9 Fakten zur Schweizer Demokratie
Sind wir wirklich die «älteste Demokratie der Welt»? Und wo sehen wir im globalen Vergleich nicht gut aus?
Veröffentlicht am 4. April 2024 - 14:49 Uhr
Kein Stimmrecht mehr ab 62. Denn wenn man in den ersten 18 Lebensjahren nicht wählen darf, soll man es auch in den letzten 18 nicht mehr dürfen. Dieser Vorschlag der Jungen Grünen war ein Aprilscherz – und hat in den sozialen Medien für erwartbar rote Köpfe gesorgt.
Für den Beobachter ein Anlass zu fragen: Wer darf eigentlich wählen und abstimmen in der Schweiz? Und kann man dieses Recht auch wieder verlieren?
Hier neun Fakten zu unserer Demokratie.
1. Die älteste Demokratie der Welt?
Die Schweiz rühmt sich gern, sie sei die älteste Demokratie der Welt. Und tatsächlich: Gemeinsam mit Frankreich führte die Schweiz 1848 vor fast allen andern (nur Griechenland war noch vier Jahre früher) – und erst noch friedlich – landesweit das allgemeine Wahlrecht ein. Zumindest für Männer.
Bis heute ist bei den über 60-Jährigen die Stimmbeteiligung der Männer 20 Prozent höher als die der Frauen.
Eine echte Demokratie war die Schweiz damit aber noch nicht. Nicht nur waren die Wahlen von 1848 ein gehöriges Gemurks. Es hat auch nirgendwo sonst länger gedauert als bei uns, bis auch die Frauen 1971 politisch integriert wurden – ganze 123 Jahre nach den Männern.
Bis heute ist bei den über 60-Jährigen die Stimmbeteiligung der Männer 20 Prozent höher als die der Frauen. Bei den Jüngeren hingegen gibt es kaum Unterschiede.
2. Mitmachen erst ab 20 Jahren?
Fast vergessen, aber noch nicht so lange her: Bis 1991 lag das Stimmrechtsalter in der Schweiz bei 20 Jahren. Noch 1979 war eine Senkung auf 18 in der Volksabstimmung knapp verworfen worden. Darauf kämpften die Befürworter auf kantonaler Ebene weiter. Bis 1991 hatten dann schon 16 Kantone das Stimm- und Wahlrechtsalter auf 18 herabgesetzt.
Die Devise: Wenn man 18-Jährige in den Krieg schicken kann, sind sie auch alt genug, um zu wählen.
Alles in allem war die Schweiz wie üblich etwas spät dran. Viele andere Länder hatten spätestens im Rahmen der 68er-Bewegung das Wahlalter gesenkt. Die Devise: Wenn man 18-Jährige in den Krieg schicken kann, sind sie auch alt genug, um zu wählen.
3. Nur für geistig Gesunde?
In der Schweiz stehen die politischen Rechte allen Staatsbürgerinnen und -bürgern ab 18 Jahren zu. Ausgenommen sind Menschen, «die wegen dauernder Urteilsunfähigkeit unter umfassender Beistandschaft stehen oder durch eine vorsorgebeauftragte Person vertreten werden» – eine Regel, die zu reden gibt. Rund 16’000 Personen sind davon laut Schätzungen des Bundes betroffen.
Behindertenverbände kritisieren schon länger, dass dies die Europäische Menschenrechtskonvention und die Uno-Behindertenrechtskonvention verletzt, die Menschen mit Behinderung gleiche politische Rechte zusichern. Das hat auch der Bund in einem Bericht vom Oktober 2023 anerkannt und verschiedene Alternativen zur Regel vorgeschlagen. Das Parlament ist nun am Zug.
4. Kann das Stimmrecht entzogen werden?
In Frankreich, Österreich oder anderen Ländern kann Bürgerinnen und Bürgern das Stimmrecht aberkannt werden – durch ein Gericht. In Deutschland etwa wegen Wahlbetrug, Bestechung von Abgeordneten, Landesverrat oder Sabotagehandlungen – und wegen «Vorbereitung eines Angriffskrieges und Hochverrat gegen den Bund».
In der Schweiz dürfen Wahlbetrüger und Verräterinnen munter weiterwählen.
In der Schweiz gibt es keine solchen Möglichkeiten – Wahlbetrüger und Verräterinnen dürfen munter weiterwählen. Wer das Stimm- und Wahlrecht einmal hat, kann es nur verlieren, wenn er unmündig wird oder seine Staatsbürgerschaft verliert.
5. Nur für Staatsbürger?
Auch die Beschränkung des Stimmrechts auf Staatsbürgerinnen und -bürger ist ein regelmässiger Streitpunkt. Es gibt zwar ausser Neuseeland kein Land mit allgemeinem Stimmrecht für ausländische Einwohnerinnen und Einwohner. Doch an wenigen Orten sind davon so viele Menschen ausgeschlossen wie in der Schweiz: 26 Prozent der hiesigen Wohnbevölkerung haben keine Schweizer Staatsbürgerschaft. Nur Luxemburg hat in Europa einen höheren Ausländeranteil.
Umgekehrt sind von den über 800’000 Auslandschweizerinnen und -schweizern mehr als 210’000 im Stimmregister eingetragen und dürfen so an Abstimmungen und Wahlen teilnehmen – obwohl sie nicht in der Schweiz wohnen und auch nicht hier Steuern zahlen.
6. Bald Stimmrechtsalter 16?
In der Schweiz hat das Parlament das Stimmrechtsalter 16 nach jahrelanger Debatte kürzlich versenkt. Glarus bleibt bis auf weiteres der einzige Kanton, in dem 16-Jährige mitreden dürfen.
Anders in der EU: Das Europaparlament hat 2020 empfohlen, das Wahlalter für Europawahlen auf 16 zu senken. Das haben einige Länder wie Deutschland oder Belgien auch getan.
In den USA dürfen mehr als 4,4 Millionen Menschen nicht wählen.
In Österreich gilt seit 2007 und in Malta seit 2018 gar Wahlalter 16 im Inland. Dass das Mindestalter zuerst für EU-Wahlen gesenkt wird, hat seinen Grund: Die Regeln dafür sind oft einfacher zu ändern als die in der Verfassung verankerten Rechte für nationale Wahlen.
7. Wahlkampf aus dem Gefängnis?
In den USA verlieren Personen vielerorts ihr Wahlrecht, wenn sie für ein Verbrechen verurteilt werden. 2022 durften deshalb 4,4 Millionen Menschen – rund zwei Prozent der Wahlbevölkerung – nicht wählen.
Auch in der Schweiz konnte man lange vom Stimmrecht ausgeschlossen werden wegen strafrechtlicher Verurteilung oder einer finanziell prekären Situation. Erst seit 1971 können auch Armutsbetroffene und Gefängnisinsassen alle ihre politischen Rechte wahrnehmen. Theoretisch haben sie sogar das passive Wahlrecht – sie könnten aus dem Gefängnis zur Wahl antreten. Gemacht hat das, soweit bekannt, aber noch nie jemand.
Bei der Stimm- und Wahlbeteiligung liegt die Schweiz weltweit auf einem der hintersten Plätze.
8. Muss man abstimmen?
Mitmachen muss in der Schweiz niemand – ausser in Schaffhausen. Dort gilt bis heute eine Stimmpflicht. Wer eine Abstimmung oder Wahl verpasst, wird pro Abstimmung mit sechs Franken gebüsst. Schaffhausen hat deshalb regelmässig die höchste Wahlbeteiligung im Land.
9. Zu zufrieden?
Die Schweizerinnen und Schweizer sind mit ihrer Demokratie so zufrieden wie fast kein anderes Land, zeigte 2022 eine Studie. Paradoxerweise sind wir auch eines der Länder, die ihre Demokratie am wenigsten nutzen: Die Stimm- und Wahlbeteiligung liegt hier oft unter 50 Prozent. Damit sind wir weltweit auf einem der hintersten Plätze und weit abgeschlagen von unseren Nachbarländern, die Teilnahmeraten von rund 75 Prozent haben. Dieses Paradox erklärt die Forschung so: In anderen Ländern sind die Wahlen alle paar Jahre die einzige Möglichkeit, sich zur Politik zu äussern. In der Schweiz kann man das andauernd in Abstimmungen und hat so zu wichtigen Sachfragen das letzte Wort. Wahlen sind den Stimmbürgern deshalb nicht so wichtig. Stattdessen nehmen Schweizerinnen gezielt an Abstimmungen zu Themen teil, die ihnen wirklich am Herzen liegen. So ist die Beteiligung an einzelnen Abstimmungen zwar meistens auch tief – insgesamt nehmen aber nur 20 Prozent der Bevölkerung an gar keinen Abstimmungen teil.
Um die Motivation der Nichtwähler besser zu verstehen, hat der Beobachter sechs davon porträtiert.
4 Kommentare
Kanton Aargau: NEIN zum Stimmrechtsalter 16!
Noch mehr unbedarfte Stimmbürger:innen? Solange die Schule dem staatsbürgerlichen Unterricht einen so niedrigen Stellenwert beimisst wie bis heute, kann nicht erwartet werden, dass Schüler:innen mit Null-Berufserfahrung kompetent politisch mitreden können. Zudem kann man erst mit zunehmendem Alter schleichende, erst langfristig erkennbare negative Entwicklungen der Wirtschaft und Gesellschaft angemessen beurteilen. Das wissen viele Junge selbst. Ein weiterer Grund für die tiefe Stimmbeteiligung der Jungen.
Tiefe Wahlbeteiligung im Kanton Aargau: Wohlstandsverwahrlosung!
Die Wahlbeteiligung bei den Grossratswahlen im Kanton Aargau betrug lediglich 32,65% (BS: 41,32%). Das hat viele Gründe: Wer sich nicht ständig und vertieft mit der schweizerischen Politik beschäftigt, ist entweder von der Argumentationskanonade der Parteien und Medien verwirrt und bleibt deshalb der Urne fern, oder er interessiert sich überhaupt nicht für Politik.
Die Auseinandersetzung mit Politik müsste schon im Elternhaus einen grossen Stellenwert haben. In der Schule wird Politik entweder gar nicht oder nur trocken als Vermittlung der bestehenden Institutionen (Staatskundeunterricht) behandelt. Die Lehrerschaft scheut grösstenteils eine lebendige, kontroverse Diskussion politischer Themen aus Angst vor negativen Reaktionen der Elternschaft. Ohne vertiefte politische Bildung wird die direkte Demokratie in der Schweiz aber zum PR-Spielball oder überhaupt verschwinden.
Bei emotional aufgeladenen Abstimmungen (zum Beispiel Minarett- oder Ausschaffungsinitiative) stieg die Stimmbeteiligung schon über 50%. Das führt oft zu überraschenden Ergebnissen, die mit den Mehrheiten in Exekutiven und Parlamenten nicht übereinstimmen. Wie wären wohl die Resultate, wenn die Nicht-Abstimmenden - durch eine Kampagne angestachelt - auch zur Urne gingen? Das könnte zu politischen Turbulenzen führen.
Mit einem Steuerabzug oder der Verlosung eines Preises könnte ein Anreiz gesetzt werden, an die Urne zu gehen. Vielleicht brauchen wir aber doch wieder den Stimmzwang.
Für mich persönlich ist unsere Demokratie mehr Schein als Sein. Wir können zwar abstimmen, die Frage ist ob die Abstimmung dann auch umgesetzt wird. Wir haben es ja selbst erlebt dass dem nicht so ist. Da ist nichts Schönzureden. Wenn die Abstimmung im Sinne unsern Bundesräte / innen genehm ist wird diese per sofort oder noch schneller umgesetzt. Es gibt Abstimmungen die nie umgesetzt wurden, oder erst sehr viel später, Zum Beispiel 13 AHV warum braucht die Umsetzung fast drei Jahre? Die angeblich so reiche Schweiz. Es glaubt wohl heute niemand mehr das Rentner in Saus und Braus leben können, ausser unsere Politiker. Also ich halte nichts von unserer angeblichen Demokratie..
Schweiz: Die direkte Demokratie ist bedroht!
In einem Interview mit der NZZ am Sonntag meint der Historiker Oliver Zimmer, dass ein Teil der «eigenen Elite» in der Schweiz nicht überzeugt hinter der direkten Demokratie stehe und sich elitär präsentiere. Dem gegenüber stehe ein «guter Populismus», wie ihn die SVP mehrheitlich pflege. Sie belebe den «demokratischen Diskurs, weil sie Klarheit über Positionen schafft».
Es liege kein Widerspruch darin, Probleme auch «pointiert zu benennen», so Zimmer. Für ihn müssten darin «gewisse bürgerliche Politiker markant zulegen». Das gelte beispielsweise für die Zuwanderungsfrage. Man sei nicht einfach rassistisch, wenn man Probleme mit der Migration thematisiere.