Das Heim muss warten
Die Pandemie wütet in Alters- und Pflegeeinrichtungen. Viele Betagte warten deshalb mit dem Eintritt ins Heim. Das schafft neue Probleme.
Veröffentlicht am 18. Dezember 2020 - 09:38 Uhr
Der Corona-Tod geht um in den Alters- und Pflegeheimen. Die Liste wird mit jedem Tag länger: 14 Todesfälle wegen Covid-19 im Alterszentrum Weinfelden TG, sechs in der Altersresidenz «Am Schärme» in Sarnen OW, 15 am Virus Verstorbene in der «Sonnweid» in Wetzikon ZH.
Von den über 2500 Menschen, die im Oktober und November in der Schweiz an Covid-19 gestorben sind, lebte mehr als die Hälfte in Alters- und Pflegeheimen. Das war leider zu erwarten: Die meisten dort sind über 80, viele leiden an Mehrfacherkrankungen und haben eine geschwächte Immunabwehr.
Belastet das nicht auch noch den Ruf der Heime? «Wenn Menschen in einem Pflegeheim an Covid-19 sterben, kann das nur dann ein Imagekiller für uns sein, wenn der Tod tabuisiert wird», relativiert Markus Leser. Er ist Geschäftsleitungsmitglied von Curaviva, dem Dachverband der Alters- und Pflegeheime in der Schweiz. Nüchtern sieht es auch Joël Quirino von den Pflegezentren der Stadt Zürich: «Die jetzige Situation hilft uns natürlich nicht – auch wenn in der Gesellschaft oft noch sehr alte Bilder von Alters- und Pflegeheimen vorherrschen.»
«Leicht unter den Erwartungen»
Eine Folge der Pandemie: Die Betten bleiben länger leer. «Die Todesfälle wirken sich auf die Belegungsrate aus. Aktuell beträgt sie 90 Prozent», sagt Arnaud Schaller, Direktor des Walliser Heimverbunds Avalems. Seine Institutionen waren schon von der ersten Welle stark betroffen. Jetzt füllen sich die Betten nicht mehr so schnell. «Je nach epidemiologischer Situation werden die Heimeintritte zurzeit auch ausgesetzt.» In welchem Ausmass, kann Schaller allerdings nicht sagen. Bei der privaten Tertianum-Heimgruppe spricht man von einer «Belegung regional aktuell leicht unter den Erwartungen», ohne konkrete Zahlen zu nennen.
Eintritte ins Heim sind zum Seismografen der Corona-Angst geworden. In den Stadtzürcher Alterszentren ging die Belegung innert Jahresfrist um 3,1 Prozentpunkte zurück, bei den Pflegezentren um 2,3 Prozent. Das deckt sich mit den Ergebnissen einer Umfrage, die Curaviva im Sommer bei seinen Mitgliedern durchgeführt hat. Danach sank die Belegung von Februar bis Juni landesweit um 3 Prozentpunkte. Mit dem Abschwellen der ersten Welle kam es zwar wieder zu mehr Eintritten. Was die viel gravierendere zweite Welle aber auslöst, wird man erst Anfang 2021 wissen. Nur so viel: Vor einem Jahr lebten 92'654 Personen in Schweizer Alters- und Pflegeheimen, die Belegungsquote lag damals bei 92,5 Prozent.
Welche Folgen hat es, wenn Betagte ihren Eintritt ins Heim hinauszögern? «Die Versorgungskette ist belastet. Die häusliche Pflege muss das auffangen», sagt Avalems-Direktor Arnaud Schaller.
Körperlicher und psychischer Abbau
Das bedeutet im Einzelfall eine grosse Herausforderung. Denn die Einschränkungen durch das Alter werden nicht weniger, wenn man nicht ins Heim will. Der Körper will nicht mehr, die Besorgungen fallen immer schwerer, die Vergesslichkeit nimmt zu, die Kontakte zur Familie und zu andern nehmen ab.
Viele Hochbetagte können nicht mehr so gut auf sich achtgeben, viele ernähren sich nur mangelhaft, was den körperlichen Abbau noch beschleunigt. Viele vereinsamen immer mehr, das belastet die seelische und physische Gesundheit zusätzlich. Wer nicht mehr aus dem Haus kann und keine Besuche erhält, verkümmert. «Wenn der Heimeintritt hinausgezögert wird, überfordert das die meisten Betroffenen und ihre Angehörigen», stellt Markus Leser von Curaviva nüchtern fest.
Hinzu kommt, dass Covid-19-Ansteckungen die Spitex-Dienste, Nachbarschaftshilfen und andere gemeinnützige Organisationen ohnehin schon stärker in Anspruch nehmen. Wie viele Mitarbeitende der Spitex, der grössten Betreuungsorganisation, bisher positiv auf Covid-19 getestet wurden, ist nicht erfasst. Zahlen gibt es zur Quarantäne für die Spitex Waadt. Ende November waren dort 100 Spitex-Mitarbeitende und 300 Klienten in Quarantäne.
«Oft ist die Spitex der einzige Kontakt, den alleinstehende Menschen haben», sagt Francesca Heiniger von Spitex Schweiz. 39 Prozent der Spitex-Klientinnen und -Klienten seien über 80. Sie gelten in der Pandemie als Risikopersonen, müssen deshalb ihre Kontakte einschränken oder sie ganz meiden. Das wirke sich negativ auf das Wohlbefinden aus.
Corona schlage auf die Psyche und damit mittelfristig auf die Gesundheit, bestätigt Tatjana Kistler von Pro Senectute. Die Nachfrage nach Besuchen zu Hause, nach Fahrdiensten und Leistungen im Haushalt sei gestiegen.
Die Angst, dass man sich im Heim anstecken könnte, schlage ebenfalls aufs Gemüt. Die Folgen dieser Vorbehalte dürfe man aber nicht überschätzen. «Wenn der Pflegebedarf gross ist, wird die Expertise der Alters- und Pflegeheime nach wie vor geschätzt.» Wichtig sei es, dass «der Spagat zwischen dem Schutz der Bewohner und dem Bedürfnis nach sozialen Kontakten gelingt».
Soziale Kontakte seien bis in die letzte Lebensphase wichtig. Gerade weil sich viele Bewohner ganz bewusst und mit einer Patientenverfügung für das Lebensende im Heim entscheiden. Oder wie es Markus Leser vom Heimverband Curaviva formuliert: «Sie ziehen Palliative Care in der Institution einer intensivmedizinischen Behandlung vor.»
Knapp drei Viertel der über 80-Jährigen in der Schweiz leben aber zu Hause. Um sie bedarfsgerecht betreuen und den Übertritt ins Heim hinauszögern zu können, entstünden gemäss einer Studie von Pro Senectute Kosten von bis zu 5,6 Milliarden Franken pro Jahr. Jetzt, in der Pandemie, dürften sie noch höher sein.
Die gemeinnützige Terz-Stiftung, die ältere Leute unterstützt, hat im Mai drei Szenarien entworfen für die Zukunft der Alters- und Pflegeheime in Corona-Zeiten. Nachdem die zweite Covid-19-Welle viele Institutionen massiv getroffen hat, gilt das dritte Szenario – das pessimistische:
- Es komme zu vielen Konkursen in der Wirtschaft, und die Steuereinnahmen sänken stark. Das ist bisher jedoch nicht eingetroffen.
- Heime müssten wie schon im letzten Frühling geschlossen werden. Auch da versuchen die Institutionen, die totale Isolation zu verhindern.
- Neueintritte blieben aus, weil ältere Menschen nicht eingesperrt werden wollen.
- Wegen Unterbelegung müssten Stellen abgebaut werden.
- Spardruck bei gleichbleibenden Ansprüchen und wachsender Unzufriedenheit der Bewohner werde die Heimführung zunehmend belasten.
- Unterbelegung und hohe Fixkosten führten zu hohen finanziellen Defiziten.
- Der Konkurrenzkampf unter Heimen nehme zu.
- Die knappen finanziellen Mittel der öffentlichen Hand und bei privaten Betreibern würden Verteilkämpfe befeuern.
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1 Kommentar
Ich arbeite mit Seniorinnen und Senioren und unterstütze auch bei Heimeintritten. Es gibt noch einen weiteren Grund, warum der Heimeintritt hinausgezögert wird, der hier überhaupt keine Erwähnung findet.
Viele Heime haben eine Quarantäne-Pflicht, manche verlangen sogar, dass die Betagten bereits vor dem Heimeintritt zu Hause in Isolation gehen, bevor sie dann im Heim eintreten und 10 Tage in ihrem Zimmer bleiben müssen.
Das ist schon sehr hart, wenn man bedenkt, dass dieser Schritt für viele nicht einfach ist. Für die meisten ist es die letzte Station in ihrem Leben, dies sind sich alle bewusst. Jedoch fürchten sich viele vor der Einsamkeit, vor dem Alleine sein und es ist sehr einschneidend, wenn sie ihre Angehörigen in dieser schwierigen Phase nicht sehen können. Es ist im Übrigen auch für viele Angehörigen schlimm, die Liebsten gehen zu lassen und zu wissen, dass diese nun 10 Tage alleine sein werden. So kann ich momentan oft beobachten, dass die Familien nochmals alle Hebel in Bewegung setzen, um eine andere Lösung zu Hause zu finden.