Bald mehr Macht als die Polizei
Sozialversicherungen sollen Unfallopfer und Invalide besser überwachen können und dafür bedeutend mehr Macht bekommen. Dabei braucht es das gar nicht.
aktualisiert am 8. Juni 2017 - 11:14 Uhr
Die Privatdetektive der Unfallversicherung Concordia verfolgten, filmten und fotografierten Cornelia Bundi* im vergangenen Juli während acht Tagen. Im Überwachungsbericht schrieben die Beschatter etwa: «Hat lebhaft und freudig gesprochen.» Mit solchen Aussagen sollte die ärztliche Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung umgestossen werden. Bundi ist Opfer eines Überfalls. Der Täter hat ihr die Pistole an den Kopf gehalten und in die Luft geschossen.
Nach der Observierung schickte die Versicherung Bundi eine Rechnung über CHF 14'641.20 für die Kosten der Überwachung. Sie zahlte nicht und nahm sich einen Anwalt. Monate später löschte die Concordia den Detektivbericht aus den Akten und schrieb, die Überwachung sei «unrechtmässig erfolgt».
Das machte die Concordia allerdings nicht ganz freiwillig. Im vergangenen Oktober hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schweiz für verdeckte Ermittlungen in einem ähnlichen Fall verurteilt. Es fehle die rechtliche Grundlage, Bezüger von Sozialversicherungsleistungen bei Missbrauchsverdacht zu observieren, sagten die Richter. Auch wenn sich im vorliegenden Fall die Beschattung nur auf öffentlichem Grund abgespielt hatte, hätten die Detektive der Unfallversicherung das Recht auf Achtung des Privatlebens verletzt.
Unfallversicherer wie die Suva stellten darauf alle Beschattungen ein. Das Urteil aus Strassburg hatte selbst im Bereich der Sozialhilfe Folgen: Zwei Zürcher Bezirksgerichte anerkannten heimlich gemachte Foto- und Videoaufnahmen nicht mehr als Beweise. Und die Stadt Zürich stellte die verdeckte Überwachung von verdächtigen Sozialhilfebezügern ein. Denn Zürich hat bis heute solche Observationen nicht gesetzlich geregelt.
Im Bundeshaus brach nach dem Urteil aus Strassburg Hektik aus. In nur vier Monaten zauberte das Bundesamt für Sozialversicherungen einen Überwachungsparagrafen aus dem Hut. Dieser soll die rechtliche Grundlage bilden, deren Fehlen die Strassburger Richter bemängelt hatten. Den Entwurf schickte das Amt in die Vernehmlassung, die Ende Mai endete. Die Stellungnahmen werden nun geprüft, allenfalls wird die Vorlage überarbeitet. Nächsten Frühling soll das Parlament entscheiden. Drei Punkte wurden in der Vernehmlassung besonders scharf kritisiert:
- Fehlende Kontrollen
«Das Gesetz ist ein Freibrief für Versicherungen», sagt die Zürcher Juristin Monika Wehrli vom Anwaltsbüro Stolkin, das das Strassburger Urteil erwirkt hatte. Ein einzelner Versicherungsmitarbeiter könne eine Bespitzelung einleiten, sobald er bei einem Missbrauchsverdacht mit anderen Abklärungen nicht mehr weiterkomme. «Es gibt keinen Richter, der die Rechtmässigkeit einer Observierung überprüft», so Wehrli. Im Gegensatz dazu müsse sich die Polizei an die Strafprozessordnung halten, die detailliert regle, wer wann überwachen dürfe. «Damit haben die Versicherungen mehr Macht als die Polizei. Ein mutmasslicher Schwerverbrecher ist vor einer Observierung besser geschützt als ein Versicherter», so Wehrli. Das Gesetz sei Ausdruck des Sparfanatismus bei der IV.
- Detektive weniger wertneutral
Rechtsanwalt Pierre Heusser, der auch Vertrauensanwalt der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht ist, unterstützt einen harten Kurs gegen Versicherungsbetrüger. «Wer bei der Unfallversicherung, der IV oder dem Sozialamt Leistungen erschleicht, soll verfolgt und bestraft werden.» Aber es sei Sache der Polizei, Betrügern das Handwerk zu legen. «Privatdetektive arbeiten weniger neutral und kompetent. Sie sind anders motiviert als Polizisten und denken an den nächsten Auftrag», sagt Heusser. Die Polizei gehe wertneutraler an die Arbeit. «Es gibt ja auch keine Privatdetektive, die Bauern beschatten und filmen, um einen Subventionsmissbrauch zu beweisen.»
Die Stadt Winterthur arbeitet genau aus diesen Gründen nicht mit Privatdetektiven zusammen. Bei einem Verdacht auf Sozialhilfemissbrauch erteilt der Sozialdienst der Polizei einen Abklärungsauftrag. «Wir halten diese Lösung für rechtsstaatlich korrekt. Das Gewaltmonopol liegt bei der Polizei», sagt Katharina Rüegg vom Winterthurer Sozialdepartement. Die Polizei werde vom Sozialdienst entsprechend entschädigt.
- Überwachung auf privatem Grund
Das Gesetz erlaubt Überwachungen, die weiter gehen als bei Straftätern. Es ermöglicht verdeckte Foto- und Filmaufnahmen nicht nur auf öffentlichem Grund, sondern auch an Orten, die «von einem allgemein zugänglichen Ort frei einsehbar sind». Die Wohnung, das Treppenhaus und die Waschküche sind für die privaten Schlapphüte zwar tabu. Doch ein Detektiv dürfe mit dem geplanten Gesetz den Garten und den Balkon eines Versicherten überwachen, sagt Ursula Schaffner von der Behindertenorganisation Agile. «Die Polizei darf das in einem Strafverfahren nicht. Sie kann nur auf öffentlichem Grund observieren», kritisiert die Juristin.
Weitere Streitpunkte: Der Entwurf erlaubt nur Fotos sowie Filmaufnahmen ohne Ton. Die IV-Stellen-Konferenz will hingegen auch Tonaufnahmen machen sowie GPS-Tracker heimlich an Autos anbringen können. Nur so könnten Fahrzeugbewegungen überwacht oder eine falsche Lärmempfindlichkeit aufgedeckt werden, heisst es in der Stellungnahme. Der Schweizerische Versicherungsverband wiederum will die Dauer der Überwachung nicht begrenzen. Im Gesetzesentwurf sind Überwachungen nur an 20 Tagen in drei Monaten erlaubt. Allerdings können Verlängerungen beantragt werden.
In der Diskussion um Sozialhilfemissbrauch wird eines oft vergessen: Es geht auch ohne Detektive. «Die Stadt St. Gallen unternimmt grosse Anstrengungen, Sozialhilfemissbrauch zu verhindern, ohne Sozialdetektive einzusetzen», sagt Heinz Indermaur, Leiter der Sozialen Dienste. Obwohl ein kantonales Gesetz das ermöglichen würde.
Der St. Galler Sozialdienst mache aber unter Umständen mit dem Einwohneramt oder der Stadtpolizei unangemeldete Hausbesuche. Auch Hinweisen wegen Schwarzarbeit gingen die Mitarbeiter ohne Hilfe von Detektiven nach. Indermaur ist überzeugt, dass mit dem strengen städtischen Kontrollsystem Missbräuche wirksam verhindert werden.
*Name geändert
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