«Auf der Bühne habe ich nie Angst. Im Leben schon.»
Jürg Halter passt in keine Schublade. Der Schriftsteller äussert sich oft und gerne – über eine Gesellschaft, in der manches nicht stimmt. Eine Begegnung.
Veröffentlicht am 14. Januar 2021 - 12:00 Uhr
Wenn Jürg Halter einmal gross ist, will er seine eigene Show in Las Vegas. Mit viel Pomp und Publikum. In Rollschuhen pirouettiert und posiert er da, flitzt, ja fliegt fast. Und dann, unter Trommelwirbel, il grande finale: Schlager in Dauerschleife, Halter mit Dauergrinsen – Starchirurgen sei Dank. Die Menge jubiliert und kreischt.
Ja, so könnte das sein, wieso auch nicht? «Ich kann nämlich richtig gut Rollschuh fahren», sagt der Berner Schriftsteller. Lacht kurz auf, rückt seine Brille zurecht, mittet blaue Mandeln hinter silberne Kreise und schaut wieder ernst.
Halter springt aus jeder Schublade, in die er gesteckt wird. Er ist 40, hat schon gerappt, gereimt, gesungen und geschrieben. Theaterstücke, Gedichtbände, Musikalben und einen Roman. In Tokio verfasste er mit einem japanischen Schriftsteller in 48 Stunden ein Kettengedicht, in Russland und Afrika trat er an Literaturfestivals auf. Gerade ist in Genf eine Ausstellung von ihm zu sehen, er moderiert Anlässe und liefert Firmen Denkanstösse – als selbst ernannter Blick-von-aussen-Experte.
Gibt es den Job überhaupt? Das Kultur-Chamäleon zuckt die Schultern, zeigt die Zahnlücke. «Ja klar, wenn ich ihn doch mache.»
Wenn ich für meine Antwort auf die Frage, / ob ich von der Kunst leben könne, / jedes Mal Geld kriegte, / könnte ich allein von dieser Frage leben. / Aber das wäre keine Kunst.*
Jürg Halter, Gedichtband «Gemeinsame Sprache»
An diesem Wintertag sitzt der Berner in einem seiner Lieblingsrestaurants, dem Aarbergerhof. Hier kennt man ihn, hier fühlt er sich wohl. Vor ihm steht ein Wasser mit Zitrone, hinter ihm hängt Kunst. Farbtupfer auf dunklem Grund, eine nackte Frau beim Badminton.
«Meine Projekte haben sich alle so ergeben, ich plane keine Anfänge», sagt Halter, als fiele ihm gerade erst auf, wie aufregend er sein Leben findet. Wenn ein Projekt zu Ende geht, lässt er die Tür einen Spaltbreit offen – man weiss ja nie. Ausnahmen gibt es nur wenige: Mit Slam-Poetry – «zu brav und absehbar» – und Kutti MC, damit ist er fertig.
Unter diesem Pseudonym wurde Halter vor 15 Jahren als Mundart-Rapper bekannt. In der Branche liebte oder hasste man Kutti. Ihm war das recht – Hauptsache, im Gespräch. In zehn Jahren veröffentlichte er fünf Soloalben, trat an Festivals und im Hallenstadion auf, arbeitete mit Musikern wie Sophie Hunger und Stephan Eicher zusammen, und dann: Schluss. 2015 zog Halter seinem Alter Ego den Stecker. «Es gab nichts, was ich in der Mundartmusik noch erreichen wollte. Also zog ich weiter.»
Im «Aarbergerhof» will Jürg Halter aber nicht über Vergangenes sprechen, die Gegenwart beschäftigt ihn zu sehr. In seinem Roman «Erwachen im 21. Jahrhundert» (2018) denkt ein 35-Jähriger eine Nacht lang über den Zustand der Welt nach. Skurril und skeptisch hangelt sich das von der Kritik gelobte Buch von der Digitalisierung zur Demokratie, zum Kulturbetrieb, zum Kapitalismus, zu Geflüchteten und zur Liebe. «Meine Literatur ist politisch. Aber welche ist das nicht? Auch wenn jemand nur über Blümchen schreibt, sagt das etwas aus: Weltabkehr.»
Wir sind krank nach uns selbst, / an den schönsten Orten der Welt, / lassen uns sagen, wo diese liegen, / sehnen in die Weite, sehnen uns matt. // Wir sparen uns für eine Zukunft auf, / um die wir uns selbst betrügen. / Wir treten besonnen ans Feuer, / niemals wollen wir brennen.
Jürg Halter, Gedichtband «Gemeinsame Sprache»
«Unsere Gesellschaft ist zersplittert. Es gibt viele starre Ideologen und Gruppierungen, die sich dem Austausch verschliessen, die Wahrheit für sich pachten.» Auch aus dieser Beobachtung sei sein neuer Gedichtband «Gemeinsame Sprache» entstanden (siehe Video). Darin stellt sich Halter die Frage, wie sie entsteht und wann sie verloren geht. Wenn er über die Gründe der Zersplitterung spricht, landet er schnell bei der Digitalisierung.
Was hat er denn gegen die Digitalisierung? Halter wirkt ungeduldig, fast genervt. «Ich habe doch nichts gegen die Digitalisierung! Ich bin einfach kein Kommunikationsbeauftragter des Staats, der ständig predigen muss, was sie für eine Chance ist.» Nun ist er in seinem Element. «Die Digitalisierung beschleunigt unsere Abschottung. Im Internet kann sich jeder seine Blase suchen und Kritik mit einem einzigen Klick ausblenden.»
Er spricht, sprudelt, überschwemmt mit Worten. Landet beim Datenschutz, in China, bei Smartwatches und Überwachung. Hebt sein Glas und stellt es wieder auf den Tisch, um sich selber nicht zu unterbrechen. Als er Ausrufezeichen in die Luft gestikuliert, fällt ihm der rote Faden unter den Tisch.
Aus deinem Pullover ziehst du einen Faden; / er nimmt kein Ende, / so bemerkst du nicht, wie du bald / mit halb nacktem Oberkörper vor dem Kellner sitzt, / ziehst einfach weiter, bis nichts mehr / als ein roter Faden übrig ist: / Der Kellner nimmt ihn auf, / beginnt eine Decke zu stricken, / um dir diese beiläufig umzulegen, / während er höflich fragt, / ob du noch was begehrst, / ja, gerne, was Kühles, antwortest du, / es sei etwas warm geworden, hier drinnen.
Jürg Halter, Gedichtband «Gemeinsame Sprache»
«Jetzt habe ich einen grossen Bogen geschlagen», entschuldigt er sich. «Ich sage ja nicht, dass das Internet keine positiven Seiten hat. Wer gern diskutiert und andere Meinungen respektiert, kann da klüger werden.» Er ist selbst sehr aktiv auf sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter. Immer mal wieder veröffentlicht er auch Meinungsbeiträge oder offene Briefe. An Schriftsteller Lukas Bärfuss, Bundesrätin Simonetta Sommaruga oder die SVP.
«Sehr geehrte SVP. Du tust mir leid. Ich möchte Dir helfen», titelte er eines der Schreiben – es hagelte neben viel Zustimmung auch Beleidigungen. Einzig ein Badener SVP-Politiker liess sich auf ein Bier mit Halter ein. Am Ende kam es zu einem Handschlag – auch wenn sie nicht gleicher Meinung waren. So müsste das sein, findet Halter.
Szenenwechsel, frische Luft. Halter wirkt wie ein Farbtupfer in der grauen Nebelsuppe. «Das Jäggli gehörte meinem Grosi – meine Schwester wollte es nicht», grinst er und leuchtet dabei, als hätte man ihn kopfüber in einen mit Fuchsia gefüllten Eimer getunkt. In Bern ist er verwurzelt. Hier ist er aufgewachsen, hier hat er Bildende Kunst studiert. Hier spazierte er im Frühling stundenlang durch ausgestorbene Strassen. Als Künstler macht ihm Corona zu schaffen. «Ich vermisse meine Auftritte. Auf der Bühne habe ich nie Angst. Im Leben schon.»
Ich gehe durch die leeren Strassen / meiner seit Wochen entrückten Stadt, / folge Schatten, die niemand wirft, / höre das Knirschen von Lack / unter meinen Füssen, im Schritttempo / taucht neben mir ein Polizeiwagen auf, / ich nicke stumm, deute in eine Richtung / und schlage, als der Wagen verschwindet, / eine andere ein – bin richtungslos.
Jürg Halter, Gedichtband «Gemeinsame Sprache»
Ein Teil seines aktuellen Gedichtbands «Gemeinsame Sprache» entstand im letzten Corona-Frühling. «Die Gedichte sprechen von der Vereinsamung in Städten, vom Drogenrausch in den Clubs, sie beschäftigen sich mit streunenden Katzen, suchen nach der besten Gesellschaft, erkunden die Farbe Blau, erfinden das niemals niemanden verletzende Abc», schreibt der Verlag zum Buch. Halter ist zufrieden. Zu Recht: Die Gedichte sind richtig gut. Immer wieder richten sie den Scheinwerfer auf Themen, die bewegen – kritisch, melancholisch, kunstvoll und poetisch. Halter schreibt über Leichtes und Schweres. Was noch kommt, was immer bleibt: die Liebe, die Liebe, die Liebe.
Montagnachts empfahl ich mich fraglos deiner Traurigkeit, / im Auto vor dem Haus, / während du rauchend / in der dunklen Küche sasst – / als wäre Liebe zu ertragen.
Jürg Halter, Gedichtband «Gemeinsame Sprache»
«Das hier ist mein Lieblingsbrunnen. Bald wachsen hoffentlich riesige Eiszapfen daran, dann friert der Waisenhausplatz», sagt Halter beim Meret-Oppenheim-Brunnen. Mit Moos und Gras bewachsen ragt er wie ein Turm in den Himmel. Nass und braun, nicht unbedingt ein schöner Anblick.
In der Marktgasse fällt Halter eine Geschichte ein. «Vor ein paar Jahren, kurz vor Weihnachten, lief ich diese Gasse entlang. Es war dunkel und still, da kam mir plötzlich eine Gestalt entgegen. Wir schauten uns an, liefen weiter, blickten zurück, weil wir uns erkannt hatten. Die Gestalt war Stephan Eicher. Aus der Begegnung entstand das Album ‹Freischwimmer›, das wir zusammen komponiert haben.»
Halter gefallen solche Begegnungen. Trotzdem sei er ein Einzelgänger. «Ein sozialer Einzelgänger», betont er. «Ich mag ja den Austausch. Ich bin einfach auch gern allein.»
In der Nähe des Bundeshauses gelangt er zu einem weiteren Lieblingsthema: Politik. Mit 16 habe er ein Jugendparlament gegründet, mit 19 sei er aus der Jugendsession geflüchtet. «Da waren lauter Miniaturversionen älterer Politiker, im Kopf schon total festgefahren.» Halter wollte zu keiner Partei, will es noch heute nicht. Trotzdem äussert er sich gern politisch – oft und laut, aber differenziert. Schiesst gegen links, die Mitte und rechts und eckt mit seinen Meinungen an.
Auf der monatelangen Flucht über Land und Wasser / sehen Flüchtende am Himmel Flugzeuge – / Steuerflüchtende kehren vom verdienten Urlaub heim. / Ich blicke vom Bildschirm auf.
Jürg Halter, Gedichtband «Gemeinsame Sprache»
«Früher habe ich mich als Linken bezeichnet und die Welt in Gut und Böse geteilt. Heute bin ich weniger naiv. Doppelmoral existiert durchs ganze politische Spektrum», sagt er und rückt wieder die Brille zurecht. «Wer weiss, vielleicht werde ich ja eines Tages der erste parteilose Bundesrat.»
Wo es ihn als Nächstes hintreibt, weiss Halter nicht. Vielleicht an den Schreibtisch, vielleicht zu einem neuen Abenteuer. Bestimmt auf eine Bühne, früher oder später. Man stelle sich vor: ein rollschuhfahrender alt Bundesrat in Las Vegas.
Was willst du mal werden, wenn du gross bist? / – Ein Staubkorn in der Ewigkeit.
Jürg Halter, Gedichtband «Gemeinsame Sprache»