«Es geht um 350 Juniorinnen und Junioren»
Vor fast einem halben Jahrhundert ist Pierluigi Ghitti dem FC Wettingen beigetreten. Heute ist er Präsident des Vereins. Wegen der Auswirkungen der Pandemie musste Ghitti einen umstrittenen Entscheid fällen.
Veröffentlicht am 20. Mai 2021 - 17:15 Uhr
Dieser Artikel ist Bestandteil unseres Themendossiers «Sportförderung in der Schweiz nach der Corona-Krise».
Eines mag Pierluigi Ghitti nicht mehr hören. «FC Wettingen? Ihr wart doch mal oben. Maradona und so.» Dabei stimmt es: Der Kleinstadtverein aus dem Aargau spielte früher in der Nationalliga A und einmal gar im Europacup gegen die SSC Napoli mit Diego Maradona, dem Göttlichen des Fussballs.
Das war 1989, lange her. Später kam der Absturz: Der Klub, mit fremdem Geld aufgeblasen, ging in Konkurs und musste sich aus der fünften Liga neu aufrappeln. Bäckermeister Ghitti, 56, spielte damals im Nachwuchs. Zum FC Wettingen war er als Siebenjähriger gekommen, er war Spieler, Trainer, Schiedsrichter. Seit 2014 ist er Präsident – «Präsident eines ganz normalen Amateurvereins», betont er.
Das bedeutet, dass sich der heutige FC Wettingen mit den üblichen Problemen herumschlägt wie viele Klubs im Mannschaftssport Nummer eins. Die Infrastruktur ist veraltet, es mangelt an Trainings- und Spielfeldern, die sich die 20 FCW-Teams mit jenen von Juventina Wettingen teilen müssen.
Ein ganz normaler Verein zu sein, das heisst für Pierluigi Ghitti auch: «Erfolg kommt durch Fleiss, nicht durch Geld und Zukäufe.» Sein Ideal ist ein Sportklub, dessen Akteure ihre Spiele gewinnen wollen, das schon. «Aber es braucht daneben auch die sozialen Aspekte, Spass und Geselligkeit. Ein Verein muss eine Heimat sein.»
Im Frühling 2020 stellte sich beim FC Wettingen die Richtungsfrage. Die erste Mannschaft war auf dem Weg in die erste Liga, die höchste Amateurklasse. Das hätte bedeutet, kräftig ins Team investieren zu müssen. Zugleich hatte die Pandemie bereits Spuren hinterlassen. Wichtige Einnahmequellen wurden abgesagt, interne Turniere, das Wettiger Fäscht. Einzelne Sponsoren kamen finanziell selber in Bedrängnis. Kurz: Die Finanzstruktur des Vereins drohte in Schieflage zu geraten.
«Lieber den Rest retten, statt oben zu glänzen»
In dieser Situation entschieden sich Präsident und Vorstand für die Breite und gegen die Spitze: Die erste Mannschaft, das Aushängeschild des Vereins, stieg freiwillig in die regionale zweite Liga ab. Die Aufwendungen für das Team sinken dadurch um etwa 100'000 Franken; Geld verdient beim FCW kein Spieler mehr.
«Statt oben zu glänzen, wollten wir lieber den Rest retten», erklärt Ghitti. Es gehe um die 350 Juniorinnen und Junioren. «In einem halben Jahr hätte ich ihnen vielleicht sagen müssen: ‹Ihr dürft jetzt nicht mehr spielen.› Diese Verantwortung wollte ich nicht übernehmen.»
Der Entscheid war intern durchaus umstritten. Unterdessen hätten sich die Wogen geglättet, sagt Ghitti. Es läuft jetzt ganz nach seinem Gusto: Junge aus dem eigenen Nachwuchs sind bereit, im «Eins» anzugreifen. Die Junioren spielen wieder um Punkte, und im boomenden Mädchenfussball hat sich eine Kooperation mit dem FC Baden etabliert.
Stabilität statt hochfliegende Pläne: Experimente verträgt es nicht mehr beim FCW, schon gar nicht in dieser Krise.
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