Thalwil am Zürichsee, der 10. September 2020. Die letzten Sonnenstrahlen wärmen den Platz, Menschen strömen in die reformierte Kirche. Keine Messe steht an, sondern die Gemeindeversammlung. Es wird über Wichtiges verhandelt: die Neugestaltung des Seeufers, eine neue Grossüberbauung beim Bahnhof. 

Schon zwei Mal wurde die Versammlung wegen Corona abgesagt. Diesmal soll es endlich klappen. Es gibt ein strenges Sitzplatzregime, Registrierung, Maskenpflicht – und zwei Standorte. Von der Kirche wird alles direkt in den Saal des Gemeindehauses übertragen. Auch der füllt sich.

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Gemeindepräsident Märk Fankhauser müsste sich freuen über so viel Interesse. Doch er tigert zunehmend unruhig hin und her. Nach einer Stunde zeichnet sich ab: Die 600 Sitzplätze reichen nicht aus; gegen 200 Leute stehen noch draussen. Fankhauser bricht die Veranstaltung ab, bevor sie überhaupt begonnen hat.

Sie wird auf den 29. Oktober verschoben, diesmal auf drei Standorte verteilt mit 1200 Sitzplätzen. Doch neun Tage vor dem Termin zieht der Gemeinderat die Reissleine. «Viele Leute meldeten Bedenken an, Schutzkonzept hin oder her», sagt Fankhauser. Zudem war ein Stimmrechtsrekurs eingegangen: Personen, die zur Corona-Risikogruppe gehören, würden in ihren politischen Rechten beschnitten. Thalwil hat bis heute rund 30'000 Franken für die Gemeindeversammlung ausgegeben, die nie stattgefunden hat.

Es drohen Beschwerden

Damit ist die Zürcher Gemeinde wohl ein Sonderfall. Was die Probleme rund um Corona angeht, hingegen nicht. Viele Gemeinden stecken in der Zwickmühle. Das Problem: Der Bundesrat hat Gemeindeversammlungen explizit vom Versammlungsverbot ab 50 Personen ausgenommen. Sie können stattfinden – theoretisch. Aber wo Brisantes auf der Traktandenliste steht und man mit einem Grossaufmarsch rechnet, wird es schwierig. Man riskiert Beschwerden und ungültige Resultate.

Das zeigte sich in den Berner Gemeinden Rümligen und Roggwil, wo es im Spätsommer um wichtige Geschäfte ging. Die Resultate waren knapp. An beiden Orten kam es im Nachgang zu Beschwerden. Angeblich waren viele Menschen aus Sorge vor einer Ansteckung zu Hause geblieben oder machten beim Anblick der Menschenmassen kehrt. Auch in Graubünden rauchen die Köpfe: Gemeinden erkundigten sich beim Kanton, was zu tun sei, wenn sich viele Stimmberechtigte in Quarantäne befinden.

Notverordnungen in einigen Kantonen

Die Gemeinden stehen unter Druck. Bis Ende Jahr müssen die Budgets für 2021 genehmigt sein. Die einfachste Lösung: Man stimmt einfach mal an der Urne ab. Doch so simpel ist das nicht. Oft verbietet das die Gemeindeordnung. Und die lässt sich meist nur an einer Gemeindeversammlung ändern. Im Kanton Zürich schreibt sogar das Gemeindegesetz vor, dass das Budget zwingend vor die Gemeindeversammlung muss.

Einige Kantone haben reagiert und Notverordnungen erlassen. Sie erlauben es den Gemeinden, ausnahmsweise Urnenabstimmungen durchzuführen. Doch auch das ist nicht ganz ohne: Abstimmungen benötigen Vorlauf. Sie müssen bis zu vier Wochen im Voraus angekündigt werden. Es braucht eine Botschaft, die auch die Argumente allfälliger Gegner einer Vorlage wiedergibt. Das alles muss geschrieben, gedruckt und versandt werden.

Auch müssen die Stimmcouverts früh genug im Briefkasten sein. Die Fristen unterscheiden sich je nach Kanton und sogar auch Gemeinde. Ein Problem sind die eidgenössischen Volksabstimmungen am 29. November, weil dann womöglich zwei Couverts gleichzeitig im Haushalt wären. Es könnte Verwechslungen geben – und entsprechende Stimmrechtsbeschwerden.

Besonders heikel sind Urnenabstimmungen, wenn der Gemeinderat den Steuerfuss erhöhen will. «An einer Gemeindeversammlung erreicht man viel eher eine Akzeptanz für Steuererhöhungen als an der Urne», sagt Jörg Kündig, Präsident des Verbands der Zürcher Gemeindepräsidien. Diese Gemeinden riskieren also entweder eine Beschwerde, weil Stimmberechtigte wegen Corona nicht teilnehmen können, oder eine Ablehnung an der Urne. Sie müssten mit einem Notbudget ins neue Jahr starten und könnten nur noch zwingende Ausgaben tätigen.

Rechtslage ist unklar

Ob die Beschwerden juristisch eine Chance haben, ist unklar. Muss man beweisen, dass viele Menschen zu Hause geblieben sind? Falls ja: Wie soll das gehen? Ab wie vielen Stimmberechtigten in Quarantäne ist eine Gemeindeversammlung nicht mehr legitim? «Alles sehr spannende Fragen. Wir haben darauf keine Antworten, diese Situation gab es noch nie», sagt Daniel Arn vom Verband Berner Gemeinden. Arn ist Rechtsanwalt und auf Verwaltungsrecht spezialisiert. Er berät Gemeinden und hat derzeit alle Hände voll zu tun. Sein Rat: «Ich plädiere momentan eher für Urnenabstimmungen.»

In Roggwil tut man genau das: Statt der eigentlich auf den 7. Dezember angesetzten Gemeindeversammlung lässt der Gemeinderat am 20. Dezember an der Urne über das Budget abstimmen. Dank einer Sonderregelung ist dies im Kanton Bern aktuell ohne spezielles Gesuch möglich. Roggwil nutzt diese Gelegenheit. «Wir legen viel Wert auf den direkten Austausch, möchten aber nicht gleich die nächste Beschwerde riskieren», sagt Gemeindepräsidentin Marianne Burkhard.

Auch in Thalwil hat sich der Gemeinderat gegen die Versammlung und für eine Urnenabstimmung zum Budget 2021 entschieden. Diese wäre jedoch frühestens Ende Januar möglich. Denn zuerst muss der Zürcher Kantonsrat dem vom Regierungsrat hierzu erlassenen befristeten Gesetz zustimmen. Ob auch die umstrittenen Seeufer- und Bahnhofspläne an die Urne verlegt werden dürfen, ist unklar. Das geht nur, wenn sie als dringlich gelten.

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