«Ich wünsche mir mehr Vernunft von den Menschen»
Alphonse Salamin aus Düdingen FR ist das älteste Mitglied von Ärzte ohne Grenzen. Als psychologischer Berater hilft der 82-Jährige Notleidenden auf der ganzen Welt.
Aufgezeichnet von Lorena Castelberg:
Ich nehme gern neue Projekte in Angriff. Solange ich darin eine Verwirklichung finde, bleibe ich dran. Wenn beruflich kompetente, fitte Leute ihren Beruf mit 65 an den Nagel hängen, ist das reine Verschwendung. Der Zug fährt weiter, und weil es schön und interessant ist, dauern manche Reisen länger als andere.
2004 schloss ich meine Praxis für Psychotherapie. Dann verfasste ich wie ein Sekundarschüler einen Lebenslauf und ein Motivationsschreiben für Ärzte ohne Grenzen. Sie nahmen mich.
Bei unseren Einsätzen versuchen wir immer, lokale Helfer zu schulen. Wir fliegen nicht für ein paar Wochen ein und gehen dann wieder nach Hause. Die Wirkung würde sonst verpuffen. Zum Beispiel beim Einsatz gegen Ebola. Die Krankheit ist schwierig zu bekämpfen. Ärzte ohne Grenzen war lange die einzige Organisation, die etwas dagegen ausrichten konnte. Unser Wissen geben wir weiter an die Leute vor Ort.
«Ich kam einige Male an den Punkt, wo ich wusste: Ich muss nach Hause, ich kann nicht mehr.»
Alphonse Salamin, Katastrophenhelfer
Das Abenteuer liegt tief in mir. Ich freue mich auf Herausforderungen, obwohl ich natürlich weiss, dass ich Grenzen habe und sie mit dem Alter enger werden. Nach allem, was ich gesehen habe, wünsche ich mir mehr Vernunft von den Menschen. Ich kam einige Male an den Punkt, wo ich wusste: Es ist Zeit, nach Hause zu gehen, ich kann nicht mehr.
Wir von Ärzte ohne Grenzen wollen heilen. Zugleich werden wir Augenzeugen. Etwa im Bürgerkrieg in Sri Lanka, wo wir viel gehört und gesehen haben. Wir behandelten Patienten, die in einer Art Konzentrationslager gefangen gehalten wurden. 300'000 Menschen auf kleinstem Raum. Das ist natürlich auch für uns Helfer nicht immer einfach. Doch wir beurteilen Situationen, urteilen aber nicht. Schrecklich war allerdings der Zwiespalt, ob wir darüber berichten sollen – oder schweigen und helfen. Jene Gruppe, die sich für die Berichterstattung entschied, wurde am Tag danach aus dem Land verjagt.
Die Einsätze sind ganz unterschiedlich. 2005, einen Monat nach dem Tsunami, flog ich nach Indonesien. Ich sah, welcher Schmerz den Menschen nach der verheerenden Katastrophe geblieben ist. Er wird sie ein Leben lang verfolgen.
In Süden Nigers leiden im Herbst viele an Mangelernährung und Malaria. Während der Regenzeit vermehren sich die Malaria übertragenden Mücken, und die Zahl der Infektionen nimmt drastisch zu. In einem Kinderspital ist deshalb die Zahl der Patienten innerhalb weniger Wochen von 200 auf 700 gestiegen.
Problematisch sind die Fälle, in denen schwer mangelernährte und an Malaria erkrankte Kinder zu spät zu uns ins Spital kommen. Sie leiden unter fortgeschrittenen Symptomen, von denen sie sich manchmal nicht mehr erholen und sterben. Das alles löst bei Ärztinnen und Pflegern enormen Stress aus. In jedem Bett liegen drei kranke Kinder, vom Baby bis zum Vierjährigen, und rundherum sitzen oder liegen Angehörige. Das ist unerträglich.
Doch meine Einsätze haben mich mit unzähligen Begegnungen bereichert. Die Geschichten dieser Menschen sind unglaublich, sie zu hören belohnt mich hundertmal für das, was ich leiste. Ich gewinne so viel mehr, als ich geben kann.