Als Jacqueline Eisenring am 4. Dezember 2020 die Lichter im Café Clavau abdrehte, bekam das im Dorf kaum jemand mit. Obwohl das Café im Zentrum von Rhäzüns steht, der obersten Gemeinde im Bündner Rheintal. Das Clavau, rätoromanisch für Stall, hatte sich in den achteinhalb Jahren, in denen es Jacqueline Eisenring und ihr Partner Daniel Camenisch führten, zum Treffpunkt im Ort gemausert.

Der 4. Dezember 2020 war auch der Tag, an dem Graubünden den kantonalen Beizen-Lockdown verkündete. Dass das Café wahrscheinlich für immer geschlossen bleiben würde, dämmerte den Leuten erst ein halbes Jahr später, als der Lockdown aufgehoben wurde. Alle gingen wieder aus. Nur in Rhäzüns wussten sie nicht, wohin mit sich.

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Was passiert mit einem Dorf, wenn es keine Beiz mehr gibt? Jeder der 1500 Bewohner von Rhäzüns hat eine andere Antwort, weil jeder seine eigene Geschichte mit dem Clavau hat. Der Gemeindepräsident Reto Loepfe zum Beispiel ging an Werktagen fast jeden Morgen ins Clavau zum Znüni. Schon bald sprach sich das im Dorf herum. Immer mehr Leute schauten vorbei, Rentner, Hausfrauen, Menschen, die gerade Ferien hatten. Wer etwas mit dem Präsidenten zu besprechen hatte, kam.

In der Abwärtsspirale

So wurde aus der Znünipause eine Sprechstunde, in der die Menschen ihre Fragen über den Nordanschluss der Kantonsstrasse oder ihren Unmut über den Ausbau des Waldwegs loswerden konnten. «Dieser ungefilterte Austausch war wichtig für meine Arbeit», sagt Loepfe. Ohne das Clavau sei ihm das Dorf lebloser vorgekommen.

Noch lebloser, müsste man fast sagen. Denn das Café war ja nur das letzte von vier Lokalen, die in Rhäzüns dichtgemacht haben. Den Menschen im Dorf blieben nur noch ein Restaurant mit kurzen Öffnungszeiten, das bald abgerissen werden sollte, eine Bäckerei-Konditorei mit winzigem Café, und das Gefühl, nicht mehr aus dieser Abwärtsspirale herauszukommen. Dass sich zwei ortsfremde, abenteuerlustige Pächter dazu durchringen würden, das Clavau zu übernehmen, konnte sich niemand vorstellen.

«Ich war sehr traurig, als ich erfuhr, dass es das Café nicht mehr gab.»

Georgina Caminada, leitete 30 Jahre lang die Raiffeisenbank in Rhäzüns GR

Gegen Mittag, als der Präsident sich längst wieder verabschiedet hatte, kamen die Lehrer und Lehrerinnen zum Mittagessen. Unter ihnen manchmal auch Schulleiterin Seraina Schoop. Sie erzählt, wie sie und ihre Kollegen nach dem Lockdown, als das Café geschlossen blieb, einfach das Mittagessen von zu Hause mitbrachten und im Lehrerzimmer assen. Und wie sie alle die Gespräche vermissten, die sie im Clavau geführt hatten, und die reger waren als die Gespräche im ewig gleichen Lehrerzimmer.

Am Nachmittag verwandelte sich das Café in ein Ausflugsziel für Spaziergängerinnen und Wanderer. Die meisten waren pensioniert und als Ehepaare oder in kleinen Gruppen unterwegs; sie belohnten sich für die zurückgelegten Kilometer mit einem Kaffee und einem Stück Kuchen. So hielt es auch Georgina Caminada, die dreissig Jahre lang die Raiffeisenbank in Rhäzüns leitete. «Ich war sehr traurig, als ich erfuhr, dass es das Café nicht mehr gab», sagt sie und schwärmt von seiner heimeligen Atmosphäre und den Cremeschnitten, für die das Café weitherum berühmt war.

Abends blieb das Clavau geschlossen, ausser am Montag, Freitag und Samstag. Am Montagabend gönnte sich die Männerriege nach ihrem Volleyballtraining einige Bier, und spätestens um Mitternacht war auch der letzte Frust über ein Foul oder ein verlorenes Spiel vergessen. Der Präsident der Männerriege, Giovanni Pelliccia, erinnert sich mit Grauen an die Zeit zurück, als er und seine Männer nach dem Training nicht ins Clavau konnten. «Wir gingen direkt nach Hause, ohne vorher Frieden zu schliessen. Das war gar nicht gut.»

Gleichzeitig mit der Männerriege kehrte auch der gemischte Chor nach seiner Probe im Clavau ein. Er zählt vierzig Mitglieder, viele davon sind nicht aus Rhäzüns und erst seit Herbst 2019 dabei. Die Neuen und die Alten hatten kaum Zeit, sich kennenzulernen, da brach die Pandemie aus. Erst seit letztem September darf der Chor wieder singen. Da wäre es wichtig gewesen, nach den Proben wieder wie früher einzukehren, sagt Chorpräsident Markus Tschalèr. «Das hätte uns geholfen, besser zusammenzuwachsen.»

Ein Ort für die ganze Dorfgemeinschaft

An den Freitagabenden und Wochenenden gehörte das Clavau den geschlossenen Gesellschaften, die Taufen, Geburtstage, Hochzeiten, Klassentreffen, Jubiläen, Firmenessen feierten. Oder zum Traueressen zusammenkamen. Gerade für die Trauernden sei es schön gewesen, im Anschluss an die Beerdigung nur quer über die Strasse ins Clavau gehen zu können, sagt Riccarda Lemmer-Epli, Präsidentin des Kirchenrats. Nach der Schliessung des Cafés wurden die Essen in andere Dörfer verlegt. Die Menschen mussten mit dem Auto hinfahren. Für manche war das zu umständlich. Nur die Samstagvormittage waren für geschlossene Gesellschaften gesperrt. Dann nämlich trafen sich die Männer am Stammtisch, selten Frauen, um zu politisieren, zu streiten, Kompromisse zu finden.

Das Café Clavau machte nicht nur jeden Einzelnen irgendwie glücklicher, sondern auch die Dorfgemeinschaft als Ganzes. Im Clavau konnten die Menschen in Echtzeit miterleben, wie das geht: Brücken schlagen. Im Chor oder beim Training erleben sie das nicht. Dort singen sie, oder spielen Volleyball. Es braucht den Stammtisch, um zusammenzuwachsen, das Kriegsbeil zu begraben. Die Rhäzünser würden es wohl nie so sagen – aber letzten Endes war das Clavau auch eine Schule des Vertrauens und der Toleranz.

Neue Hoffnung

Jacqueline Eisenring war sich bewusst, was sie dem Dorf durch die Schliessung des Cafés wegnahm. Trotzdem blieb ihr keine andere Wahl. Ihr Partner hatte gesundheitliche Probleme, die es nicht erlaubten, weiterzumachen. Aber sie schwor sich damals, nicht lockerzulassen, bis eine Nachfolge gefunden war. Sie schaltete unzählige Inserate, sprach fast alle an, die ihr über den Weg liefen.

Nur per Zufall entdeckte Ulrike Strassmann im vergangenen Februar eines von Eisenrings Inseraten im Internet. Sie arbeitete zu der Zeit als Servicemitarbeiterin in einer Pizzeria im Nachbarort und träumte schon seit vielen Jahren von einem eigenen Lokal. Als sie das Inserat ihrem Partner Valentin Kägi zeigte, der damals die Reparaturannahme einer Autowerkstatt leitete, meinte dieser: «Klar, machen wir!» Bis Ende Oktober behielten beide noch ihre Jobs, danach gaben sie sich knapp drei Wochen Zeit. Am 19. November 2021 wollten sie im Clavau die Wiedereröffnungsfeier steigen lassen.

Einige Tage vor der Feier. Ulrike Strassmann und Valentin Kägi sind schon seit den frühen Morgenstunden im Clavau, räumen ein und um. Sie sind nervös. Beide wohnten lange in Chur, erst seit kurzem im Nachbardorf, kennen Rhäzüns kaum. Sie haben kein ausgefeiltes Konzept, dafür die Überzeugung, es schon irgendwie hinzukriegen. Dass ein weiterer Beizen-Lockdown ihnen einen Strich durch die Rechnung machen könnte, daran wollen sie gar nicht denken. Er wird kochen, mittags, abends, sie wird bedienen.

Die neuen Pächter des Café Clavau in Rhäzüns GR: Valentin Kägi und Ulrike Strassmann

Das neue Pächterpaar des Café Clavau in Rhäzüns GR: Valentin Kägi und Ulrike Strassmann.

Quelle: Stephan Rappo

Mut macht Strassmann und Kägi, dass schon ziemlich viele Anfragen per Mail eingetrudelt sind. Die Präsidenten der Männerriege und des gemischten Chors wollten wissen, ob am Montagabend geöffnet ist. Die Lehrerinnen meldeten sich fürs Mittagessen an, einige Handwerksbetriebe ebenfalls. Der Gemeindevorstand reservierte für einen Stehapéro, der Männerkochklub für die jährliche Generalversammlung. Ulrike Strassmann hat allen zugesagt. «Sie sollen wissen, dass wir für sie da sind.»

Die Botschaft ist angekommen. Wen man im Dorf in den Tagen vor der Wiedereröffnung auch fragt, alle sind froh, dass das Clavau wieder zum Leben erweckt wird. Eine ältere Frau sagt: «Es ist wie ein Wunder.»

«Man hat es vermisst»

Am Tag der Wiedereröffnung schiebt Ulrike Strassmann um Punkt vier das grosse hölzerne Tor auf. Noch ist niemand zu sehen. Die ersten Gäste, zwei Männer, kommen durch die Hintertür. Sie haben ein Akkordeon geschultert und einen Klarinettenkoffer in der Hand. Einer der Männer war hier früher Stammgast. Die beiden haben sich spontan entschieden, bei der Feier aufzuspielen. Nach und nach füllt sich der Raum, vor allem mit Freunden der neuen Pächter. Die meisten von ihnen sind zum ersten Mal im Clavau. Sie bringen Geschenke mit, weisse Orchideen, Prosecco.

Dann betreten zwei jüngere Männer das Café, setzen sich an den Stammtisch. Sie waren früher oft hier, zum Jassen, einmal auch, um Weihnachtsguetsli zu backen. Sie schauen sich um, lächeln. «Man hat es vermisst», sagt der eine. Weitere Männer kommen und setzen sich zu den beiden dazu. Es dauert nicht lange, schon sind sie tief in ihre Debatten versunken. Als hätte es den einjährigen Unterbruch nie gegeben. Es bleibt am ersten Tag jedoch bei diesen paar Einheimischen. Vielleicht brauchen die Rhäzünser noch eine Weile, bis sie dem Wunder trauen.

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