Antisemitismus erwiesen – Raiffeisenplatz soll umbenannt werden
Eine Gruppe fordert, den «Roten Platz» als Wahrzeichen der St. Galler Innenstadt umzubenennen – in «Recha-Sternbuch-Platz». Anlass ist die aufgearbeitete antisemitische Vergangenheit des Bankgründers und Namensgebers Friedrich Wilhelm Raiffeisen.
Veröffentlicht am 9. Juni 2023 - 15:42 Uhr
Wie ein roter Teppich liegt das dichte Gummigranulat auf der 2644 Quadratmeter grossen Fläche der St. Galler Innenstadt. Über Stühlen, Bänken und sogar einem Auto. Es ist ein Kunstprojekt, das der Fussgängerzone seit 2005 das Gefühl eines «Outdoor-Wohnzimmers» vermitteln soll.
Im Volksmund «Roter Platz» genannt, steht im Grundbuch «Raiffeisenplatz», von der Stadt nach dem Bankenpionier Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888) benannt. Das soll sich nun ändern, fordert eine Gruppe um den Historiker und Stadtführer Hans Fässler – in «Recha-Sternbuch-Platz». Denn wie eine im Jahr 2018 erschienene Biografie anlässlich des 200. Geburtstags von Raiffeisen verdeutlicht, hat der Gründer der Raiffeisen Genossenschaftsbank eine antisemitische Vergangenheit.
Raiffeisen und die Schweiz
Die Ursprünge der Raiffeisenbank gehen auf den Deutschen Friedrich Wilhelm Raiffeisen zurück. Als Pionier des Genossenschaftswesens, das mittellose Bauernfamilien mit Krediten unterstützen sollte, gründete er in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts die Spar- und Darlehenskasse, später Raiffeisenkasse genannt. Die Idee der Selbsthilfe und Solidarität fand später auch in der Schweiz Anklang. Im Jahr 1899 gründete der Pfarrer Johann Traber am Bichelsee im Thurgau die erste Raiffeisenkasse der Schweiz. Seit 1912 befindet sich der Hauptsitz der Raiffeisenbank Schweiz in St. Gallen.
Der Platz rund um den Schweizer Hauptsitz der Raiffeisenbank wurde im Jahr 2005 anlässlich der Raiffeisen-Überbauung neu eröffnet. Die Gestaltungsidee kam im Rahmen eines Wettbewerbs von der Künstlerin Pipilotti Rist und dem Architekten Carlos Martinez.
Raiffeisens antisemitische Vergangenheit
Inzwischen kämpft die Künstlerin Rist selbst zusammen mit Fässler, alt Ständerat Paul Rechsteiner und weiteren fünf Personen, darunter drei jüdischen Glaubens, seit über zwei Jahren für eine Umbenennung des Platzes. Mit einem nicht öffentlichen Brief, der dem Beobachter vorliegt, wandte sich die Gruppe im Jahr 2021 an die damalige St. Galler Stadtpräsidentin Maria Pappa.
Darin machen sie Raiffeisens antisemitische Haltung deutlich. Denn der deutsche Bankengründer äusserte sich in einem fünfseitigen Aufsatz über «die Judenfrage» und sah die Vertreibung jüdischer Menschen aus Spanien als eine gerechte Strafe. In einer Rede zum 50. Todestag Raiffeisens lobten die Nazis ihn gar dafür, dass er «das deutsche Bauerntum frei gemacht [hat] aus den Klauen der jüdischen Zinswucherer».
Der St. Galler Platz dürfe nicht einen Antisemiten ehren, sondern eine Frau mit historischer Bedeutung: Recha Sternbuch (1905–1971). Die Jüdin und St. Gallerin rettete in der Zeit des Nationalsozialismus zahlreichen Flüchtlingen das Leben.
Raiffeisen gibt Untersuchung in Auftrag
Ende Mai wandte sich die Gruppe nun mit einer Medienkonferenz an die Öffentlichkeit. Man habe bisher versucht, ohne öffentlichen Druck auf die Situation aufmerksam zu machen. Die Stadt sei zu Beginn der Idee gegenüber «nicht abgeneigt» gewesen. Trotzdem wurde das Thema verschleppt.
Die Raiffeisenbank, so Fässler, sei nicht offen für Gespräche gewesen. «Wir vermuten darum, dass die Bank den Umbenennungsprozess aus Angst um ihren Ruf gebremst hat.» Deshalb sei man nun an die Öffentlichkeit gegangen, um Druck auf die Verantwortlichen zu machen.
Wie der Raiffeisen-Mediensprecher Jan Söntgerath auf Anfrage schreibt, stand man in schriftlichem Austausch mit der Gruppe. Für Raiffeisen ist es aber wichtig, die eigene Geschichte zu dokumentieren. Darum sei das Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich beauftragt worden, die Geschichte der Raiffeisenbewegung in der Schweiz von ihren Anfängen bis 1950 aufzuarbeiten und zu untersuchen, inwiefern Antisemitismus eine Rolle spielte. Obwohl der Fokus auf der Schweiz liege, werde der Bericht «voraussichtlich auch den aktuellen Forschungsstand zu Friedrich Wilhelm Raiffeisen aufgreifen», heisst es weiter. Die Erkenntnisse sollen voraussichtlich nächstes Jahr vorliegen.
Fässler erwartet von der Analyse keine neuen Erkenntnisse. Vielmehr vermutet er, dass auch bei Raiffeisen Schweiz antisemitische «Würzelchen» zu finden sind und «der Antisemtismus von Friedrich Wilhelm Raiffeisen klar heraustreten» wird. «Dessen Geschichte lässt sich nicht verneinen», sagt Fässler.
Kontextualisierung reicht nicht
Auf die Frage, ob eine Kontextualisierung, also die Einordnung früherer Inhalte in die Gegenwart, zur Aufklärung von Raiffeisens Vergangenheit reicht, meint Fässler: «Als Historiker bin ich nicht der Meinung, dass immer alles wegmuss. Eine Kontextualisierung ist in gewissen Fällen also eine akzeptable Lösung. Doch in diesem Fall wird es schwierig.»
Gleich angrenzend an den Platz steht eine Synagoge, die von jüdischen Menschen besucht wird. «Dass sie dabei an einem Platz, benannt nach einem Antisemiten, vorbeikommen und dies so hinnehmen müssen, macht die Umbenennung noch drängender», sagt Fässler. Auch eine Kontextualisierung in Form einer erklärenden Tafel mit QR-Code reiche nicht aus.
Entscheid liegt beim Stadtrat
Der Raiffeisenplatz gehört der Stadt St. Gallen. Somit hat der Stadtrat das letzte Wort im Entscheid, und die Bank muss sich fügen. «Raiffeisen ist es aber ein Anliegen, dass sich der Stadtrat bei der Prüfung des Gesuches zur Umbenennung auf eine umfassende Analyse stützt», schreibt Raiffeisen-Mediensprecher Söntgerath.
Die Gruppe um Fässler ist derweil optimistisch, was die Umbenennung des Platzes betrifft: «Wir sind überzeugt, dass die Stadt der Namensänderung in Recha-Sternbuch-Platz zustimmen wird.» Wann genau, können die Mitglieder aber noch nicht sagen. Möglicherweise in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres. Gemacht sei es schnell, so Fässler, denn die Adressänderung betreffe hauptsächlich die Bank. Und eine Änderung im Grundbucheintrag dürfte «im digitalen Zeitalter keine grosse Sache mehr sein».
2 Kommentare
Einmal mehr könnte man meinen, dass nur Juden unter der deutschen Schreckensherrschaft gelitten haben. Mein Vater Gino Turolla-Muster hat während des 2. Weltkriegs als Partisan in den Bergen Carraras (gotische Linie) gekämpft, dies bis zum Schluss gemeinsam mit den britischen Alliierten. Danach, nach seiner Fortbildung als Schweisser-Schlosser und erprobter Fachmann in einer grossen Hochseeschiffswert La Spezias wurde er von einer Schweizer Firma in Nidau bei Biel angeheuert, um in unserem Land insbesondere der schweizerischen Nuklearindustrie zu dienen. Frau Madelaine Albright, US-amerikanische Politikerin hatte es einst beim Berger-Bericht zu recht oder unrecht auf den Punkt gebracht. Die Schweizer Industrie war nach dem Krieg so klug, die besten Fachkräfte aus allen umliegenden, kriegsversehrten Ländern zum Eigennutz zu holen, wo doch diese Länder es eigentlich dringend nötig gehabt haben, Fachspezialisten für den Wiederaufbau Europas in deren eigenen Ländern einzusetzen. Dieser rote Platz in St. Gallen könnte somit gar Gino-Turolla-Platz heissen. Aber bleiben wir doch in unseren engsten Breitengraden stehen, am besten sogar in St. Gallen selbst. Wie viele Juden hatte der während des Krieges in St. Gallen eingesetzte Polizeihauptmann Paul Ernst Grüninger gerettet, der am Schluss von seinem eigenen Land während Jahrzehnten nach dem Krieg noch "am Pranger" hing. Da könnte der Kanton St. Gallen wirklich eine versöhnende Geste gegenüber diesem Mann und seiner Familie leisten, indem dieser Platz in "Paul-Grüninger-Platz" umgetauft würde.
Einen Grüningerplatz, benannt nach Paul Grüninger, gibt es bereits in St. Gallen!