Ferienreise in den Tod
Ein Unfall in Italien raubt einer Bernerin den Partner und den Sohn. Schwer traumatisiert muss sie jetzt auch noch gegen das Erbschaftsamt kämpfen.
Veröffentlicht am 31. Januar 2017 - 10:18 Uhr
«An so etwas denkt man doch nicht. Dass der Partner vor einem geht, daran vielleicht schon. Aber dass Kind und Mann gleichzeitig sterben – nein, an so etwas denkt man nicht.» Mantramässig murmelt Lisa Stadler*, 46, die Worte vor sich hin. Die Tränen rinnen ihr übers Gesicht. Der Golden Retriever Yora liegt ihr zu Füssen und schaut sein Frauchen fragend an.
Ein Ruck geht durch die kurzhaarige, füllige Frau. Sie streichelt die Hündin, schiebt die Brille zurecht, wischt die Tränen aus dem Gesicht und sagt: «Ein Jahr nach dem Tod meiner Liebsten musste ich mich entscheiden: Will ich weiterleben oder ebenfalls gehen?» Sie habe eine Weile gehofft, sich durch eine Krankheit oder einen Unfall aus dem Leben stehlen zu können. Dann habe sie sich aber doch dafür entschieden dazubleiben. Und sich die Hündin angeschafft. «Yora versteht mich und tut mir gut.»
«Lift fahren» nennt die Bernerin die dunklen Momente, wenn die Erinnerungen an den Tod von Markus und Yannick überhandnehmen. «Lift fahren», weil die Flashbacks sie hinabreissen wie in einem Lift, wenn er abrupt in die Tiefe saust. Ihre Gefühle fahren dann in den Keller, sie verliert den Boden unter den Füssen, bekommt Panikattacken, hyperventiliert. Täglich passiert ihr das, seit dem 5. Oktober 2013. Damals in dieser schrecklichen Nacht, einem Samstag, starben ihr Lebenspartner Markus und ihr gemeinsamer sechsjähriger Sohn Yannick in den Fluten eines Bachs in der Toskana.
Eigentlich hatten die Ferien so schön begonnen. Eine Überraschungsreise war es, organisiert vom Vater für den Sohn, der Italien liebte. Ziel war das mittelalterliche Städtchen Massa Marittima in der Nähe von Siena, 18 Kilometer vom Meer entfernt. Dort hatte die Familie schon oft Ferien auf einem Landgut verbracht, es war ihre zweite Heimat. In Massa Marittima habe Söhnchen Yannick laufen und gutes Essen schätzen gelernt, erzählt Lisa Stadler. Sie kamen nach der langen Fahrt von Bern abends an. Yannick war müde und hungrig. Deshalb fuhr die Familie in ein nahes Restaurant und ass dort zu Abend.
Es regnete, der Strom fiel aus, sie sassen im Dunkeln. Es blitzte und donnerte, «aber niemand war beunruhigt, die Leute kannten das», erinnert sich Lisa Stadler. Gegen 21.30 Uhr verliess die Familie das Restaurant und fuhr «heim», die Mutter sass am Steuer. «Yannick hatte Angst vor Gewittern, ich sagte noch zu ihm, dass es bei Blitz und Donner nirgends so sicher sei wie in einem Auto.» Lisa Stadler schnappt nach Luft, schliesst die Augen, sie sieht ihr Kind vor sich, das ihren Worten glaubt und nicht ahnen kann, dass es wenige Minuten später tot sein wird. Sie weint lautlos, kann kaum weitersprechen.
«Stopp! Anhalten! Hier stimmt etwas nicht!»
150 Meter vom Restaurant mussten sie eine Brücke überqueren, unter der normalerweise ein Bächlein rinnt. «In dieser Nacht war da ein Strom, unglaublich. So viel Wasser, auch auf der Strasse.» Ihr Mann habe noch gerufen, stopp, anhalten, hier stimmt etwas nicht.
Der silberne Mietwagen wird von den Wassermassen ans Brückengeländer gedrückt, ein Pfosten bricht, das Heck wird über den Rand der Brücke geschoben, hängt über dem Abgrund. Nur die Vorderräder stehen noch auf festem Boden. Sie sei durch das Fenster geklettert und habe sich um das Auto rumgekämpft, um Sohn Yannick herauszuziehen. Das Wasser steht hoch, hat eine enorme Kraft. Lisa Stadler kann sich kaum auf den Beinen halten, schafft es aber fast bis zum Sohn. Der Kleine hat seine «Mimis», zwei Stofftierchen, im Arm, ist bereit, von der Mutter herausgezogen zu werden, schaut sie mit grossen Augen an.
In diesem Moment erfasst eine Flutwelle das Auto und spült es weg. «Wie eine Zündholzschachtel», flüstert Lisa Stadler, «wie eine Zündholzschachtel wurde es vier Meter in die Tiefe mitgerissen in den tosenden Bach.»
Erst zwei Tage später wird die Leiche des sechsjährigen Yannick gefunden. Einen Tag später die von Markus, elf Kilometer von der Unglücksstelle entfernt, schon fast im Meer. Der Sohn hat vermutlich beim Sturz von der Brücke das Genick gebrochen, der Vater versuchte wohl noch, den Jungen aus dem Wagen zu ziehen, wurde dabei am Brückenpfeiler eingeklemmt und zerquetscht. Die Toten hatten kein Wasser in der Lunge, Markus und Yannick sind also nicht ertrunken.
Die gesamte italienische Suchmannschaft kondolierte Lisa Stadler, die immer noch unter Schockstarre stand. Alle Carabinieri, die Hundestaffel, die Taucher, Helikopterpiloten, Förster, alle, die an der tagelangen Suche beteiligt waren. «Das war sehr würdevoll. Ich bin froh, dass sie die Leichen gefunden haben. Anschauen konnte ich nur den Sohn, mein Mann Markus war zu entstellt, das wollte man mir nicht antun.»
Lisa Stadler schluchzt. «15 Jahre und drei Monate waren wir ein Paar», sagt sie. «Nur verheiratet waren wir leider nicht.» Markus, der Jurist, der für die Anwaltsprüfung lernte, fand das nicht dringend, sie gehörten ja zusammen, ob mit oder ohne Trauschein. Irgendwann wollten sie alles regeln. Doch dazu kam es nicht mehr.
Durch die Heirat wäre Lisa Stadler der ganze leidige Erbstreit, der nun folgte, erspart geblieben. Es gab kein Testament, keinen Erbvertrag. Deshalb ging das gesamte Vermögen des Verstorbenen sowie die Eigentumswohnung, in der die Familie gewohnt hatte, an seine Eltern, die gesetzlichen Erben. Lisa Stadler bekam keinen Rappen. Sie hatte wegen des Sohnes ihr Arbeitspensum als Sachbearbeiterin auf 40 Prozent reduziert. Nun stand sie vor dem Nichts, hatte nicht mehr die Kraft, für die Wohnung zu kämpfen, zog aus.
Als sie im Herbst 2013 nach dem Tod ihrer Liebsten in die Schweiz zurückkam, verbrachte sie die ersten Wochen in einer psychiatrischen Klinik, «man hatte Angst um mein Leben». Aber sie habe ein wunderbares Umfeld, tolle Freunde, «sie haben mir das Leben gerettet». Im ersten halben Jahr nach der Tragödie sei sie nie allein gewesen, jeden Abend habe sich jemand um sie gekümmert, sie nicht aus den Augen gelassen.
Auch ihr neuer Partner, den sie damals kennengelernt hat, hilft ihr sehr. «Er kennt meine Geschichte, stützt mich und gibt mir Kraft», sagt Lisa Stadler. Aber auch heute noch zuckt sie zusammen, wenn ein Vater laut mit seinem Kind schimpft, und würde am liebsten sagen: «Hör auf und sei froh, dass du einen Sohn hast, geniess jede Sekunde mit ihm.»
Sie stockt ihr Arbeitspensum auf, arbeitet vier Tage die Woche, so kommt sie finanziell einigermassen durch, obwohl sie für die Beerdigung und offene Rechnungen von Markus über 30'000 Franken ausgelegt hat.
Vermeintliche Sicherheit gibt ihr auch das Wissen, dass ihr als langjähriger Lebenspartnerin mit gemeinsamem Kind 94'000 Franken aus dem Freizügigkeitskonto von Markus zustehen, die er für den Kauf der Wohnung vorbezogen hatte. Im Erbschaftsinventar werden diese Summe, die offenen Rechnungen plus die Erbgangsschulden ausgewiesen; alle Beteiligten, auch das Erbschaftsamt der Stadt Bern, unterschreiben die Zustimmungserklärung .
«Ich habe so etwas in meiner langjährigen Praxis noch nie erlebt. Die Rechtslage ist völlig klar. Lisa Stadler steht das Geld zu.»
Anwalt von Lisa Stadler*
Dieses Amt vertritt die Mutter von Markus, die verbeiständet ist. Markus’ Vater, der von seiner Frau getrennt lebt, anerkennt Stadlers Forderungen vorbehaltlos, sie ist ja quasi seine Schwiegertochter, die sich in den letzten Jahren auch rührend um seine demente Exfrau gekümmert hat. Trotz diesen klaren Fakten weigert sich das Erbschaftsamt Bern seit über drei Jahren, auf die Forderungen einzugehen.
Bis Mitte Januar fanden die beteiligten Parteien zu keiner Lösung. Er habe so etwas in seiner langjährigen Praxis noch nie erlebt, sagt Lisa Stadlers Anwalt. Die Rechtslage sei völlig klar, Lisa Stadler stehe das Geld zu. Er hält die Verzögerungs- und Hinhaltetaktik des Amts für ein krass rechtsmissbräuchliches Verhalten, wenn nicht gar für einen Straftatbestand. Er überlegt sich, Strafanzeige einzureichen. Die zuständige Amtsleiterin sagt, «die Parteien stehen derzeit in intensiven aussergerichtlichen Vergleichsverhandlungen, die, wie üblich, vertraulich geführt werden». Daher könne sie bis zu deren Abschluss keine Auskunft geben.
Lisa Stadler droht am amtlichen Hickhack zu zerbrechen. Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich einen Schlussstrich unter diesen Erbschaftsstreit zu ziehen. «Meinen Partner und meinen Sohn bringt mir das nicht zurück, aber es wäre eine Art Abschluss, das würde mir helfen», sagt sie. Auch ihr Psychiater sagt, dass sie mit ihrem Trauma nur fertigwerden könne, wenn sie auch rechtlich Gehör finde. «Das war wie ein Tsunami, der über sie hinwegrollte, und das Verhalten der Behörde hat das Trauma reaktiviert und ausgeweitet. Das ist aus psychotherapeutischer Sicht eine Katastrophe.»
Auch ihr neuer Partner macht sich grosse Sorgen. Kürzlich schrieb er dem Amt: «Die Geschichte mit dem tragischen Unfalltod ihres Kindes und Partners macht ihr je länger, je mehr zu schaffen. Es wäre wichtig, wenn sie das Thema abschliessen könnte. […] Sie sind aber offensichtlich nicht an einer Lösung interessiert, sondern spielen auf Zeit, was ich nicht begreife. Was muss sie noch alles durchstehen, bis die Geschichte wenigstens amtlich ein Ende findet?»
Lisa Stadler weint leise vor sich hin, der «Lift» fährt wieder, die Erinnerungen überfallen sie, sie kann nichts dagegen tun. Sie ist aber sicher, dass sie Markus und Yannick irgendwann wiedersehen wird – dann für immer.
*Name geändert
Update vom 23. Mai 2017:
Nun ist Bewegung in die Angelegenheit gekommen, auch wegen der Veröffentlichung der Geschichte im Beobachter, meint Stadler. Sie bekommt endlich ihr Geld. Die Kesb Köniz, die den Vater des verstorbenen Partners in finanziellen Dingen unterstützt, half mit, die verfahrene Situation zu klären. Jeden Tag denkt Lisa Stadler an ihre Lieben: «Yannick und Markus begleiten mich immer.»
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