Auf dem Esstisch thront ein Graureiher. Das Gefieder ummantelt mit Seidenpapier, die Flügel voll farbiger Nadelköpfe. Still steht der Vogel in der Sonne, bis der Leim zwischen seinen Federn trocken ist. Bis er im alten Glanz erstrahlt, den Artgenossen zum Verwechseln ähnlich. Dann haben es die Purtscherts geschafft: Sie haben den Tod wieder einmal ausgetrickst. 

Der Reiher hat Glück. Er darf in den hellsten Raum, weil die Sonne im Herbst nicht mehr so intensiv scheint. Weil das Trocknen oft Tage, manchmal sogar Wochen dauert. Die anderen Tiere stehen im Keller, auf dem Estrich, im Atelier. «Wir wollen die Präparate nicht ständig um uns haben. Unser Zuhause ist schliesslich kein Museum», sagt Anita Purtschert. Nach einer Tasse Kaffee – mehr liegt nicht drin, sonst zittern die Hände – macht sie sich auf zur Arbeit. 

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Der Weg ist kurz: raus aus der Tür, ein Schlenker ums Haus. Mitten durch den Garten, wo gelbgrüne Äpfel wie zerstreute Tennisbälle liegen. «Das war Merlot», sagt Anita, ihr Trüffelhund. Das Atelier steht wie ein kleiner Zwilling neben dem Wohnhaus – im gleichen Grün, mit weissen Fenstern. Nah am Bach, der durchs Klosterdorf St. Urban fliesst. Hier arbeiten Vater und Tochter. Er als Präparator, sie als Restauratorin. 

Ein Arsenal von Geräten

An diesem Montag schliesst die 26-Jährige das Atelier auf. Drinnen riecht es nach Leim und Farbe. An den Wänden hängen Bilder und Zeitungsartikel, von den Regalen starren schwarze Augen. Mäusebussard und Mauswiesel, Siebenschläfer und Schildkröte – die Tiere warten auf ein Lifting. Also bindet Anita Purtschert die fransigen Haare zurück und schlüpft in ihre «Scheube». Rückt Messer, Pinsel und Scheren zurecht und widmet sich dem heutigen Objekt.

Auf dem Pult steht ein Steinadler. Die Flügel angewinkelt, den Schnabel zum Schrei geöffnet. «Ein Sammler hat ihn online ersteigert. Er war nicht schlimm verhudlet, aber auch nicht mehr schön.» Die letzten zwei Tage habe sie das Tier gereinigt, kleine Löcher in den Krallen aufmodelliert und viele Federn wieder eingesetzt. Heute arbeite sie am Flügel weiter. «Der Knochen war fast freigelegt. Ich muss noch ein paar Federn anbringen und mit Trockenfarbe ausbessern.»

Auf einer Zeitung mischt sie Leim an und greift zum Umschlag mit den Federn. Vorsichtig hebt sie das Gefieder mit einer Nadel und platziert einen Hauch von Nichts. Die Federn seien in einer Ziegelstruktur angeordnet, wie bei einem Dach. «Es reicht nicht, kreuz und quer zu kleben», erklärt sie. Die Luzernerin muss ihre Tiere studieren, bevor sie mit der Arbeit beginnt. Oft restauriert sie heimische, manchmal aber auch exotische Arten: «Besonders spannend war ein Leopard mit Löchern und fehlenden Zähnen. Oder der sitzende Bär mit dem ausgeblichenen Fell! Einmal hatte ich einen Elefantenfuss, das war etwas freaky.» 

«Jedes bisschen Fleisch und Fett muss weg. Sonst haben wir später den Salat.»

Heinz Purtschert, Präparator

In der Schweiz gibt es nur noch wenige Präparatoren und Restauratorinnen. Berufseinsteigerinnen wie Anita können nur über ein Netz von Profis überleben, die ihnen das Handwerk vermitteln. «Das meiste habe ich von meinem Vater gelernt. Einen Lehrgang gibt es hier in der Schweiz nicht, dafür hätte ich nach Wien gehen müssen.» 

Wie auf ein Zeichen späht ein Gesicht durchs Fenster. Blaue Augen, breites Grinsen. Ein bisschen Anita, nur älter. «Eigentlich bin ich ja pensioniert», sagt Heinz Purtschert, als er ans Pult plumpst. «Eigentlich», weil das Leben weitergeht – und damit der Tod. «Die Aufträge stoppen ja nicht, nur weil ich alt bin.» In dieser Woche müsse er pressieren, «sonst mag i nid düre». Bald wird seine rechte Hand operiert. Eine Kapsel am Daumen, das komme vom Chrampfen. Schonen bringe jetzt auch nichts mehr, also klemmt der 65-Jährige ein Küchenmesser zwischen die Finger. Dann beugt er sich über einen kleinen Sperber mit geöffneter Brust.

Fachsimpeln in der Familie

Die Griffe sind geübt, die Schnitte gezielt. Vorsichtig löst Heinz die Haut vom Körper. Mit einer Schere durchtrennt er feine Knochen und hebt die Innereien in einem «Päckli» aus dem Vogel. Zuletzt geht es an die Feinarbeit. «Jedes bisschen Fleisch und Fett muss weg, sonst haben wir später den Salat.»

Will heissen: Der Vogel schimmelt, modert, verwest. «Viele denken, meine Arbeit sei eine Riesenmetzgerei», sagt Heinz und nickt mit dem Kopf zur Arbeitsfläche. «Und?» Nichts. Kein Tropfen Blut, kein übler Geruch. «Tiere stinken erst, wenn sie verwesen. Der Sperber landete kurz nach seinem Tod im Gefrierer.» 

Vater und Tochter haben verwandte, aber verschiedene Berufe. Der Präparator nimmt das Tier aus und bereitet es auf. Die Restauratorin behandelt das Präparat, sobald es in die Jahre gekommen ist. «Wir beraten uns oft, das Fachsimpeln macht Spass», sagt Heinz. Nur bei der Musik verstehe er seine Tochter nicht. «Ich brauche zum Beispiel Blues, Soul oder Funk bei der Arbeit», erklärt sie. «Und dieses komische Zeugs!» – «Du meinst Podcasts.» – «Furchtbar!» – «Das ist Conan O’Brien, Papi, ein Komiker.» Augenrollen, Lachen, Weitermachen. So läuft das bei den Purtscherts, so lief es schon immer.

Stundenlang sah sie beim Aufschneiden, Ausnehmen und Ausstopfen zu. Ohne Ekel, still auf dem Stuhl.

«Anita sass bereits bei mir, als sie so war», sagt Heinz und fährt mit der Handfläche auf Hüfthöhe. Ein Meitschi. Stundenlang sah sie beim Aufschneiden, Ausnehmen und Ausstopfen zu. Ohne Ekel, still auf dem Stuhl. Oft kamen Besucher vorbei: Freunde und Kunden, alte Männer mit Stumpen. Mal blieben sie zum Znacht, dann für ein Glas Wein. Sie sei nicht mit dem klassischen Rollenbild aufgewachsen, sagt Anita. Die Mutter hatte einen intensiven Job in der Pflege und arbeitete viel. Der Vater war im Homeoffice und kochte Zmittag. 

«Apropos.» – «Kei Ziit.» Heinz muss pressieren. «Also eigentlich bin ich ja pensioniert … Ist das Stevie Wonder?» – «Ja, das ist jetzt aber sicher gut!» – «Jaja, das ist gut.» 

Anita ist seit 2018 selbständig. Vom Handwerk leben kann sie aber nicht. Das sei ihr von Anfang an klar gewesen, deshalb habe sie die pädagogische Hochschule besucht. Inzwischen hat die 26-Jährige zwei Jobs: Restauratorin und Lehrerin. Mühsam? «Überhaupt nicht», winkt sie ab. Sie brauche diese Gegensätze: Zürich und St. Urban, die Stadt und das Land. Ihre winzige Wohnung, das Daheim bei den Eltern. Den quirligen Unterricht, das meditative Restaurieren. 

Sorge tragen zur Artenvielfalt

Manchmal kommen die Kontraste auch zusammen. «Ich spreche mit meiner Klasse viel über Biodiversität und die schwindende Artenvielfalt. Als Restauratorin will ich die Natur zumindest ein Stück weit bewahren», sagt sie und deutet aufs Fensterbrett. Da stehen zwei Wiedehopfe mit orangefarbener Irokesenfrisur. In der Schweiz sind die Vögel auf der Roten Liste. «Wir müssen mehr Sorge zur Umwelt tragen, damit wir auch in der Zukunft noch etwas davon haben. Meine restaurierten Präparate sollen nicht die einzigen Überbleibsel unserer einstigen Biodiversität sein.»

Es ist schon früher Nachmittag, als die Restauratorin ihr Werkzeug für eine Pause beiseitelegt und sich draussen an die Sonne setzt. Auf die Wiese, wo Merlot seine Äpfel sortiert. An den Schwimmteich, wo die Eisvögel manchmal nach Moderlieschen fischen. Wo drei dicke Kois an ihren rot lackierten Fingernägeln saugen. Oskar, Hugo, Ferdinand – quicklebendig. Auch gut.

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Jasmine Helbling, Redaktorin
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