schwarze Politikerin, eine schwarze Jodelchorsängerin. Es stimmt, viele freuen sich, wenn ich eine Tracht anziehe oder wenn ich jodle – aber ist das nicht normal, wenn sich jemand aus dem Ausland für die Bräuche der Einheimischen Ausgrenzung Vom Überleben auf dem Dorfe interessiert? Dem gegenüber stehen jedes Mal Leute, die laut herauslachen, wenn ich jodle, obwohl ich nicht schlechter jodle als sie. Oder Frauen, die ihren Männern verbieten, mit mir zu singen.
 

«Schwarze Frauen wollen immer Sex – sogar manche Frauen glauben das!»

Yvonne Apiyo Brändle-Amolo

Nehmen Sie noch an Älplerfesten teil? Hat sich ihre Begeisterung für das Schweizer Brauchtum verändert durch all ihre Erfahrungen?
An Feste gehe ich seltener als früher, aber ich jodle immer noch gerne. Für mich war das ein Weg, Anschluss zu finden in der Schweiz. Das hat geklappt. Ich hatte viele schöne Erlebnisse, ich habe viel gelernt und ich glaube, viele Leute aus der Schwing- und Älplergemeinde haben auch viel von mir gelernt. Manche hatten noch nie mit einem Menschen meiner Hautfarbe gesprochen, haben Kauderwelsch mit mir geredet und mir ungefragt in die Haare gefasst. Ich habe ihnen dann erklärt, dass ich das nicht mag und warum ich es nicht mag. Ich hoffe, das machen sie seither bei anderen People of Color nicht mehr.


Wie hat die People-of-Color-Gemeinde auf ihre Auftritte in der Schweizer Tracht reagiert?
Die fanden das mehrheitlich gut, auch wenn manche sagten, ihre Sache wäre das nicht. Aber das muss es auch nicht. Nicht so glücklich waren einige mit der Bezeichnung «Das schwarze Heidi». Sie sagten, du bist eben nicht Heidi mit schwarzer Haut, sondern Yvonne aus Kenia, die gerne Schweizer Trachten trägt, weil sie sich darin gefällt, und nicht, weil sie ein Schweizer Heidi sein will. Das hat etwas, obwohl mich die Bezeichnung als «Heidi» nie gestört hat.


Wie oft wurden sie als «Das Schwarze Heidi» mit Sex-Fantasien weisser Männer konfrontiert?
Sehr oft. Aber nicht nur in der Tracht. Das geschieht überall, fast täglich. Die Sexualisierung der schwarzen Frau ist eine der schlimmsten Formen von Rassismus. Schwarze Frauen wollen immer Sex, sind immer auf Männer aus – sogar manche Frauen glauben das! Und Männer begrapschen uns, rufen Anzüglichkeiten in aller Öffentlichkeit. Auch Männer aus der «guten Gesellschaft» stecken uns Zettel mit ihren Koordinaten zu, was sie sich bei weissen Frauen nie getrauen würden.


Ist der Rassismus auf dem Land stärker als in der Stadt?
Er ist anders. Auf dem Land, an Dorffesten etwa, beschimpfen mich manche offen als «Negerin» oder sagen: «Hau ab, geh zurück, wo du herkommst.» Gerade Kinder Rassismus Jeder ein kleiner Nazi? sagen das. Kinder in der Stadt wissen, dass sie das nicht sagen dürfen. Sie werden das zuhause auch nicht so hören. Aber strukturellen Rassismus gibt es in der Stadt genauso: Dass unsere Kinder in der Schule schlechter eingestuft werden, dass wir keine Wohnung finden, dass wir mit Stereotypen behaftet werden. Für mich ist dieser Rassismus schlimmer zu ertragen, weil ich ihn kaum bekämpfen kann. Wenn mich jemand beleidigt, trete ich ihm entgegen. Und manchmal helfen mir andere dabei, solidarisieren sich mit mir. Gegen verdeckten, institutionellen Rassismus aber bin ich machtlos. Wenn ich sage, dass es ihn gibt, heisst es: «Das stimmt nicht. Hast du Beweise dafür?»
 

«Ich kämpfe gegen Rassismus in der Schweiz, nicht gegen die Schweiz.»

Yvonne Apiyo Brändle-Amolo

Sie sind seit fast zwanzig Jahren in der Schweiz. Hat sich die Situation für People of Color in dieser Zeit verbessert oder verschlechtert?
Sie hat sich nicht verbessert. Positiv ist, dass im Moment, endlich, endlich über das Thema Rassismus geredet wird, auch in der Schweiz. Viele Menschen setzten sich ernsthaft damit auseinander, die Medien berichten, Wörter werden hinterfragt, historische Persönlichkeiten kritischer betrachtet. Die Frage ist, was daraus folgt.


Was kann die Politik tun?
Politiker könnten strengere Gesetze gegen Racial Profiling erlassen. Oder eine Quote für People-of-Color im Parlament einführen. Quoten sind nie etwas Schönes, sie widersprechen unserem Verständnis von Demokratie, aber Minderheiten brauchen sie manchmal, damit ihre Anliegen von der Mehrheit gehört werden.


Diese Frage haben Sie sicher schon oft gehört: Wenn Sie so viel Rassismus erfahren haben in der Schweiz – warum bleiben Sie dennoch hier?
Ich kam wegen der Liebe in die Schweiz, ich bin wegen der Liebe in der Schweiz geblieben. Es ist ein tolles Land mit vielen wunderbaren Menschen. Ich kämpfe gegen Rassismus in der Schweiz, nicht gegen die Schweiz. In den fast 20 Jahren, die ich hier lebe, ist die Schweiz meine Heimat geworden. Und wenn etwas nicht gut läuft an dem Ort, den man liebt, dann will man das ändern. Das ist doch normal.
 

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Raphael Brunner, Redaktor
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