Warum die Schweiz Spanien hinterherhinkt
Spanien gilt als Vorreiter bei der Bekämpfung von Gewalt an Frauen. In der Schweiz fehlen entsprechende Daten und gesetzliche Grundlagen.
Veröffentlicht am 19. Januar 2023 - 16:55 Uhr
Im Dezember verzeichnete Spanien mit elf toten Frauen so viele Femizide in einem Monat wie zuletzt 2008. Die Behörden reagierten schnell und ergriffen Massnahmen. Künftig sollen Staatsanwälte auch dann vorsorgliche Massnahmen zum Schutz von Opfern häuslicher Gewalt ergreifen können, wenn keine Anzeige erstattet wurde, aber genug Anzeichen für eine Gefährdung vorliegen.
Spanien gilt international als Vorreiter bei der Bekämpfung von Gewalt an Frauen. Den Grundstein dazu legte 2004 ein Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt, das die Rechte und den Schutz von betroffenen Frauen stärkte und die Strafen für Täter erhöhte. Spanien führte auch spezielle Gerichte ein, die ausschliesslich Gewaltdelikte gegen Frauen verhandeln.
Seit 2007 erhebt Spanien alle Daten zu geschlechtsspezifischer Gewalt systematisch. Das Ministerium für Gleichstellung erfasst jeden Femizid und veröffentlicht dreimonatlich Zahlen. Letzten Sommer stimmte das spanische Parlament einer «Nur Ja heisst Ja»-Regelung im Sexualstrafrecht zu, die Sex ohne freiwillige und klare Einwilligung als Vergewaltigung einstuft.
Das sind nicht die einzigen feministischen Gesetzgebungen in Spanien. Die spanische Regierung hat im Herbst den Mehrwertsteuersatz von Hygieneprodukten von 10 auf 4 Prozent gesenkt. Im Frühling hat sie ein Gesetz über «reproduktive Gesundheit und sexuelle Rechte von Frauen» verabschiedet. Spanien wird so zum ersten europäischen Land, in dem Menstruationsbeschwerden als Grund für eine Krankmeldung gelten. Und junge Spanierinnen sollen künftig ab 16 Jahren ohne Erlaubnis und Einwilligung ihrer Erziehungsberechtigten innerhalb der ersten 14 Wochen eine unerwünschte Schwangerschaft beenden können.
Die Schweiz unternimmt zu wenig in Sachen Gewalt an Frauen
Von einer solchen Gesetzgebung ist die Schweiz noch weit entfernt. Im November kam eine Expertinnen- und Expertengruppe des Europarats in einem Bericht zum Schluss, dass die Schweiz zu wenig gegen häusliche Gewalt und Gewalt an Frauen unternimmt. Ein Kritikpunkt des Gremiums: Die Schweiz habe zu wenig Daten über die verschiedenen Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt.
«Solange man in den Statistiken den Faktor Geschlecht nicht berücksichtigt, werden auch keine wirkungsvollen Massnahmen ergriffen.»
Simone Eggler, Brava und Netzwerk Istanbul-Konvention
Im Gegensatz zu Spanien werden in der Schweiz Femizide von keiner offiziellen Behörde statistisch erfasst. Zwar gibt es in der Schweiz Zahlen zu häuslicher Gewalt, aber keine zu geschlechtsbezogener Gewalt. Die aktuelle Statistik aus dem Jahr 2021 verzeichnet 19’341 Straftaten im häuslichen Bereich. «Solange man in den Statistiken den Faktor Geschlecht nicht berücksichtigt, werden auch keine wirkungsvollen Massnahmen ergriffen, und folglich wird sich nichts ändern», kritisiert Simone Eggler vom Netzwerk Istanbul-Konvention und der NGO Brava, die sich gegen Gewalt an Frauen einsetzt.
Brava fordert auch spezialisierte Strafverfolgungsbehörden, wie sie Spanien kennt. «Der Strafverfolgungsprozess würde dadurch zugänglicher, Betroffene könnten darauf vertrauen, dass sie mit Personen und Abläufen zu tun haben, die professionell und sensibilisiert sind.»
Weiter fordert das Gremium des Europarats in seinem Bericht, dass die Schweiz die «Nur Ja heisst Ja»-Lösung im Sexualstrafrecht einführt. Der Nationalrat hat den Vorstoss für diese Zustimmungslösung im Dezember gutgeheissen, der Ständerat hatte sie zuvor abgelehnt.
Menstruationsurlaub gibt es in der Schweiz nicht. Letzten Frühling hat der Nationalrat allerdings eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Menstruationsprodukte von 7,7 auf 2,5 Prozent beschlossen.
Wieso ist Spanien so viel feministischer als die Schweiz?
Spaniens feministische Gesetzgebung ist vor allem eine Reaktion auf eine aktive Frauenbewegung im Land. Fälle von Gewalt gegen Frauen werden medial breit behandelt und mobilisieren grosse Teile der Bevölkerung. Das hat auch historische Gründe. Spanien hat Frauenrechte erst mit dem Ende der Franco-Diktatur in den Siebzigerjahren gestärkt. Bis 1975 konnten Frauen nur mit Zustimmung ihres Ehemannes oder Vaters ein Konto eröffnen oder arbeiten. Der Gleichheitsgrundsatz zwischen Frauen und Männern in der Verfassung wurde erst 1978 festgeschrieben. Deswegen fühlen sich auch heute noch konservative Frauen an die Franco-Zeit erinnert und setzen sich für eine feministische Gesetzgebung ein.
«Die Demokratie, die wir haben, ist manchmal gar nicht so demokratisch und menschenrechtsfreundlich, wie wir meinen.»
Stefanie Brander, ehemalige Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Bern
In der Schweiz kam das Frauenstimmrecht
erst 1971, ab 1976 durften Frauen ohne Erlaubnis des Ehemannes einem Beruf nachgehen, und die Gleichstellung wurde 1981 in der Verfassung verankert. Die Schweiz erlebte aber nie einen solchen Modernisierungsschub wie Spanien. Grund für die Langsamkeit der Schweiz seien vor allem die politischen Institutionen, sagt Stefanie Brander, ehemalige Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Bern. Der Föderalismus und das grosse Mitbestimmungsrecht der Kantone seien bereits bei der Einführung des Frauenstimmrechts ein grosses Hindernis gewesen und seien es auch heute noch.
«Die Schweiz ist ein Land, das gern wenig staatliche Intervention hat. Es soll möglichst viel privatisiert und auf andere Ebenen weiterdelegiert und auf direktdemokratischem Weg in Abstimmungen entschieden werden. Aber die Demokratie, die wir haben, ist manchmal gar nicht so demokratisch und menschenrechtsfreundlich, wie wir meinen.»
Was es für mehr Gleichstellung brauche, sei: mehr Staat. «Es ist simpel, es braucht stärkere Gesetze, mehr politische und finanzielle Steuerungsinstrumente, das heisst, mehr politischen Willen in Parlamenten und Regierungen», sagt Brander.
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