Der Bundesrat will kein drittes Geschlecht einführen
Nicht binäre Personen sind gezwungen, sich in amtlichen Dokumenten für das eine oder andere Geschlecht zu entscheiden. Der Bundesrat will, dass sich daran auch weiterhin nichts ändert. Obwohl unlängst bekannt ist, dass Betroffene unter dieser Diskriminierung leiden.
Veröffentlicht am 22. Dezember 2022 - 11:16 Uhr
In der Schweiz ist es im Gegensatz zu Deutschland und anderen Staaten nicht möglich, neben «männlich» und «weiblich» ein drittes Geschlecht im Personenstandsregister eintragen zu lassen oder auf einen Geschlechtseintrag ganz zu verzichten. Das soll auch weiterhin so bleiben, entschied der Bundesrat am Mittwoch.
Die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Einführung eines dritten amtlichen Geschlechts seien nicht erfüllt. Das binäre Geschlechtermodell sei in der schweizerischen Gesellschaft nach wie vor stark verankert, teilte der Bundesrat mit. Vor einem neuen Geschlechtermodell brauche es zuerst einen gesellschaftlichen Diskurs. Zudem müssten die Verfassung und zahlreiche Gesetze geändert werden.
Für Transgender Network Switzerland ist die Haltung des Bundesrats eine «Ohrfeige gegen nicht binäre Menschen». Damit demonstriere der Bundesrat vor allem seine eigene feindliche Einstellung. Zudem kenne die Regierung die Haltung der Schweizer Bevölkerung nicht, denn in einer Untersuchung des Forschungsinstituts Sotomo von 2021 hätten sich 53 Prozent für einen Eintrag für nicht binäre Menschen in amtlichen Dokumenten ausgesprochen.
In der Artikelserie «Zwischen den Geschlechtern» widmet sich der Beobachter dem Thema ausführlich und spricht mit Betroffenen und ihren Familien.
Vor sieben Jahren gewann Conchita Wurst als Dragqueen mit Vollbart den European Song Contest. Ein Jahr später outete sich Caitlyn Jenner als Transfrau – rund 40 Jahre nachdem sie als Mann für die USA Olympiagold im Zehnkampf gewonnen hatte. In der Mode, im Film, in der Musik verändert sich gerade vieles, sogar im Gesetz wird die Kategorie Geschlecht durchlässiger.
Ab dem 1. Januar 2022 braucht es nur noch eine Erklärung vor dem Zivilstandsamt, um das Geschlecht anzupassen. Bisher hatte ein Gericht darüber zu entscheiden, ob eine Person dafür Frau oder Manns genug war. Es hat den Anschein, als seien Transmenschen in der Gesellschaft angekommen.
Zugleich füllen sich die Kommentarspalten der Onlinemedien mit Hass und Ablehnung, sobald über Themen wie «Genderneutrale Sprache» oder «Das dritte Geschlecht» berichtet wird. «Müssen die sich so wichtig nehmen?», «Genug mit Gender-Wahnsinn!» und Ähnliches. Transmenschen werden aussergewöhnlich oft Opfer von Gewalt, Mobbing, Spott und Ausgrenzung. Allein in der Stadt Zürich wurden dieses Jahr bisher 22 «Hatecrimes» gegen Trans- und Queermenschen registriert.
Verlässliche Zahlen darüber, bei wie vielen Menschen das psychische und das körperliche Geschlecht nicht übereinstimmen, fehlen noch. Erst seit kurzem interessiert sich die Forschung überhaupt für das Phänomen. Der Verein Transgender Network Switzerland gibt an, dass ausländische Studien von 0,5 bis 3 Prozent der Bevölkerung ausgehen – das wären in der Schweiz zwischen 43'000 und 260'000 Betroffene. Rund 36 Prozent von ihnen ordnen sich dem non-binären Spektrum zu, stehen also zwischen den Polen «männlich» und «weiblich».
Begriffe
- Trans sind Personen, die sich nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren können. Transmänner wurden bei der Geburt als Mädchen registriert, Transfrauen als Knaben. Menschen, die nicht trans sind, werden als cis bezeichnet.
- Non-binär sind Personen, die sich weder ausschliesslich als Mann noch ausschliesslich als Frau fühlen. Sie befinden sich ausserhalb der zweigeteilten (binären) Geschlechterordnung.
- Genderfluid sind Personen, die sich zwischen den Geschlechtern männlich und weiblich (oder keinem) bewegen. Welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen, kann wechseln.
Immer mehr junge Menschen bezeichnen sich als non-binär oder trans, wollen weder Mann noch Frau sein – oder beides. Sie schreiben sich mit Genderstern, suchen neue Bezeichnungen und variieren ihr Aussehen.
Aber warum? Ist das bloss eine Phase, ein Trend? Oder steckt doch mehr dahinter? Und weshalb tun wir uns so schwer mit dem Gedanken, dass es nicht nur Mann und Frau gibt?
Wir haben mit Betroffenen und ihren Familien gesprochen. Ihre Geschichten und die Hintergründe dazu finden Sie in unserer vierteiligen Artikelserie «Zwischen den Geschlechtern» mit den Themenbereichen «Medizin», «Gesellschaft», «Recht» und «Umfeld» .
Weitere Informationen und Unterstützung / Ausstellungstipps
- Transgender Network Switzerland (TGNS): Organisation von und für Transmenschen. Vernetzt und informiert.
- Trans Welcome: Ein Projekt vom TGNS und dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann, das Transmenschen Mut macht, sich am Arbeitsplatz zu outen.
- Checkpoint: Medizinische, psychologische und soziale Dienste für Männer, die Sex mit Männern haben, Trans- und andere queere Menschen.
- Nonbinary.ch: Informationen für non-binäre Menschen sowie Personen und Organisationen, die mit ihnen zu tun haben.
- Du-bist-du.ch: Eine Plattform für junge Menschen und Fachpersonen. Du-bist-du informiert, sensibilisiert und veranstaltet Workshops zu Themen rund um sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität.
- Milchjugend: Grösste Jugendorganisation für lesbische, schwule, bi-, trans-, inter- und asexuelle Jugendliche.
- InterAction: Ein Verein für intergeschlechtliche Menschen, ihre Familien, Freundinnen und Freunde.
Ausstellungstipps
- Queer – Vielfalt ist unsere Natur: Sonderausstellung des Naturhistorischen Museums Bern zur Vielfalt der Geschlechter sowie zur sexuellen Ausrichtung bei Tieren und Menschen. Bis März 2023.
- Geschlecht: Eine Ausstellung im Stapferhaus Lenzburg zu den Fragen: Wie entsteht eigentlich Geschlecht? Wie lieben und leben wir zusammen? Was macht uns zur Frau, was zum Mann – und was führt darüber hinaus? Bis Mai 2022.
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