Es geht abwärts: Jugendliche verprügeln sich betrunken im Ausgang, stehen im Zug nicht mehr auf, wenn sich eine ältere Dame setzen will. Während der Arbeit hängen sie ab, sind in Gedanken bereits an der nächsten Party, von der sie dann eine Abfallspur nach Hause ziehen. Und natürlich arbeiten längst nicht alle, die könnten.

Der Stammtisch lästert und Politiker warnen: Wo sind unsere Werte geblieben? Einmal ist es die fehlende Solidarität, die beklagt wird, dann die Eigenverantwortung, die schwindet. Immer aber fehlt es am nötigen Anstand.

Partnerinhalte
 
 
 
 

Doch stimmt das auch? Sind unsere traditionellen Werte wertlos geworden? Haben die zehn «Du sollst» ausgedient? «Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.» Viele denken heute so. Geschrieben hat es der Philosoph Sokrates, vor 2400 Jahren. Ist also doch alles beim Alten geblieben? Ist der beklagte Wertezerfall nicht mehr als ein beständiges Vorurteil, mit dem sich Erwachsene über ihre verblichene Jugend hinwegtrösten?

Religion, Tradition: Nur für wenige wichtig

Der Beobachter wollte genauer wissen, welche Werte der Schweizer Bevölkerung wichtig sind, welche an Bedeutung gewinnen und welche gefährdet sind. Das Meinungsforschungsinstitut Konso hat dazu 1000 Personen telefonisch befragt.

Das Resultat: Am wichtigsten sind uns Gesundheit, Familienleben und persönliche Sicherheit – vor allem finanzielle. Alles Werte, die laut den Befragten an Bedeutung gewonnen haben. Wichtiger geworden ist auch die Pflege von Freundschaften.

Eine Rückbesinnung aufs Private also, ein Abschied von Werten, die für das gesellschaftliche Zusammenleben wichtig wären? Keineswegs: Fast ebenso oft nannten die Befragten Respekt, Wertschätzung und Toleranz – Werte, die allerdings als gefährdet eingeschätzt werden. Gleiches gilt für die allgemeine Friedfertigkeit und die Sorge um die Umwelt. Auch ein Schwinden der Ehrlichkeit und der Verlust der Solidarität werden erwähnt.

Die Konso-Umfrage (siehe Artikel zum Thema) bestätigt einen Bruch mit althergebrachten Wertesystemen: Religion und die Pflege von Traditionen empfinden nur noch wenige als wichtig. Und falls doch, sehen sie diese Werte bedroht.

Offenbar gewinnen jene Werte an Bedeutung, die unser engeres Lebensumfeld betreffen. Drei Gründe: Die Wirtschaft ist globalisiert und scheint unkontrollierbar, das Vertrauen in die Politik schwindet und die Gesellschaft zersplittert immer stärker. Das Bedürfnis jedes Einzelnen nach Kontrolle, Überschaubarkeit und Verbundenheit kann im persönlichen Umfeld besser befriedigt werden. Und die gefährdeten Werte Respekt und Toleranz werden dort eher erfahren – oder können zumindest besser eingefordert werden.

Findet also ein «Rückzug ins Private» statt, weil zentrale Werte in einem grösseren gesellschaftlichen Zusammenhang verlorengehen? Wie sich die aktuelle Wirtschaftskrise auf das Wertesystem auswirkt, hat die Bertelsmann-Stiftung in Deutschland untersucht. Die im November veröffentlichten Ergebnisse decken sich mit der Beobachter-Umfrage. Familie, Partner und Freunde haben an Bedeutung gewonnen. Einkommen, Wohlstand und Sicherheit sind wichtiger geworden. Kaum verwunderlich: Am schwersten gelitten hat das Vertrauen in die Wirtschaft. Nur noch jeder Dritte glaubt, dass es hier um mehr geht als um kurzfristige Gewinne.

Werteverlust seit den sechziger Jahren

Doch ist der Rückzug ins Überschaubare mehr als eine kurzfristige Reaktion auf die Krise? Um diese Frage zu beantworten, braucht es Vergleiche über Jahrzehnte.

Zum Beispiel die Studie «Werte und Lebenschancen im Wandel», die Befragungen von Schweizer Jugendlichen aus den Jahren 1979, 1994 und 2003 ausgewertet hat. Nach dem Trend «Weg von Gehorsam, stabilen und vorgegebenen Werteordnungen», der seit Ende der sechziger Jahre hin zu «mehr Freiheit, Autonomie, Selbstverwirklichung, Toleranz und einer Hochschätzung des alltäglichen Lebens» führte, erkennen die Autoren seit Ende der siebziger Jahre grundsätzlich viel Stabilität.

«Lebensfragen mit einem stärkeren Ich-Bezug haben gegenüber solchen mit mehr philosophischem Charakter etwas an Bedeutung gewonnen», fasst Ruth Meyer, emeritierte Soziologin der Universität Bern, die Entwicklung über die untersuchte Zeitperiode zusammen. So hätten die Fragen nach Gott oder der Gerechtigkeit auf der Welt an Bedeutung verloren, jene nach dem richtigen Partner, nach finanzieller Sicherheit und Erfolg im Beruf gewonnen.

Ein Hinweis, dass die Privatisierung der Werte weder eine Modeerscheinung noch eine kurzfristige Reaktion auf die Wirtschaftskrise ist. Wenn sich immer mehr Menschen um Ich-Fragen kümmern, interessieren sie sich dann weniger für gesellschaftliche Werte? Seit den sechziger Jahren stellen deutsche Forscher um Elisabeth Noelle-Neumann einen allgemeinen Werteverlust fest. Konformitätswerte wie Gehorsam, Pflichterfüllung oder Fleiss sind bis in die neunziger Jahre verlorengegangen, wodurch eine weitreichende Unsicherheit über noch verbindliche Werte entstand. Die Menschen begannen ziellos zu fluktuieren, flogen wie Bienen von Blüte zu Blüte. Freizeitwerte gewannen an Bedeutung.

Das Ende der «Generation Ich»

Die Entwicklung gipfelte in einer hedonistischen, genussorientierten Spassgesellschaft, in der jegliche Individualität zum Wert wird. Individualisten in Casting-Shows urteilen über den Wert anderer Individualisten. Peinlichkeit und Unvermögen sind kein Hindernis, sondern eine Chance, unterhaltsam zu sein. Und wer nicht gecastet wird, kann sich in immer ausgefalleneren Sport- und Fun-Aktivitäten bestätigen.

Doch das war gestern, so die Erkenntnis der Werteforscher. Im neuen Jahrtausend, spätestens seit der aktuellen Wirtschaftskrise, scheint sich etwas zu bewegen. Wohin geht die Reise? Einige diagnostizieren bei Jugendlichen die Auferstehung traditioneller Werte wie Höflichkeit und Anstand. Errungenschaften, die seit den fünfziger Jahren beständig schwanden. Und: Der Generationenkonflikt ist verschwunden. Jugendliche und ihre Eltern teilen heute weitgehend dieselben Werte.

Der deutsche Soziologe Helmut Klages wehrt sich allerdings gegen die Vorstellung, alte Werte würden jetzt einfach ihr Revival erleben. Vielmehr will er einen neuen Persönlichkeitstyp gefunden haben, der sich über die vergangenen Jahrzehnte zum bestimmenden Vertreter der Gesellschaft entwickelt hat: Der «aktive Realist». Ihm gelingt es locker, moderne und traditionelle Werte zu vereinigen. Er handelt als «kooperativer Selbstvermarkter» und hat keine Probleme, Lebensgenuss mit einer engagierten Arbeitseinstellung zu vereinbaren. Spätestens seit Ende der neunziger Jahre stellen laut Klages die «aktiven Realisten» die Mehrheit unter den bis 30-Jährigen. Ihnen folgen die «hedonistischen Materialisten», die «nonkonformen Idealisten» und abgeschlagen die Gruppe der «perspektivlos Resignierten» und der «ordnungsliebenden Traditionalisten».

Doch ist mit Realisten und Genussmenschen Staat zu machen? Ein weiter rückläufiges Interesse an der Politik, vor allem bei der jüngeren Generation, hat im September die 14. Shell-Jugendstudie festgestellt. Und: «Die Jugendlichen sind pragmatisch. In einem Wertecocktail mixen sie, was ihnen gerade passt: Fleiss und Macht, Familie und Sicherheit, Kreativität und Lebensstandard – alles geht gleichzeitig.»

Ist diese Generation fähig, gesellschaftliche Probleme zu lösen? Der Hamburger Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski ist zuversichtlich. Der Tanz der Jugend ums eigene Ego sei vorbei, das Motto der neunziger Jahre, keine Bindungen einzugehen, ewig flexibel zu sein, überholt. Und weil sich Bürger von den Politikern getäuscht und von der Wirtschaftswelt betrogen fühlen, steige das Vertrauen in sich selbst und in die Mitmenschen.

Eine Entwicklung, die Firmen bei ihren Kunden feststellen. Diese agieren immer mehr im Kollektiv, kommunizieren über ein eigenes Vertrauenssystem, auf Foren- und Rating-Seiten im Internet.

Netzwerke, die durchs Leben begleiten

Vielleicht werden es vermehrt soziale Internet-Netzwerke wie Facebook sein, die familienartige Bedeutung erlangen, reale Freundschaften ersetzen, den Rückzug ins Private relativieren. Solche und traditionelle Netzwerke könnten zu einem Reservoir für Vertrauen werden und das Entstehen neuer, geteilter Werte ermöglichen – auch über Kulturgrenzen hinaus.

Zukunftsforscher Opaschowski nennt solche Netzwerke «soziale Konvois», die Menschen durch das Leben begleiten. Und er erinnert an die Zehn Gebote aus dem Alten Testament, ein Wertekanon, der von Christen, Juden und Muslimen gleichermassen geschätzt wird. In einer Umfrage des «Playboy» von 2006 antwortete immerhin mehr als ein Fünftel der Befragten, auf keines der Zehn Gebote verzichten zu wollen. Richtig schlecht schnitt nur das siebte Gebot ab: «Du sollst nicht ehebrechen.»

Opaschowski reicht zehn weitere Prinzipien nach, die das Zusammenleben im 21. Jahrhundert erleichtern sollen (siehe links oben). Ob er damit je den Stellenwert von Moses erlangen wird, bleibt fraglich. Jedenfalls muss er dafür nicht auf die Anerkennung durch die Kirchen warten. Sie werden gemäss den meisten Umfragen weiter an Bedeutung verlieren.