Spiel mir das Lied vom Seeland. Eine Dampflok schiebt sich schnaufend aus der Station Gampelen-Champion, die wie zufällig hingeworfen inmitten winterleerer Äcker liegt. Dampf und Rauch gehen im dichten Nebel auf, neben dem Gleis bleiben zwei Gestalten zurück. Ein junger Landjäger und sein Gefangener. Die Stirn des Landjägers ist so faltenlos wie die Hose seiner zu weiten Uniform.

Der Arm des Gesetzes hält einen Tschopen fest. Darin, in Wollweste, Hemd und Hose aus grobem Stoff und schweren Nagelschuhen, steckt ein breiter Kerl. Die Haare wild wie ein Krähennest überragt er seinen Begleiter um mehr als einen Kopf. Über die Schulter hat er einen Stoffsack mit ein paar Habseligkeiten geschlagen.

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Der Gendarm schiebt den Gefangenen zögerlich vor sich her. Am Ende der Laderampe blickt er sich um. Da wendet sich der Arrestant seinem Begleiter zu und streift sich sanft aber bestimmt dessen Griff vom Ärmel: «So, itz loufsch mir eifach hingernache. Hie kenneni jede Bitz und do isch kes Mütteli, woni no nie vertschauppet ha.»

Er schlägt den Kragen hoch und macht sich geübten Schrittes auf, übers Gleis Richtung Landstrasse. Das schmächtige Gesetz hastet ihm über die Schienen nach. Langsam verschwinden die beiden in den Schwaden, die unaufhörlich aus der schwarzen Erde steigen. Dort, weit hinten im Nichts, liegt die Strafanstalt Witzwil.

Er hat uns immer mal wieder diese Geschichte erzählt, vom Landstreicher, der sich sommers auf den Höfen der Gegend als Tagelöhner verdingte.

So oder ähnlich soll sich diese Geschichte zugetragen haben. Der Arrestant sei ein Landstreicher gewesen, der sich in dieser Gegend herumgetrieben habe, irgendwo zwischen der Stadt Bern, den drei Seen, wo der Nebel wohnt, und dem Bucheggberg, wo mein Vater aufgewachsen ist.

Er hat uns immer mal wieder diese Geschichte erzählt, vom Landstreicher, der sich sommers auf den Höfen der Gegend als Tagelöhner verdingte und dann im Herbst einen Strohhaufen oder einen verlassenen Schuppen ansteckte – bloss, um in der Strafanstalt Witzwil bei Kost und Logis überwintern zu können. Denn nachdem die letzte Ernte eingefahren war, ging armen Tröpfen wie ihm die Arbeit aus, und der kalte Novemberwind blies sie von den Höfen auf die Strasse.

Der ganze Tanz will sich so harmlos und regelmässig zugetragen haben, dass man den braven Landstreicher schliesslich mit einem Jungpolizisten losschickte, der nicht einmal den Weg zur Strafanstalt kannte.

Der Landstreicher kam wie gerufen

Die Geschichte gefiel mir als Bub besonders, weil sie ein bisschen Weite und Abenteuer ins enge Rayon meiner Kindheit trug. Spannend war sonst immer woanders. Weit weg. Lange her. Oder es wurde uns Schnaffeln wohlweislich verschwiegen. Da kam dieser Landstreicher wie gerufen, die Ausläufer seiner Geschichte schienen bis ins Hier und Jetzt zu reichen.

Ich erinnere mich noch an den alten Feldmauser, der einmal die Strasse hinauf an unserer Einfahrt vorbeiging – Lederriemen, trockene Erde und feldgraues, zähes Tuch. Aus seinem Rucksack ragten ein Bündel Stecken und der Knauf eines Klappspatens, an der Seite baumelten Fallen und eine Drahtrolle. In ähnlicher Weise wird auch jener Landstreicher über die Buechibärger Landstrassen gezogen sein.

Abgeernteter Winteracker im Bucheggberg

Vögel ziehen in den Süden, Landstreicher in die warme Zelle: Abgeernteter Winteracker im Bucheggberg.

Quelle: Balz Ruchti

In meinem Kindergemüt gedieh die Figur prächtig: ein unbekümmerter Vagabund, aber bei aller Gelassenheit aufmüpfig genug, um Welt, Gesetz und Obrigkeit mit dem angezeigten Schalk zu begegnen. Einer, der immer füürchunnt. Am Ende war er zu gut, um nicht wahr zu sein.

Wahrscheinlich war mir schon damals klar, dass diese Landstreicher das genaue Gegenteil von dem waren, was ich mir in der warmen Kinderstube zusammenfantasiert hatte.

«Das sy hüüfig armi Tüüfle gsy.»

Ruchti Aschi, Vater des Autors

Und trotzdem fällt mir seither jedes Jahr, sobald sich die Blätter verfärben, gelegentlich ein windschiefer Schuppen oder ein kleiner Asthaufen ins Auge, den der Landstreicher – ohne gross Schaden anzurichten – hätte abfackeln können, fürs Billett nach Witzwil. Auch heuer wieder. Und jedes Mal frage ich mich: Was ist wirklich dran an dieser Geschichte?

«Das sy hüüfig armi Tüüfle gsy», sagt mein Vater. Auf dem Hof meines Grossvaters hatten sie nach dem Krieg selbst noch so einen angestellt – Fluri, habe der geheissen, ein Solothurner Geschlecht, aber ledig, keine Familie. Gehaust habe er im alten Stöckli, wo sie später drin Güggeli mästeten.

Vater erzählt gerne von früher, eben auch die Landstreicher-Anekdote. Als es nun aber darum geht, Details zu nennen, geniert er sich. Als gehörte es sich nicht, die Geschichte einem zu erzählen, der sie auf Fakten abklopfen will. Er wisse ja auch nicht viel. Woher er die Geschichte kennt? «Eh, das weis me eifach.»

Quellen finden? «Chöit dr vergässe.»

Martin Schoch, Bezirksarchivar

Der Bucheggberger Bezirksarchivar Martin Schoch antwortet mit denselben fünf Worten und wirkt dabei ebenso ratlos und leicht ertappt. Schon hundertmal habe er diese Geschichte in irgendeiner Form gehört, hatte er am Telefon gewarnt. Ihm ist sie als Anekdote aus der Stadt Bern geläufig. Aber Quellen finden, «das chöit dr vergässe».

Schoch muss es wissen, er hat Geschichte studiert, «öppis Rächts», ist dann aber im Lehrerberuf gelandet. Mittlerweile ist er ein paar Jahre pensioniert, aber seine Stimme hat noch diesen Schulmeistersang, der, ohne laut zu werden, auch die hintersten Winkel eines Bezirksschulzimmers füllt.

Schoch wohnt in Küttigkofen, am Ostende des Bucheggbergs, in einem 1990er-Einfamilienhaus mit Alpenblick. Er habe gern ein bisschen Weitsicht, grad so viel, wie ein Buechibärger halt brauche. Wer eine Geschichte hören will, ist bei Schoch an den Falschen geraten – wer viele Geschichten hören will, an den Richtigen. «Endlich mal einer, der ihm zuhört», quittiert seine Tochter meine Anwesenheit.

Vom Hundertsten ins Tausendste

Während zweier Camel Filters und eines Kaffees erzählt Schoch von der Lokalpolitik, über die Nazi-Verstrickungen der Solothurner Industriellenfamilien («unappetitlich»), von den Grafen von Buchegg, die es als Erzbischof bis nach Mainz oder als Berater des Papstes nach Avignon gebracht hatten («Wältgschicht, diräkt usem Buechibärg»), und davon, wie die Eidgenossenschaft und ihr Religionsfrieden beinahe an diesem Hoger zerschellt wären, weil das katholische Solothurn der Berner Obrigkeit verwehrte, in der Gegend Täufern nachzustellen, die sich über die wirre Kantonsgrenze geflüchtet hatten.

«Das ist das Schlimme als Historiker», sagt Schoch und bläst den Zigarettenrauch in den Cheminéeabzug. «Es hört nie auf. Man kommt vom Hundertsten ins Tausendste.» Und Fakten zur Historizität eines namenlosen Landstreichers zu finden? Eben, «chöit dr vergässe».

Martin Schoch hinter seinem Haus in Küttigkofen

Bezirksarchivar Martin Schoch weiss viel. Aber Fakten zur Historizität eines namenlosen Landstreichers? «Chöit dr vergässe.»

Quelle: Balz Ruchti

Schoch packt zwei vergriffene Bücher über den Bucheggberg auf den Tisch. Im einen findet sich immerhin eine Schilderung, wonach in den Dörfern auf den Winter hin «gwüss fasch au Wuche einisch Vaganten oder Schnapser» abends gefragt hätten, ob sie im Stall übernachten könnten. Ein Zufallstreffer, und natürlich keine Namen. «Dr Zytli-Hausi oder dr Steifritz» könnten womöglich noch etwas dazu erzählen, sagt Schoch, «die wüsse, wies geit.»

Von «Hexen», «Härdlütli» und «Höhlemönschli»

Aber auch die beiden Alteingesessenen wissen nichts Genaues. Und andere mögliche Quellen sind nicht mehr so gut zwäg – oder sind gar nicht mehr, wie Elisabeth Pfluger, die Grande Dame der Solothurner Volkskunde, die vor ein paar Jahren gestorben ist. Sie hat jahrzehntelang Geschichten und Anekdoten gesammelt und aufgeschrieben.
In ihrem Nachlass in der Solothurner Zentralbibliothek findet sich fast ein Dutzend speckiger Notizheftchen mit Geschichten aus dem Bucheggberg: örtliche Sagen, von «Hexen», «Härdlütli» und «Höhlemönschli», von Druidenschulen und Heidenküchen bis hin zu Odins wilder Jagd, die im Bucheggberg scheints brav vorgegebenen Bahnen folgt, den alten Burgen nach.

Andere Geschichten haben historische Bezüge, die letzte Wolfsjagd, der Franzoseneinfall, Feuersbrünste und die Hungerjahre – aber nichts über einen bestimmten Landstreicher.

Bezirksarchivar Schoch schaut grübelnd durch die Fensterfront seines Wohnzimmers hinaus, als probiere er das Gespinst aus Geschichten zu durchdringen, das die Gegend überzieht und in dem sich jeder, der irgendwas auf den Grund gehen will, unweigerlich verheddert.

Draussen, auf der Strassenlaterne vor der Terrasse, reisst ein Falke einer geschlagenen Feldmaus die Gedärme aus dem Leib. Seit drei Jahren hört ihn Schoch unter dem Dachgiebel gramselen. Und manchmal hört er, wie nachts der Fuchs den blechernen Hundenapf ausputzt. «Ein bisschen heile ...» Er bricht ab, als ob die Welt heute vieles wär, heil aber nicht. «Idyllisch», sagt er schliesslich.

Eine tötelige Stille schleicht um die Häuser

In der Tat. Unten bei der Bushaltestelle plätschert der Dorfbrunnen ewig in seinen langen, schlanken Steintrog, und eine Katze streicht über den Hausplatz. Die Strasse zwängt sich trotzig zwischen Gartenmauern und den Riegelhäusern mit ihren steilen Ziegeldächern hindurch – und wäre sie nicht asphaltiert, könnte der Landstreicher hier jederzeit um die Ecke biegen. Es ist, als vermöge die Moderne hier chum gfahre.

Und doch schleicht sie unaufhaltsam um die Häuser und hinterlässt eine tötelige Stille in Ställen und Strassen, vor allem tagsüber. Wo früher Misthaufen ausdampften, stehen stadtsaubere Autos, aber erst abends. Wer soll sich hier noch was erzählen? Und wo? Zuerst geht die Chäsi, dann der Dorfladen, die Schule, die Metzg, die Post und die Beiz.

Ich beschliesse, mich zu Fuss durch das Geschichtendickicht des Bucheggbergs zu schlagen. Vielleicht findet sich irgendwas. Die Landstreicher der Gegenwart sind Sonntagsspaziergänger und Wanderer. Sie gehen auf den abgelegenen Wegen, wie jenem durchs Mülital, wo laut Pflugers Notizen eingangs das «alte Steirüüschebabi» lauert, das durstige Wanderer von ihrem Brunnen scheuchte, und dafür, von unlöschbarem Durst getrieben, umgehen musste.

Und weiter oben im Tal, bei der Chrutmüli, habe das «Rybifroueli» in grösster Not ihre Kinder im Bach ertränkt. Wer sich traue, das Brüggli dort um Mitternacht zu überqueren, höre heute noch das Froueli jammern und seinen Frevel beklagen.

Ich möchte bloss eine Landstreichergeschichte hören. Zum Glück hängt ein hellster Herbsthimmel über dem Mülital, der die Schauergeschichten im Zaum hält.

Chrutmüli bei Mühledorf SO: Wo das Rybifroueli in ärgster Not seine Kinder ertränkte.

Wo das Rybifroueli in ärgster Not seine Kinder ertränkte.

Quelle: Balz Ruchti

Ein Trauerzug, der feiert, noch keiner zu sein

Ich kenne diesen Graben aus den Geschichten meines Vaters. Wie sie als Buben im Mülibach Krebse fingen und bei Steirüüsche-Bänz Kirschen vom Baum klauten. Wenn sich keiner mehr Geschichten erzählt, droht auch diese Welt der Kindheit meines Vaters zu verschwinden. Eine Zeit, die auf mich als Bub so viel ferner gewirkt hatte als jetzt, wo sie so viel ferner ist.

Nach einer Weile hole ich ein Grüppchen älterer Leute ein, mit Wanderstöcken und Hörgeräten. In kleinen, steten Schritten sind sie unterwegs, wie ein heiterer Trauerzug, einer, der feiert, noch keiner zu sein. Eine Frau kennt die Landstreichergeschichte, weiss aber nichts Genaues. Ich solle die weiter vorne fragen. Weiter vorne geht Hans Peter Bader.

Anfang der Siebzigerjahre habe er montags zusammen mit Freunden aus seiner Grümpelturnier-Mannschaft im Schachen in Deitingen Insassen besucht, erzählt er. Einfach zum Plaudern, um ihnen die Zeit zu verkürzen. «Da gabs Delinquenten, die bewusst im Herbst was klauten, damit sie über den Winter ins Gefängnis kamen.» Mehr wisse er aber auch nicht.

Die weiteren Begegnungen im Mülital zeigen eine gesunde Scheu vor Journalisten und Geschichtensammlern. Aber sie wissen, dass Landstreicher zu Grossvaters Zeiten auf den Höfen hier um Schnaps bettelten und dass man Angst hatte, dass sie beim Tubäklen die Scheune ansteckten, wenn sie im Stroh schliefen. Einer soll in der Gegend gar eine Höhle gehabt haben, wo er sich verkroch.

Rosmarie Lädrachs Vater war 14 Jahre lang Melker in der Strafanstalt Witzwil.

Rosmarie Lädrachs Vater war 14 Jahre lang Melker in der Strafanstalt Witzwil.

Quelle: Balz Ruchti

Ihr Vater war Melker in Witzwil

Mittlerweile wirft die Sonne lange Schatten in den Nachmittag. Oberhalb von Mühledorf begegne ich Rosmarie Lädrach, die am Waldrand die silbergrau schimmernden Buchenstämme bestaunt, wie sie ihre hohen Kronen in den Himmel strecken. Lädrach wohnt um die Ecke in der alten Seilerei, «vier Meter breit und über hundert lang». Eine Bekanntschaft aus Deutschland habe sie mal wiedergefunden, allein anhand dieser Beschreibung ihres Hauses. 

Sie kennt die Landstreichergeschichte. Als sie ein Mädchen war, habe ihr Vater, Jahrgang 1903, von Leuten erzählt, die im Herbst irgendwas gchüngelet hätten, und vor allem von einem, «wo aube es Schüürli aazündet heig, dass er uf Witzwil cha go überwintere». Ihr Vater war 14 Jahre lang Melker in Witzwil und hat sich um die Kühe gekümmert. Manchmal mussten sie dort auch mit den Gefangenen Ghüder sortieren. «Wir hatten zwei Silberlöffeli, die sie dabei gefunden haben.»

An einen Namen könne sie sich nicht erinnern, sie sei damals noch klein gewesen, in der ersten, vielleicht zweiten Klasse. Aber, sagt sie ganz am Schluss: Ihr Vater habe nie gesagt, in welcher Gegend sich die Geschichte zugetragen habe.

Bern, Deitingen, irgendwo – womöglich ist es vor allem dem begrenzten Horizont meiner Kindheit geschuldet, dass der Landstreicher durch den Bucheggberg gezogen sein soll. Vielleicht ist es ohnehin ein widersinniges Unterfangen, einem Landstreicher einen bestimmten Ort zuweisen zu wollen. Bleibt der Ort, der ihm von Amtes wegen zugewiesen wurde: die Justizvollzugsanstalt Witzwil.

Hans Paul Käser leitete über 20 Jahre den Witzwiler Gutsbetrieb

«Für einige war es fast wie ein Zuhause»: Hans Paul Käser leitete über 20 Jahre den Witzwiler Gutsbetrieb.

Quelle: Balz Ruchti

Der halbherzige Versuch, dort Akteneinsicht zu erhalten, um nach Stammgästen zu suchen, versandet zwischen der Anfrage («Füllen Sie das Online-Formular aus, wir melden uns.»), dem Nachhaken («Wissen Sie, wir sind am Umbauen, aber wir gehen der Sache nach und melden uns.») und einem Verweis aufs Staatsarchiv («Vielleicht könnten die Ihnen weiterhelfen?), kurz vor meiner Deadline.

Ich könnte Chabis fragen, sagt mein Vater. Hans Paul «Chabis» Käser, Jahrgang 1936, ist Agronom a. D. und Farbenbruder meines Vaters. Er leitete mehr als 20 Jahre lang den Gutsbetrieb in Witzwil. Käser trat seine Stelle dort 1963 an, just als Direktor Hans Kellerhals, Sohn des legendären Anstaltengründers Otto Kellerhals, in Pension ging.
«Nicht unmöglich» sei die Geschichte, sagt Käser, als er mich am Bahnhof in Ins abholt. Zu den Anstalten Witzwil gehörte – neben dem Zuchthaus und einer Trinkerheilanstalt – auch der Nusshof; ein Aussenhof, wo die administrativ Versorgten untergebracht waren. «Leute, die ohne Gerichtsurteil versorgt wurden, weil sie in den Gemeinden nicht mehr tragbar waren», erzählt Käser. Mein Landstreicher wäre dort untergekommen.

Polo Hofer, einer der ersten Drögeler in Witzwil

«Stammgäste» habe es hier durchaus gegeben, sagt Käser. Vom einen oder anderen habe es geheissen, «dä legi d’Sägesse so häre, dass er se nächscht Mau grad wider cha bruuche».

«Für manche war das fast wie ein Zuhause.»

Hans Paul Käser, ehemaliger Gutsbetriebsleiter in Witzwil

Diese Leute seien aber keineswegs arbeitsfaul gewesen, sondern einfach froh, ein Dach über dem Kopf und zu essen zu haben. «Für manche war das fast wie ein Zuhause. Geborgenheit, die sie sonst nicht hatten.» Überhaupt seien sich Insassen und Angestellte in Witzwil mit Respekt begegnet, sagt Käser, «nicht frère et cochon», aber so, dass Ehemalige grüssten, wenn sie Käser in Bern über den Weg liefen.

 

Anfang der 1970er seien dann auf einmal die Drögeler gekommen. «Wenn die noch im Nebel waren, wars uns lieber, die haben nicht gearbeitet, sonst hatten sie auf einmal die Finger in der Maschine.»

Einer der Ersten sei Polo Hofer gewesen. Der habe unter der Woche im Gmües gschaffet und samstags, sonntags Songs gedichtet. «Es heisst, er habe ein Klavier oder eine Gitarre geklaut, aber der war wegen der Drogen hier.»

Der Nusshof, ein Aussenhof von Witzwil: Der Landstreicher wäre hier untergekommen.

Der Nusshof, ein Aussenhof von Witzwil: Der Landstreicher wäre hier untergekommen.

Quelle: Balz Ruchti

Von einem bestimmten Vagabunden weiss auch Käser nichts. Er habe nicht allzu viel mit den Gefangenen zu tun gehabt. Seins sei die Landwirtschaft gewesen. Als Käser anfing, hatte Witzwil, mit an die 1000 Hektaren der grösste Landwirtschaftsbetrieb der Schweiz, drei Traktoren, von denen «einer nie lief und der andere immer in der Garage war». Daneben übernahm er 40 Zugpferde und doppelt so viele Ochsen, die den Pflug durch die endlosen Furchen rissen, die längsten 1200 Meter lang.

Kommen Tschugger aus Tschugg?

Käsers Schützling war der schwarze Boden. «Damals hiess es, Moosmeitschi hätten schwarze Knie, weil sie auf der dunklen Erde immer dem Gjätt nachkriechen mussten.» Unter Käsers Aufsicht wurden die moorigen Äcker tiefengepflügt und aufgesandet. «Der Moorboden verbrennt und sackt zusammen, wenn da Sauerstoff hinzukommt, zwei Zentimeter pro Jahr, in hundert Jahren zwei Meter», doziert er, während wir auf unebenen Strässchen durch die Ebene fahren, vorbei an weissen Reihern, Bewässerungskanälen und Windschutzstreifen entlang.

Vor seiner Zeit sei während Jahrzehnten Stadtkehricht nach Witzwil gekarrt und dort sortiert worden. Die Gruben, wo früher Torf gestochen worden war, wurden mit Glasscherben und Büchsen aufgeschüttet und mit einer knappen Sandschicht überzogen. Dürftiges Ackerland, weshalb Käser darauf Weiden für Mutterkühe anlegen liess. Unter ihren Hufen ruht womöglich noch das eine oder andere Silberlöffeli, das Rosmarie Lädrachs Vater beim Ghüdersortieren durch die Lappen ging.

Auf dem Rückweg fahren wir über Tschugg. Von hier soll der Ausdruck «Tschugger» kommen, weil die harten Kerle des Dorfes in Witzwil als Aufseher gearbeitet hätten. Auch so ein Gschichtli. Käser schüttelt den Kopf. «Es gab sicher Angestellte von hier, aber der Begriff hat wahrscheinlich nichts damit zu tun.» Laut dem Schweizer Idiotikon steht Tschugger für vieles, auch wenig Ruhmreiches wie Schwein, Süffel, Hund. Aber dass damit Polizisten gemeint sind, komme von «Schucker» aus dem Jiddischen, von «chockar», für «er hat gespäht».

Vielleicht ist es allgemein nicht gescheit, fröhlichen Geschichten nachzustellen. Sie drohen unter den Tatsachen zu ersticken. Andererseits, wo wir von der Tschuggerei sprechen: Ehemalige Polizisten könnten noch was wissen. 

«Do het me no nid jedem büsselet.»

Hans Peter Siegenthaler, ehemaliger Dienstchef der Regionalfahndung

Auf meine Anfrage an den Berner Verband pensionierter Polizeiangehöriger meldet sich Hans Peter Siegenthaler, ehemals Dienstchef der Regionalfahndung Bern-Mittelland / Emmental-Oberaargau. Siegenthaler ist in einem kleinen Bauernbetrieb in Bowil aufgewachsen und landete eher zufällig bei der Polizei – «davor war ich froh, hatte ich nichts mit denen zu tun». Nach der Polizeischule trat er im Oberland auf einem Zweierposten seinen Dienst an. Es sei eine interessante Zeit gewesen bei der Polizei, «aber man hat auch viel Schlimmes und Trauriges erlebt». 

Siegenthaler war einige Jahre im Anti-Terror-Team und stand bei militanten Demos als Grenadier im Einsatz, etwa bei der Schlacht in Moutier gegen die Béliers, die Jura-Separatisten. «Da war der Boden unter den Stiefelsohlen der einzige Ort, wo keine Petarden, Pflastersteine, Stahlkugeln oder Maienhäfeli herkamen.»

Mein Landstreicher? «Die hets gäh», sagt Siegenthaler am Küchentisch seines Hauses in Worb. Ich hätte natürlich lieber gehört: «Dä hets gäh.» Aber immerhin.

Arme Leute seien damals rasch in schwierige Situationen geraten. In Bauernfamilien übernahm meist einer den Hof, je nach Kanton der Jüngste oder der Älteste, die anderen gingen wortwörtlich leer aus. Und auch Arbeiterfamilien hatten fast immer zu viele Mäuler am Tisch. Manch einer musste sehen, wo er bleibt. Wer konnte, suchte ein Auskommen als Knecht, Magd oder Hausierer – was aber nicht allen immer gelang. «Do het me no nid jedem büsselet», sagt Siegenthaler. Und wer keine Büez fand und vergebens bettelte, machte in der Not halt auch mal die Finger lang.

Einmal Witzwiler, immer Witzwiler

Siegenthaler erinnert sich an zwei «Witzwiler» aus seiner Jugendzeit. Beide seien ledige Männer gewesen und hätten als die schwarzen Schafe ihrer jeweiligen Grossfamilie gegolten. «Die het me gschpürt», wenn sie wieder in der Gegend waren. Da fehlte etwas Schnaps, Wein oder Essen im Keller, vielleicht einmal ein Portemonnaie mit ein paar Franken aus der Küchenschublade. «Dann wusste man: Jetzt ist er wieder da.»

Hans Peter Siegenthaler hat als Polizist Spannendes, aber auch viel Schlimmes und Trauriges erlebt.

Sie hatten es nicht leicht: «Aber was hei si wöue? Hei ja nid chönne säge: ‹Läck mer›», sagt Hans Peter Siegenthaler, ehemaliger Polizeibeamter.

Quelle: Balz Ruchti

Nachsicht und Empathie war selbst gegenüber vertrauten Vaganten eng bemessen. «Am Stammtisch wurden ‹Witzwiler› schief angeschaut», sagt Siegenthaler. Die Rückkehr in ein bürgerliches Leben blieb den meisten verwehrt. Einmal Witzwiler, immer Witzwiler.

Und unter den Arbeitgebern gabs «Tyrannen und geldgierige Soucheibe», die diese Menschen ausnutzten und sie in ungeheizten Gadenkammern hielten. Fleisch gabs für sie, wenn überhaupt, nur aus Notschlachtungen. «Aber was hei sie wöue? Die hei ja nid chönne säge ‹läck mer›.»

Es war also nicht nur der Winter, der Landstreicher nach Witzwil trieb, sondern auch die menschliche Kälte, die ihnen entgegenblies. Die staatliche Obhut lockte mit einem geheizten Budeli und anständigem Essen. Den Tüchtigen winkte gar ein wenig Anerkennung, die ihnen sonst verwehrt blieb, wenn sie in den Arbeitsgruppen Führungsverantwortung erhielten, als Melker, Charrer oder Feldarbeiter.

An diesem Punkt wäre es meinem Landstreicher fast zu gönnen, wenn er eine Geschichte bleiben darf. Es steht zu befürchten, dass er sonst ein ordentliches Bürdeli zu tragen gehabt hätte. Und dass sein Frohmut ohne Schnaps jeweils gleitig verflogen wäre. Wenn wir ihn ziehen liessen, bliebe ihm dieses Los erspart. Und mir die bittere Ernüchterung. Denn Nostalgie ist eine Leimrute – wer flattert, lässt Federn.

Die Mühsal der Landstreicher ist zu blutten Pointen poliert

Wider besseren Wissens gebe ich mich bei zwei Gläsern Wein einer abendlichen Online-Recherche hin und stosse auf einen Nebelspalter-Artikel von 1953. Dort gibt C. A. Loosli ein paar «Landjägergeschichten» zum Besten, über das «bernisch-kantonale Landjägerkorps im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts». Die Epoche passt.

Zu jener Zeit sei es üblich gewesen, «kleinen Delinquenten, wie Holzfrevlern und dergleichen, ihre kurzfristigen Haftstrafen während des Sommers, wo sie Verdienst hatten, zu sistieren, bis zur rauhen und erwerbslosen Jahreszeit».

Auf Schloss Trachselwald wurde «Winterhäftlingen» gedroht, sie auszusperren, wenn sie nochmals zu spät und betrunken vom Ausgang zurückkämen: «Damit wäre den wenigsten von ihnen gedient gewesen, denn der Winter war streng und im Schloss waren sie wenigstens geborgen und wurden gefüttert.»

Und ein «damals noch junger Landjäger Scheidegger» hatte einen Verurteilten nach der Strafanstalt Thorberg zu transportieren, «war jedoch des Weges dahin noch keineswegs kundig, (…) so dass dieser die Führung übernahm.»

Statt der Landstreichergeschichte habe ich «Landjägergeschichten» gefunden. Der Protagonist ist darin immer genau so trotzig, wie er sein durfte, ohne anzuecken.

In diesen Anekdoten sind sämtliche Elemente der Legende vorhanden, wie ich sie kenne. Doch im Lichte des bisher Gehörten liest es sich fast widerlich. Aus diesem 70 Jahre alten Artikel dünstet der essigsüsse Schweiss einer vermeintlich guten alten Zeit. Die Mühsal der Landstreicher ist darin zu blutten Pointen poliert, die geschmeidig über die Zunge purzeln, sobald es der allgemeinen Erheiterung dient.

Statt der Landstreichergeschichte habe ich «Landjägergeschichten» gefunden. Der Protagonist ist darin immer genau so trotzig, wie er sein durfte, ohne anzuecken. Und wenn er im Frühling laufen gelassen wird, dann nur, um einen weiteren Sommer lang ausgebeutet zu werden. Eine Karikatur statt einer Legende. Wie das ahnungslose Söili, das in Märchenbüchern dummdreist grinsend durchs Schlaraffenland stakst, mit angeschnittenem Schinken und Gabel und Messer im Rücken.

Was bitzeli gschämig ist: Fast alle meine Begegnungen haben vor allem von der Not der Landstreicher berichtet, angefangen bei meinem Vater, der schon beim ersten Nachfragen vom ledigen Fluri, diesem armen Tüüfel, erzählte. Ich habs bloss nicht hören wollen. Die Legende war eben zu gut, um nicht wahr zu sein.

Zwölfischlegel und Hasler Lädu

Der anschwellende Trübsinn spült mir eine andere Landstreichergeschichte ins Bewusstsein, die ich ebenfalls seit langem kenne: «Wi der Zwölfischlegel Wienecht gfyret het» von Simon Gfeller. Zwölfischlegel, ein alter «Schnapsvagant», kämpft sich am Weihnachtsabend durch die garstige Winterbise im Emmental. Er kommt bei einer Wirtsfamilie unter, darf dort in der Stubenwärme «’s Bäumeli luege» und erhält einen Lebkuchen geschenkt.

Nachdem die Kerzen erloschen sind, geht er hinaus in den Stall und macht sich dort sein Lager für die Nacht. Als der Wirt ums Haus geht und die Türen abschliesst, hört er, wie sich Zwölfischlegel im Stroh süferli in den Schlaf singt. «Es ischt allwäg öppen es Lied gsi, wo ne no d’Mueter het glehrt gha», heisst es in der Geschichte.

Als Zwölfischlegel zwei Monate später im Spittel stirbt, geben sie ihm den brösmeligen Lebkuchen mit ins Grab, den er bis zuletzt noch in den Fingern rumgedreht hatte und von dem er sagte, «er heig ne vom Wienechtchingli übercho, u denn sig er au einischt e Möntsch gsi».

Im Gegensatz zu meinem Landstreicher gibt es zu Zwölfischlegel eine halbwegs solide Quellenlage: ein Aufsatz von einem Schüler Gfellers, der noch erhalten sein soll. Sie wären schon auch da, die anderen Geschichten.

Und so ist es eine kleine Versöhnung, als mir der Verband pensionierter Polizeiangehöriger einen Brief weiterleitet. Als junger Polizist arbeitete der heute 90-jährige Hans Schürch auf dem Posten in Langenthal.

Er schreibt: «Anfang der 1960er war Hasler Lädu in Langenthal bestens bekannt. Er war noch ein richtiger Landstreicher. Er war nicht bösartig, aber konnte oder wollte sich nicht in ein normales Leben mit festem Wohnort und Arbeit einfügen. Ich glaube, dass er damals um die 60 Jahre alt war. Er lebte in Waldhütten und im Freien. Sauberkeit und Kleidung waren manchmal bedenklich.

Wenn über ihn Klagen eingingen und wir Polizeier das Gefühl hatten, dass Lädu wieder eine Säuberung nötig hätte, nahmen wir ihn fest. Der Statthalter wies ihn dann ins Pflegeheim Dettenbühl ein.

So wiederholte sich die Geschichte jährlich ein, zwei Mal. Jeweils nach einigen Tagen kam dann die Funkmeldung: Hasler Lädu im Dettenbühl entwichen.»

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