«Bildung verändert Menschen»
Deutsch, Mathematik, Allgemeinbildung, Informatik – in einem Bündner Gefängnis drücken Verurteilte die Schulbank. Die Bildung soll zu einer besseren Resozialisierung beitragen. Wie funktioniert das?
aktualisiert am 14. August 2017 - 16:09 Uhr
Nikolai Kowalenko* sitzt als Erster im Klassenzimmer, zehn Minuten zu früh. Hinter ihm liegen zwei Jahre Haftstrafe, Delikt: Diebstahl. Vor ihm steht ein Blumenstrauss. Kowalenko hat ihn aus farbigem Papier gestaltet, die Technik hat er sich selbst beigebracht. Er will ihn der Lehrerin zeigen, ist stolz darauf. «Für meine Frau», erklärt er. Er ruft sie täglich an, sieht sie aber nie. Der Weg ist zu weit, doch die verbleibende Haftzeit kurz – so hofft er. Mitte August entscheidet die einweisende Behörde, ob der Moldawier nach zwei Dritteln seiner Haftzeit wegen guter Führung entlassen wird. Er ist nervös, raucht öfter als sonst, bleibt zuversichtlich. Nie hat er die Arbeit geschwänzt oder sich geprügelt.
Kowalenko ist einer von rund 100 Häftlingen in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Realta in Cazis. Es handelt sich um eine offene Anstalt: Die Haftstrafen der Eingewiesenen reichen von einigen Monaten bis zu wenigen Jahren. Da das Risiko einer Flucht als gering eingeschätzt wird, sind die Sicherheitsmassnahmen einfach. Jeden Donnerstagnachmittag besucht Kowalenko mit fünf anderen Männern drei Schulstunden bei Christina Wehrli. Zuerst wird Allgemeinbildung unterrichtet, dann wahlweise Deutsch, Mathematik oder Informatik auf Volksschulniveau.
Die Ausbildung folgt einem einheitlichen Lehrplan und soll zur besseren Resozialisierung der Gefangenen beitragen. «Bildung hilft Strafgefangenen, den Anstaltsalltag zu bewältigen und fördert die Persönlichkeitskompetenz. So können Inhaftierte nach der Entlassung besser am sozialen Leben teilnehmen und sich eher auf dem Arbeitsmarkt behaupten», erklärt Andy Tschümperlin, Leiter der schweizerischen Fachstelle Bildung im Strafvollzug (BiSt). Der Schwyzer, ehemaliger SP-Fraktionschef im Nationalrat, hat sich vor zwei Jahren beruflich neuorientiert, nachdem er überraschenderweise nicht wiedergewählt worden war. Nun ist er für die Umsetzung des Lehrplans «Bildung im Strafvollzug» verantwortlich. Dafür rekrutiert er Lehrer für die 28 Schweizer BiSt-Anstalten und begleitet sie. Für die Kosten kommen die Kantone auf – drei Franken pro Häftling und Tag. «Im Verhältnis zu den Kosten für einen Insassen in einer Haftanstalt ist das wenig», erklärt Tschümperlin. Dies hängt auch damit zusammen, dass das Schweizerische Arbeitshilfswerk (SAH), eine NGO, den Lehrpersonen tiefere Löhne auszahlt als marktüblich.
Bei Unterrichtsbeginn läutet keine Glocke. Der grosse Zeiger passiert die 12, die Tür steht offen, im Gang bleibt es still. Nikolai Kowalenko hat seine Blumen zurück aufs Zimmer gebracht und wartet auf die anderen Schüler. Vier sollen es heute sein, einer musste sich abmelden. Der Grund: In der Wäscherei sind wenige Eingewiesene, welche die gesamte Arbeit erledigen müssen. Nach drei Minuten stürmen zwei junge Männer ins Unterrichtszimmer. Sie sind gerannt, entschuldigen sich. Der Letzte taucht nicht auf, das muss dem Sicherheitsdienst gemeldet werden.
Christina Wehrli ist gut vorbereitet. Kurz vor Unterrichtsbeginn hat sie einen Blick in den Computer geworfen: Am Morgen ist nichts Aussergewöhnliches passiert – keine Unstimmigkeit, keine Schlägerei, kein Fehlverhalten. Trotzdem weiss sie nie, was sie erwartet. Mit der Gruppenzusammensetzung kann sich auch die Dynamik im Klassenzimmer stark ändern. Manchmal mögen sich die Männer, manchmal eben nicht. Wenn zu Hause etwas vorgefallen ist, sind sie traurig und können sich schlecht aufs Lernen konzentrieren.
Die Lehrerin war von Anfang an dabei – zusammen mit der Fachstelle Bildung im Strafvollzug feiert sie diesen Sommer ihr zehnjähriges Jubiläum. Davor hat sie beim RAV «Deutsch für fremdsprachige Arbeitslose» unterrichtet, aber auch schon als Primarlehrerin gearbeitet. Elterngespräche ist sie los, dafür vermisst sie manchmal die enge Zusammenarbeit mit anderen Lehrpersonen. In der JVA Realta ist sie auf sich gestellt. Zwar existiert ein Lehrplan, der Schulstoff der Oberstufenlehrmittel muss aber angepasst werden. Schliesslich interessieren sich Gefängnisinsassen nicht für dieselben Themen wie Oberstufenschüler. «Wir müssen Themen finden, die alle Eingewiesenen gleichermassen beschäftigen», so Christina Wehrli.
Nächste Woche wird das neue Lehrmittel «Deutsch im Strafvollzug» erscheinen. Es behandelt Themen rund um den Strafvollzug mit Schwerpunkten auf Sozialem und Umgangsformen. Die tägliche Kommunikation zwischen Eingewiesenen und Mitarbeitenden der Justizvollzugsanstalt wird dadurch erleichtert.
An diesem Tag wird über Geld und seinen Wert diskutiert – in der alten und in der neuen Heimat. Im Gefängnis verdienen die Männer ihr Geld in der Gärtnerei, Metzgerei, Wäscherei oder auf dem Bauernhof – je nach Bedarf und Fähigkeiten. Es fliesst in drei Töpfe: auf ein Sperrkonto, das die Häftlinge nach ihrem Austritt ausbezahlt bekommen, ein Freikonto für Urlaube und Bahnbillette und ins Portemonnaie. Über diese 40 Prozent des Verdienten dürfen die Häftlinge frei verfügen. Daraus kaufen sie Tabak, Kaffee, Zucker, Telefonkarten. «Man muss ständig sparen. In der letzten Woche des Monats sind wir immer pleite. Da ist niemand mehr am Kiosk. Verzichten kann man schlimmstenfalls auf alles», so Kowalenko. Sie müssen lernen zu planen, denn das Leben «draussen» ist teuer.
In Zeitungsartikeln lesen die Eingewiesenen, was eine Wohnung in den verschiedenen Kantonen kostet.
Nikolai Kowalenko: «So teuer? Für dieses Geld kaufe ich in meiner Heimat ein halbes Dorf!»
Christina Wehrli: «Dort verdienen Sie aber nicht so viel.»
Kowalenko: «Ja, leider. (Nach einer Pause) Dann will ich eine Wohnung im Tessin an Touristen vermieten und gleichzeitig in Afrika leben.»
Wehrli: «Weil es da günstig ist?»
Kowalenko: «Weil es da günstig ist. Und warm.»
Die Männer sprechen vom «hier» und vom «da», von «heute» und von «damals». «In meiner Heimat gab es keine Zukunft. Deshalb gab es auch kein Haus», erzählt Kowalenko. Aaron Mengistu* aus Eritrea und Salman Farah* aus Somalia lachen beim Gedanken an eigene Häuser. Sie sind noch nicht lange volljährig.
So reibungslos verlaufen Diskussionen in der ersten Unterrichtsstunde jedoch nicht immer. Oft prallen Welten aufeinander: verschiedene Kulturen, Religionen und Weltanschauungen. Als Christina Wehrli Nikolai Kowalenko fragt, ob seine Frau arbeitet – schliesslich muss sie zwei Kinder ernähren –, reagiert er mit Unverständnis.
Kowalenko: «Wieso sollte sie? Frauen erziehen die Kinder, Männer arbeiten.»
Wehrli: «In der Schweiz arbeiten viele Frauen, obwohl sie kleine Kinder haben.»
Kowalenko: «Das ist nicht gut für die Kinder. Frauen in der Schweiz wollen zu viel. Meine auch, seit sie Schweizer Freundinnen hat.»
Wehrli: «Inwiefern?»
Kowalenko: «Vor kurzem hat sie mich am Telefon gefragt, ob sie mit Freundinnen in die Disco gehen darf.»
Wehrli: «Sie haben Nein gesagt?»
Kowalenko: «Sicher, sie ist ja verheiratet! Wenn ich Ja sage, will sie immer noch mehr. Schweizer Männer haben ihre Frauen nicht im Griff, deshalb lassen sich alle scheiden. In Moldawien bleiben Ehepaare zusammen.»
«Gewisse Vorstellungen bleiben in den Köpfen verankert», erklärt Christina Wehrli. Da fehle oft das Verständnis – auf beiden Seiten. Und dennoch gehört zu einer gelungenen Resozialisierung auch die Integration ins soziale Leben eines Landes.
Nach der gemeinsamen Stunde Allgemeinbildung arbeiten die Eingewiesenen individuell. Jeder von ihnen hat ein Lernziel festgelegt, das er in seinem eigenen Tempo verfolgt: fehlerfrei schreiben, eine Informatikprüfung absolvieren oder Mathematik lernen, um den Kindern später bei den Hausaufgaben helfen zu können.
In der Vergangenheit hatten viele negative Erfahrungen mit Schulunterricht und Lehrern gemacht. In der JVA Realta macht der Unterricht meist Spass. «Ein junger Mann gestand mir vor kurzem, dass ich die Erste sei, die ihn je für eine schulische Leistung gelobt hätte», erzählt Christina Wehrli. «Ein anderer verriet mir im Flüsterton, dass er sich für seine schlechten Rechenkenntnisse schäme – die anderen würden ihn ständig hereinlegen.» Bei den Gefangenen ist die Lehrerin beliebt. Weil sie oft lächelt und sich nicht aus der Ruhe bringen lässt. Weil sie Schülern kurz vor dem Austritt Stelleninserate mitbringt und mit ihnen an Bewerbungen feilt – auch wenn das Thema im Lehrplan nur in der Allgemeinbildung vorgeschrieben ist.
Vor Aaron Mengistu liegt eine Stellenausschreibung: Ein Bündner Berghotel sucht eine Putzhilfe. Das Motivationsschreiben des Somaliers besteht aus wenigen Sätzen. Sie sind kurz. Der 21-Jährige ist erst seit drei Jahren in der Schweiz. Er weiss noch nicht, wie man sich «verkauft».
Christina Wehrli: «Was können Sie besonders gut?»
Aaron Mengistu: «Ich weiss nicht. Putzen?»
Christina Wehrli: «Putzen. Und Sie kennen verschiedene Techniken und Reinigungsmittel.»
Aaron Mengistu: «Ja.»
Christina Wehrli: «Können Sie mit Maschinen umgehen?»
Aaron Mengistu: «Ja.»
Christina Wehrli: «Sie arbeiten sehr sorgfältig.»
Aaron Mengistu: «Ja.»
Da lächelt er.
Christina Wehrli: «Das ist doch schon sehr viel mehr, als sie bis jetzt aufgeschrieben haben!»
Jetzt strahlt er übers ganze Gesicht.
Bei Vorstellungsgesprächen müssen die Insassen ihre Haftzeit im JVA Realta nicht zwingend erwähnen. Auch die Unterrichtsbestätigungen vom Schweizerischen Arbeiterhilfswerk werden auf neutrales Papier gedruckt. Dennoch empfiehlt Christina Wehrli den Eingewiesenen, ehrlich zu sein. Denn je komplizierter die Ausreden, desto schwieriger das Beantworten der Nachfragen. In einem Fall behauptete ein Eingewiesener, auf Weltreise gewesen zu sein. Solche Geschichten halten in der Regel nicht – und sprechen sich schnell herum. Besser ist es, «Mitarbeiter auf einem Gutsbetrieb in Cazis» zu schreiben – das stimmt schliesslich – und Lücken im Lebenslauf so gut wie möglich zu erklären.
Christina Wehrli: «Was haben Sie nach ihrer letzten Stelle in Moldawien gemacht?»
Nikolai Kowalenko: «Immer gearbeitet.»
Christina Wehrli: «Wo?»
Nikolai Kowalenko: «Zuhause.»
Christina Wehrli: «Haben Sie auch auf die Kinder aufgepasst?»
Nikolai Kowalenko: «Ja... nein! Nicht schreiben! Das ist Frauenarbeit.»
Damit sie zu einem Vorstellungsgespräch gehen könne, müssen die Männer urlaubsberechtigt sein. Sie reisen alleine und kommen zur vorgeschriebenen Zeit wieder zurück. Falls es länger dauert, geben sie Bescheid.
Eine Untersuchung des Bundesamts für Statistik hat ergeben, dass nach der Entlassung aus der halboffenen Strafanstalt 39,4 Prozent innerhalb von sechs Jahren erneut eingewiesen wurden. Bei geschlossenen Anstalten liegt der Wert gar bei 53,4 Prozent. «Wiedereinweisungsraten von 40-50 Prozent sind nicht berauschend, aber doch besser als die Vergleichswerte aus Zeiten, in denen Resozialisierung weniger ernst genommen wurde», heisst es in einem Bericht der Interessengemeinschaft «Avenir Social». Ob Bildung zu einer gelungenen Resozialisierung beiträgt, ist allerdings nicht belegt – repräsentative Studien fehlen in der Schweiz.
Ausserdem stellt sich die Frage, inwiefern die Bemühungen um Resozialisierung der Schweizer Bevölkerung zugute kommen. Ein Teil der ausländischen Häftlinge gehört zu den «Kriminaltouristen», die sich weder im Asylprozess befinden noch zur Wohnbevölkerung der Schweiz gehören. Nach ihrer Haftstrafe müssen sie die Schweiz wieder verlassen. Andy Tschümperlin erachtet das Bildungsprogramm dennoch als sinnvoll – zur Bewältigung des Anstaltsalltags, aber auch im Hinblick auf ihre Zukunft. «Bildung verändert Menschen, im Vollzug und natürlich auch nach der Entlassung. Auch Menschen, die das Land verlassen müssen, sollen ihr Leben im Heimatland wieder in den Griff bekommen.»
Einfach ist der Schritt nach «draussen», wie das Leben ausserhalb der Strafanstalt genannt wird, nie. Drinnen läuft der Alltag strikt nach Plan: «Die Eingewiesenen bekommen gute Mahlzeiten, die Wäsche wird ihnen gewaschen, sie erhalten Förderung an den Arbeitsstellen, werden zum Unterricht motiviert. Draussen ist Eigeninitiative gefragt», erklärt Christina Wehrli. Jobs finden die meisten dank Vitamin B: Freunde oder Familienmitglieder, die eine Firma haben oder ein gutes Wort einlegen können. Möglichkeiten gibt es einige.
Nikolai Kowalenko hat gute Chancen, eine Stelle zu finden. Er hat schon in verschiedenen Ländern als Maurer gearbeitet, bringt Erfahrung mit. Ausserdem spricht er gut Deutsch. «Ohne Sprache funktioniert Integration nicht. Wer die Sprache versteht, versteht die Leute, Geschichte, Politik, Kultur und Zeitungen», erklärt der 33-Jährige. Vor seiner Verlegung in die JVA Realta war er im geschlossenen Strafvollzug. Da hat der Moldawier Deutsch gelernt. Mit Wikipedia-Artikeln und Lesebüchern auf dem Sprachniveau B2. An seinem rechten Ringfinger zeichnet sich eine Schwiele ab – Hornhaut. «Irgendwann sind alle Gefangenen für Briefe und Gesuche zu mir gekommen. Manchmal habe ich stundenlang geschrieben, bis es weh tat.»
*Namen geändert