Die mit den Händen sieht
Rita Dütsch ist Physiotherapeutin – und sie ist blind. Viele denken, dass sie deswegen besser in ihrem Beruf sei als andere. Sie selbst hält das für ein Klischee.
Veröffentlicht am 19. April 2022 - 15:30 Uhr
Die Hände der Therapeutin finden souverän den Türrahmen, die Waschmaschine und dann ein schwarzes Gerät, das sie als kleines Wunder bezeichnet: Der Organizer kann Brailleschrift, Texte vorlesen, in ihm befinden sich Krankenakten und eine Agenda. Rita Dütschs Blick mag am Gegenüber vorbeifliegen, aber ihre warme und feste Stimme schafft sofort Vertrauen. Patientinnen realisierten manchmal erst in ihrer Praxis, dass ihre Physiotherapeutin blind sei, sagt sie. Das ist ihr gerade recht. Niemand soll wegen ihrer Sehbehinderung nicht zu ihr kommen. Oder gerade deshalb.
Tatsächlich bekommt sie oft Vorschusslorbeeren. Ärzte empfehlen sie mit raunender Stimme, Patientinnen rühmen sie, «weil sie es einfach besser spüre». Ein Klischee? «Schon ein bisschen», sagt die 62-Jährige und lässt ihr herzliches Lachen erklingen. «Das ist alles gelernt. Viele sehende Physiotherapeuten können das auch.»
Sie stellt ein Serviertablett mit einer Karaffe Wasser und Gläsern auf die Behandlungsliege und bietet ihrem Gast einen Stuhl an. Ihre Praxis ist schlicht eingerichtet. Vollgestopfte Räume mag sie nicht, und die Art und Weise, wie sie das Wort «vollgestopft» ausspricht, lässt erahnen, wie mühsam für sie die Orientierung in solchen Räumen sein muss. In einem Regal liegen Rollen und Tücher – am stets selben Platz versorgt und jederzeit auffindbar. Bunte Keith-Haring-Männchen bewegen sich fröhlich durch ein Bild. Gelbe Vorhänge vermitteln das Gefühl von Sonnenwärme, auch wenn es draussen trüb ist.
Rita Dütsch wäre gerne Ärztin geworden, aber das war nicht möglich. Die Auswahl an Berufen sei für Sehbehinderte klein, «ich kann nun mal nicht Coiffeuse werden», scherzt sie. Büroarbeit vermochte sie wenig zu begeistern, sie wollte lieber mit Menschen arbeiten. Da kam ein neues Angebot am Unispital Zürich gerade recht: Die Physiotherapie-Ausbildung öffnete sich 1982 für Sehbehinderte. Sie wusste sofort: «Das ist es!» – auch wenn der Arbeitsaufwand enorm war.
Während der Vorlesungen flüsterte sie Notizen auf Band und sprach sie abends auf eine andere Kassette ins Reine. «Ich musste sehr diszipliniert sein, sonst bekam ich ein Durcheinander.» Ausser ein paar anatomischen Reliefs gab es keine Hilfsmittel, keine Schulbücher in Blindenschrift. Die Blinden hatten nur akustische Informationen: Die Vorlesungen wurden aufgezeichnet und konnten bei Bedarf noch einmal abgehört werden.
Rita Dütsch wurde mit einer seltenen degenerativen Erkrankung der Netzhaut geboren. Doch erst mit 14 Jahren erhielt sie die Diagnose und erfuhr, dass ihre Sehkraft stetig abnehmen wird, vielleicht bis zur Erblindung. «Vorher wusste niemand, was mit mir los war.»
Die Jahre bis zur Diagnose waren schwierig. In der Schule ging sie unter. Von den Klassenkameraden wurde sie ausgelacht, weil sie stolperte oder in halb geöffnete Türen lief. «Wenn man nie normal gesehen hat, kann man nicht einschätzen, was mit einem passiert. Man versucht zu spielen und sich zu integrieren wie alle anderen auch.»
Erst in ihrer Ausbildung lernte sie, zu ihrer Sehbehinderung zu stehen. Denn Patienten können ihr nur vertrauen, wenn sie Klarheit schafft. Ihre erste Stelle als diplomierte Physiotherapeutin hatte sie im Unispital Zürich. Zu ihren Aufgaben gehörte auch, Patienten nach einer Operation das Treppensteigen mit Stöcken zu lehren.
Schon im Zimmer versuchte sie ihnen jeweils Sicherheit zu vermitteln, indem sie ihnen half, die Schuhe anzuziehen, möglichst präzise die Stöcke reichte und genaue verbale Instruktionen gab. Auf der Treppe ging sie rückwärts voraus, die Finger ganz leicht am Patienten, um sofort zu spüren, «wenn es zu fest wackelt». Das Geklapper der Stöcke verriet ihr, ob sie richtig eingesetzt wurden. Die Patienten vertrauten ihr. Sie kann sich an keinen erinnern, der reklamiert hat.
«Wenig durchblutetes Gewebe knistert zwischen den Fingern fast wie Seidenpapier.»
Rita Dütsch, Physiotherapeutin
Heute arbeitet die Physio- und Achtsamkeitstherapeutin in einer eigenen Praxis in Winterthur, wo sie auch mit ihrer Familie wohnt. Schon die Art und Weise, wie jemand zur Tür hereinkomme, sich setze und wie er dabei atme, verrate ihr einiges über den Gesundheitszustand eines Menschen. Wenn ihre Hände dann durch den Rücken «wandern», fühlen sie feinste Unterschiede: ob jemand loslassen kann, ob das Gewebe angespannt ist. Sie erkennen warme Stellen, die auf eine Entzündung hindeuten können, und kalte Stellen, die nicht so «belebt» oder «unverbunden» sind. «Wenig durchblutetes Gewebe knistert zwischen den Fingern fast wie Seidenpapier», sagt Dütsch.
Übungen kontrolliert sie – anders als sehende Kolleginnen – mit den Händen. Sie ist gezwungen, das so zu machen. «Aber es ist auch aufschlussreich: So spüre ich, was im Körper passiert.» Um zu «sehen», wie die Position von Schultern, Kopf, Armen und Beinen ist, reiche es, Schultern und Becken leicht zu berühren. Denn von dort gehen die Bewegungen aus. Nie würde sie ihre Hand auf dem Körper hin und her bewegen, das bringe nichts.
Rita Dütsch gehört nicht zu den Therapeutinnen, die atemlos reden, um möglichst viele Patienten durchzuschleusen. Sie geht auf die Menschen ein. Es sei so unterschiedlich, was sie erlebten und wie sie darauf reagierten. Wie sie darüber reden würden. «Ich versuche zu sehen, was mit einem Menschen ist und wie ich ihm helfen kann.»
Ihr ist bewusst, dass längst nicht alle Blinden einen Beruf ausüben können. Umso mehr freut es sie, mit einigen von ihnen ihr Hobby teilen zu können: Showdown, eine Art Tischtennis für Blinde. Sie hat das Spiel, bei dem es darum geht, einen klingenden Ball auf einem umrandeten Tisch ins gegnerische Tor zu schlagen, in der Schweiz bekannt gemacht. Am Anfang habe sie es nur mit ihrer Familie gespielt – Sehende spielen mit einer Dunkelbrille. Heute ist sie eine der besten Spielerinnen der Schweiz und leitet eine Gruppe in Winterthur. «Ballspiele waren für mich eine Art Kindheitstrauma», sagt sie. «Nun selbst eines zu spielen, ist einfach grossartig.»