Sie steht hinter der Theke, ganz in Schwarz, mit pinker Maske, die Hände in die Hüften gestemmt. Sie wartet auf den grossen Andrang am Mittag. Keine Sekunde lässt sie die Hauptstrasse aus dem Blick, die hinter der Fensterfront und der verschneiten Terrasse durchs Dorf führt. Seit fast 20 Jahren arbeitet Yvonne Cavegn als Serviceangestellte, seit gut einem Jahr hier in Sedrun im Bündner Oberland.

Yvonne Cavegn ist Mitte vierzig, hat zwei erwachsene Kinder. Sie liebt ihren Beruf, weil immer viel läuft. Für ihren Geschmack nie zu viel. «Im Stress werde ich ruhig.» Wenn mal nichts los ist, hält sie das fast nicht aus, nach fünf Minuten beginnt sie die Fenster zu putzen. «Rumsitzen kann ich auch noch als alte Frau.»

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Sie ist ein kleines Wunder. Viele Angestellte im Service suchten sich während der Shutdowns einen Job mit besseren Arbeitsbedingungen. Doch Yvonne Cavegn kann sich keine schönere Arbeit vorstellen. Sie weiss, dass die Löhne zu den niedrigsten gehören. Viel Stress für wenig Geld. Sie störe das nicht, sie arbeite gern viel. «Ich bin für den Beruf geschaffen.» Wie lebt jemand, der so denkt?

«Arrogante Gäste ärgern mich. Aber die meisten schätzen meine Arbeit.»

Yvonne Cavegn, Serviceangestellte

Zwei Bauarbeiter kommen die Strasse entlang. Noch bevor sie im Restaurant sind, stellt sie zwei grosse Colas und einen Brotkorb auf einen Tisch. Die Arbeiter klopfen den Schneematsch von den Schuhen, treten ein, grüssen. «Ihr wisst, wohin», ruft sie ihnen zu. Sobald sie sitzen, kramen die beiden ihre Handys hervor. Sie scannt die Zertifikate. «Muss halt sein.» Sie lacht. «Schon gut», murmeln sie, bestellen das Menü und blicken wieder auf ihre Handys. Sie nickt. «Sehr gern!» Ihr Lächeln bleibt hinter der Maske verborgen, es lässt die Fältchen um ihre braunen Augen tanzen.

Die Mehrheit ist anständig

Einmal erzählt sie von ihrer Mutter. Die sei ein guter Mensch gewesen, habe immer zuerst allen anderen geholfen und erst dann an sich gedacht. Sie sei genauso. Deshalb bediene sie so gern. Es mache sie glücklich, wenn sie anderen helfen könne, sich wohl zu fühlen. Sie mag alle Gäste, sogar die Männer, die sie «Fräulein!» rufen. «Die haben es halt früher so gelernt.» Und wenn eine achtköpfige Gruppe nach einem ausgiebigen Abendessen am Ende nur 5 Franken Trinkgeld dalässt, sucht sie den Fehler bei sich.

Nur über die Arroganten, die so tun, als könne sie nicht bis drei zählen, ärgert sie sich. Bei denen hat sie manchmal das Gefühl, sie liessen sie absichtlich rennen. Da hat zum Beispiel eine Gruppe den Wein schon bestellt, will aber dann doch noch einmal die Weinkarte sehen, wenig später noch ein drittes Mal. «Aber solche Gäste sind sehr selten. Die meisten schätzen meine Arbeit.» Sie meint das so, kein Quäntchen Ironie oder Verbitterung in ihrer Stimme. Vielleicht ist es so: Sie liebt den Job, weil sie die Menschen liebt.

Genug zum Leben

Normalerweise serviert sie an einem Mittag bis zu 25 Essen, aber heute passiert nicht viel. «Hallo, wo bleibt ihr denn alle?», ruft sie durchs leere Restaurant. «Ich habs grad so schön», sagt sie, plötzlich ernst. «Alles soll bleiben, wie es ist.»

Sie meint ihre jetzige Stelle, mit der sie so zufrieden ist wie mit keiner anderen zuvor. Das liegt vor allem am Chef. «Der ist super.» Er ist immer anwesend, hilft im Service mit, wenn sehr viel los ist, schreibt den Dienstplan jeweils für zwei Wochen und achtet darauf, dass die Schichten auch wirklich nur so lange dauern wie im Plan vermerkt. Er hört zu, wenn etwas sie bedrückt, und strahlt eine Ruhe aus, die Gold wert ist, wenn der Laden brummt.

Sie arbeitet in zwei Schichten. Eine Woche Frühschicht von sechs oder sieben Uhr morgens bis nachmittags um drei oder vier. Dann eine Woche Spätschicht. Die dauert so lange, bis der letzte Gast gegangen ist. Danach müssen noch die Böden gesaugt und aufgewischt und die Tische für das Frühstück gedeckt werden. So kommt sie auf gute 43 Stunden pro Woche und 3900 Franken brutto. Dazu kommen 400 bis 800 Franken Trinkgeld. Das reiche gut, sie müsse auf nichts verzichten, sagt sie.

Ein unmöglicher Chef

Als Ende 2020 wegen der Corona-Massnahmen nur die Hotelgäste ins Restaurant durften, gab es Kurzarbeit. Yvonne Cavegn überstand sie problemlos. In den vergangenen Jahren konnte sie immer wieder ein wenig Geld zur Seite legen. Das half. Auch dass ihr Partner einen Teil der Lebenskosten übernimmt.

Sie hatte es nicht immer schön. Einmal hatte sie einen Chef, vor dem sie sich fürchtete. Er war gleichzeitig der Koch, und er schrie seine Mitarbeiter an. Er schrie, wenn sie zu lange bei einem Gast verweilte oder wenn sie etwas falsch in die Kasse getippt hatte. Wenn sie die Gerichte nicht sofort abholte und servierte, weil sie noch an einem Tisch Wein einschenkte, schlug er zehnmal auf die Klingel. Wenn sie dann kam, schrie er wieder.

Damals waren sie nur zu zweit zuständig für einen grossen Saal, das Restaurant und eine Terrasse. 40 Essen am Mittag, abends noch mehr. Ein einziges Gehetze. Die Dienstpläne verschickte der Chef erst am Sonntagabend. Zwölf-Stunden-Tage waren normal. Sie parierte, aus Pflichtbewusstsein, und weil sie ihre Kolleginnen nicht im Stich lassen wollte. Und aus Angst. Nie beschwerte sie sich, auch nicht, als sie nach anderthalb Jahren kündigte. Sie wollte einfach ihren Frieden und ihre Freude wiederhaben.

Was sie über ihren Ex-Chef erzählt, lässt sich nicht nachprüfen. Sie will nicht, dass man ihn oder ehemalige Kolleginnen anruft. Ihr Bericht sei auf jeden Fall plausibel, sagt Philipp Zimmermann von der Gewerkschaft Unia. «So was kommt im Gastgewerbe leider öfters vor.»

Während sie so erzählt, beteuert sie mehrmals, sie sei nicht faul. Als könnte man auf die Idee kommen, dass sie sich vor der Arbeit drücken wollte, als sie damals kündigte. Ausgerechnet sie, die schon als Kind hart gearbeitet hatte.

Nur eine Lehrstelle frei

Yvonne Cavegn kam als jüngstes von vier Kindern in Rabius GR zur Welt. Die Mutter zog die Kinder gross, machte den Haushalt und putzte nebenher bei den Leuten im Dorf, der Vater war Fabrikarbeiter. Mit zehn hatte sie während der Sommerferien ihre erste Stelle bei einem Bauern. Sie half im Haushalt, kochte, putzte, wusch und glättete die Wäsche. Jeden Tag, von morgens bis abends, sieben Wochen lang. Manchmal musste sie auch heuen.

Sie sagt, sie wisse nicht, ob sie das alles gern gemacht habe. Sie habe sich das damals gar nicht gefragt. Von da an hatte sie jeden Sommer eine Stelle. Am Schluss der Realschule träumte sie von einer kaufmännischen Lehre. Im Dorf war aber nur eine Lehrstelle als Verkäuferin beim Volg frei. Die Eltern drängten sie, sie hatte das Gefühl, nicht widersprechen zu dürfen. Nach der Lehre fing sie als Serviceangestellte an. Nur einmal, als ihre beiden Kinder zur Welt kamen, stieg sie für ein paar Jahre aus dem Service aus und ging putzen.

Es ist Abend, Yvonne Cavegn und ihr Partner sitzen im Wohnzimmer und zappen durchs TV-Programm. Ständig muss sie gähnen. Sie versteht nicht, wieso sie müde ist, es war doch kaum was los in der Beiz. An den Wänden hängen grosse, gerahmte Fotopuzzles. Die meisten zeigen das Matterhorn. Als sie im ersten Shutdown im Frühjahr 2020 wochenlang nicht arbeiten durfte, war ihr so langweilig, dass sie anfing zu puzzeln. Bald schloss ihr Partner sich an. «Wir konnten gar nicht mehr aufhören.» Sie knufft ihn in die Seite und gluckst vor Vergnügen. Irgendwann lässt sie ihn auf dem Sofa allein und geht schlafen.

Am nächsten Morgen um halb sieben betritt sie das Restaurant durch die Hintertür. Sie schaltet die Alarmanlage aus, die Kaffeemaschine und das Licht an, öffnet die Fenster und den Haupteingang. Eine Katze sitzt davor, miaut. «Weg hier, es gibt nichts!», schimpft sie und klatscht in die Hände, ahmt einen knurrenden Hund nach. Dann holt sie ein Schälchen aus dem Schrank, füllt es mit Milch und stellt es der Katze hin. Als um sieben der erste Hotelgast den Frühstückssaal betritt, ist die Katze längst weg.

Ausbeutung als Geschäftsmodell?

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Quelle: Beobachter Bewegtbild
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