«Unsere Kirche muss sich verändern»
Die Struktur der katholischen Kirche und die Machtballung der Bischöfe seien letztlich verantwortlich für die Missbrauchsfälle. Das sagt der Westschweizer Priester Nicolas Betticher, der jahrelang im Zentrum der Macht stand.
Herr Betticher, der Umgang der katholischen Kirche mit sexuellen Missbräuchen ist vergleichbar mit einem Haus, das lichterloh brennt. Jene, die den Brand löschen könnten, die Bischöfe, stehen aber abseits und hoffen, das Feuer gehe irgendwann von selbst aus.
Dieser Eindruck täuscht nicht. Aber es geht nicht nur um die Bischöfe, sondern um die gesamte Struktur der Kirche, also bis zur Spitze, bis zum Heiligen Vater. Das ist eine Realität. Gleichzeitig ist es ein heisses Eisen, und die Verantwortlichen wissen oft nicht, wie man das richtig anpackt.
Versuchen hier, alte weisse Männer mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ihre Macht zu erhalten?
Ja, das kann man so sagen. Aber ich frage mich: Warum? Ist Macht ihr Lebenselixier?
Viele Missbrauchsfälle sind nach dem weltlichen Strafrecht verjährt. Nach dem Kirchenrecht könnte die Verjährung in schweren Fällen aufgehoben und Täter könnten auch Jahre später noch sanktioniert werden. Was genau steht dem eigentlich im Weg?
Es gibt keine Pflicht, in einem Missbrauchsfall die Aufhebung der Verjährung zu beantragen. Aber wenn ein Bischof dies nicht tut, dann verhindert er die Aufarbeitung.
Entscheidet letztlich immer der zuständige Bischof, ob ein Fall aufgearbeitet wird oder nicht?
Ja, weil der Bischof im Bistum der oberste Richter ist.
Er ist aber auch Verwalter, Arbeitgeber …
… und «spiritueller Vater» und auch noch der oberste Gesetzgeber. Er erlässt Dekrete und Verfahrensentscheide. Er ist gleichzeitig Judikative, Legislative und Exekutive.
Sind sich die Bischöfe bewusst, dass sie so viele verschiedene Hüte tragen?
Ehrlich gesagt: Wenn man Bischof wird, hat man wahrscheinlich eine andere Vorstellung von diesem Amt. Man sieht den Bischof meist an einer Firmung, er kommt für eine Segnung, er weiht einen Altar ein, er diskutiert am Fernsehen über ethische Fragen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sich ein neuer Bischof bewusst ist, dass er alle drei Gewalten derart intensiv verkörpert. Ein Bischof wird sehr schnell von der Realität eingeholt. Diese Machtkonzentration kann eine moralische Überforderung sein.
Wie gehen die Schweizer Bischöfe mit dieser Macht um?
Bischof Bernard Genoud, der mich geweiht hat, ist an diesen Aufgaben gestorben. Er war sehr emotional, sehr authentisch. Immer, wenn er etwas hörte im Bereich Machtmissbrauch und sexueller Missbrauch, verletzte ihn das zutiefst. Denn er war ja der spirituelle «Vater dieses Priesters». Er nahm solche Ereignisse sehr persönlich. In meiner Wahrnehmung waren die Missbrauchsfälle Auslöser für seine Krebserkrankung. Seit 2007, als die ersten grossen Fälle publik wurden, kam ein Fall nach dem anderen. Dann wurde er krank und starb später an Krebs.
Ist Bischof Genoud an den publik gewordenen Missbrauchsfällen zerbrochen?
Ja, er ist daran zerbrochen. Wenn er nicht der oberste Richter gewesen wäre, dann hätte er sich auf das konzentrieren können, was er sehr gut gemacht hat. Nämlich pastoral Hirte zu sein, Prediger, Kommunikator. Er hätte die Missbrauchsfälle einer Gerichtsbarkeit übergeben können, einer unabhängigen Stelle der Universalkirche. Dann hätten wir im Bistum eine ganz andere Situation gehabt. Als Offizial (als Offizial wird der Vorsteher eines katholischen Kirchengerichts bezeichnet; Anm. der Redaktion) hätte auch ich meine eigentliche Arbeit erledigen können. Das wäre für uns alle viel gesünder gewesen, auch für die Glaubwürdigkeit des Bistums. So hiess es immer, wir würden vertuschen.
«Vertuscht wird bewusst oder unbewusst, weil man sich, andere oder die Kirche schützen will. Das kommt deshalb vor, weil niemand da ist, der die Folgen und Konsequenzen aufzeigt.»
Nicolas Betticher
Wird heute noch vertuscht?
Ja, wobei vieles wohl unbewusst abläuft. Etwa, wenn es um einen Mitbruder geht, mit dem man vielleicht gemeinsam das Seminar besucht hat. Man nimmt automatisch einen Mitbruder eher in Schutz als ein mutmassliches Opfer. Es heisst dann schnell: «Das kann doch nicht sein, das Opfer hat sicher übertrieben.» Wenn ein Bischof das so bewertet, ist das nicht akzeptabel.
Solches Verhalten zeugt doch von einer erschreckenden Empathielosigkeit.
Ja, für ein Opfer ist das furchtbar. Ihre Frage war: Kommt es heute noch zu Vertuschungen? Meine Antwort ist: ja. Das passiert bewusst oder unbewusst, eben weil man sich, andere oder die Kirche schützen will. Das kommt deshalb vor, weil niemand da ist, der die Folgen und Konsequenzen aufzeigt. Es müsste eine unabhängige Autorität geben, die Strafen aussprechen kann. Dann würde sich auch ein Bischof anders verhalten.
Erfährt ein Opfer davon, wenn ein Bischof einen Täter wegen eines sexuellen Übergriffs sanktioniert?
Nein, nicht zwingend. Ein Urteil wird als schriftliches Dekret dem Täter überreicht. Darin heisst es beispielsweise, ab Datum X ist er nicht mehr im priesterlichen Dienst oder des Amtes enthoben oder aus dem Klerikerstatus entlassen. Aber das wird nirgendwo veröffentlicht.
In der Schweiz ist die Justizöffentlichkeit in der Bundesverfassung verankert.
Das ist ein guter Vergleich. Die Veröffentlichung von Urteilen hat auch eine präventive Wirkung. In einem Rechtsstaat ist das eine grundlegende Pflicht. In der Kirche gibt es diese Pflicht nicht.
Ist die Kirche also kein Rechtsstaat?
Nein, die Kirche begreift sich oft als göttlicher Staat. Aber dagegen wehre ich mich. Die Kirche ist kein göttlicher Staat, sondern ein Staat, der das göttliche Recht benutzt, um seine eigene Macht zu festigen. Ich glaube nicht, dass Jesus diese Struktur angestrebt hat. Wir sind gewachsen durch das römische Recht. Die Bischöfe waren in der Geschichte meist auch weltliche Machtinhaber. Die Trennung der kirchlichen und der weltlichen Macht ist gar nicht so alt, der Prozess dauert bis heute. Vielleicht ist die Problematik der sexuellen Missbräuche eine Möglichkeit, diesen Trennungsprozess weiterzuführen. Vielleicht kommt die katholische Kirche jetzt zum Schluss, dass sie ihre Strukturen reformieren muss. Wir müssen uns fragen: Was ist unser Fundament, was wollte Christus? Dazu braucht es ein Konzil.
«Wir müssen die Missbräuche aufarbeiten. Aber solange die kirchliche Gesetzgebung nicht angepasst wird, wird dies nicht gelingen.»
Nicolas Betticher
Im Bistum Freiburg wurden um 2008 die ersten gravierenden Missbrauchsfälle publik. Weshalb begann man damals nicht unmittelbar mit der Aufarbeitung?
Am 3. Januar 2008 erhielt ich einen Telefonanruf eines französischen Journalisten. Er berichtete, im Fall des Kapuzinerpaters Allaz gebe es neue Fälle. Bereits am 30. Januar haben wir eine Anlaufstelle für Missbrauchsopfer vorgestellt, schneller ging es gar nicht. Aber die kirchliche Gesetzeslage erlaubte es nicht, dass die von uns eingesetzte Kommission auch richten konnte. Die Mitglieder der Kommission durften die Fälle nur untersuchen und mussten dem Bischof einen Rapport abliefern. Die Anlaufstelle, die wir damals einberufen haben, hat sehr sauber gearbeitet. Der Nachfolger von Bischof Genoud, Bischof Morerod, hat dieses Gremium aufgehoben und erst nach zwei Jahren eine neue diözesane Anlaufstelle eingesetzt.
Anlaufstellen sind nicht unabhängig, es ist unklar, ob ein Bischof ein Urteil fällt, und niemand vernimmt, wenn ein Priester sanktioniert wird. Das ist eine unhaltbare Situation. Will die katholische Kirche die Missbräuche gar nicht aufarbeiten?
Wir müssen die Missbräuche aufarbeiten. Aber solange die kirchliche Gesetzgebung nicht angepasst wird, wird dies nicht gelingen. Nur eine Person kann die Gesetzgebung ändern: der Papst. In Rom sieht man allerdings die Dringlichkeit anders. Das verstehe ich nicht. Klar, wenn der Papst etwas entscheidet, muss das auf der ganzen Welt angewendet werden. Und das kommt in Afrika oder Indien anders an. Aber man könnte es so formulieren, dass in Europa eine andere Haltung gilt hinsichtlich einer getrennten, unabhängigen Justiz. Zum Beispiel könnte man für die europäischen Bischofskonferenzen ein unabhängiges Gericht einführen. Wie das umgesetzt würde, müssten die Bischofskonferenzen selbst definieren. Das wäre ein riesiger Schritt. Man könnte in Europa beispielsweise fünf Gerichtssitze einrichten, wo jede Bischofskonferenz ihre Fälle einreichen könnte. Diese Gerichte wären unabhängig. Berufungsinstanz wäre Rom. Aber dazu braucht es halt eine Gesetzesrevision.
In Ihrem Buch beschreiben Sie die Situation in der katholischen Kirche als «Gefängnis der Angst». Meinen Sie damit die Untätigkeit der Kirche?
Ja, es ist die Angst, dass das brennende Haus plötzlich komplett zerfällt. Das ist eine legitime Angst und eine psychologische Realität. Aber es ist keine spirituelle Angst. Weil wir das Haus gar nie komplett zerstören können, denn es gehört uns gar nicht. (Er zeigt auf das Kruzifix an der Wand.) Er, der Retter, trägt dieses Haus und wird es immer schützen. Wenn es uns gehören würde, hätten wir schon längst kein Haus mehr. Das ist der beste Beweis, dass es Gott gibt.
Aber das Haus wird immer ein bisschen leerer?
Das ist eine andere Realität. Aber der Papst sagt, das stimme nicht. Weltweit hat die Zahl der Katholiken von 1,3 auf 1,4 Milliarden Menschen zugenommen. So gesehen geht es uns wunderbar. Oder wir tragen für Europa Verantwortung und setzen alles daran, dass sich die Kirchen nicht leeren. Da braucht es aber Glaubwürdigkeit im Agieren der Kirche.
Aktuell läuft in der Schweiz eine Pilotstudie zur Aufarbeitung der Missbräuche. Was erwarten Sie von dieser Studie?
Dass klar wird, wo die Informationslücken sind, wo die Probleme liegen und was die Gründe sind. Dann müssen die Bischöfe handeln. Der Papst selbst hat gesagt, wenn Medien helfen könnten, die Wahrheit zu finden, dann dankte er ihnen. Eigentlich ist es unbefriedigend, sogar schockierend, dass der Papst das sagen muss. Er könnte auch einfach die Gesetzgebung ändern. Das tut er aber nicht.
Weshalb hat sich in der katholischen Kirche nach 20 Jahren Debatte über sexuelle Missbräuche so wenig geändert?
Die fehlende Gewaltenteilung, die Allmacht der Hierarchie und der ungebremste Zentralismus sind Missbräuchen nicht gewachsen. Unsere Kirche muss sich verändern.
Hier finden Missbrauchsopfer der katholischen Kirche Hilfe:
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2 Kommentare
Eine wichtige Frage ist Pfarrer Betticher nicht gestellt worden : sieht er (k)einen Zusammenhang zwichen diesen sexuellen Missbräuchen und dem geforderten Zölibat der Priester ? Auch da müsste sich die Kriche ändern ...
Sexualstraftäter jeglicher Abart, gehören - ohne wenn und aber - vor Gericht gestellt und entsprechend hart von einer kompetenten Justiz bestraft = überlebende "Opfer sind lebenlang traumatisiert" = Täter gehören "lebenslang hinter Gitter" gesichert!!