Es gibt ein hübsches Ritual im Kanton Thurgau, und das geht so: Alle paar Monate stimmen die Mitglieder des Grossen Rats über die neuen Einbürgerungsgesuche ab. Danach gibt es einen Apéro, bei dem die frisch eingebürgerten Thurgauerinnen und Thurgauer mit den Mitgliedern der Justizkommission anstossen. Ein herzliches Willkommen im Thurgau, eine warme Geste. 

Auch am Mittwoch, 19. Februar, fand ein Apéro statt. Trotzdem wehte ein eisiger Wind im Thurgauer Kantonsparlament. 107 Gesuche wurden angenommen. Nur ein einziges Gesuch, Nummer 81, wurde abgelehnt. Talal Aldroubi, der die Abstimmung zu Hause am Computerbildschirm verfolgte, bleibt der Schweizer Pass vorerst verwehrt. 

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Abstimmungsergebnis zu Gesuch Nummer 81: Eine Mehrheit lehnt das Einbürgerungsgesuch ab.

Abstimmungsergebnis zu Gesuch Nummer 81: Eine Mehrheit lehnt das Einbürgerungsgesuch ab.

Quelle: Screenshot Livestream Grosser Rat Thurgau.

Damit geht ein unwürdiges Schauspiel in die Verlängerung, das landesweit für Schlagzeilen sorgt. Auch der Beobachter berichtete. Aldroubi kämpfte bis vor Bundesgericht für seine Einbürgerung – und erhielt im Oktober 2023 recht. Der Syrer und zweifache Familienvater erfüllt sämtliche Voraussetzungen, um Schweizer Bürger zu werden. So entschied es das höchste Gericht. 

Bundesgericht erklärte Argument für «willkürlich»

Allein: Die Justizkommission des Kantons Thurgau und der Grosse Rat sehen das anders. Eine knappe Mehrheit der Kommission pochte im Vorfeld der Abstimmung auf «geordnete finanzielle Verhältnisse» und empfahl dem Grossen Rat, das Gesuch wegen einer ausstehenden Schuld Aldroubis von 11’500 Franken abzulehnen. Der Grosse Rat folgte diesem Antrag mit 72 zu 42 Stimmen. 

Dabei hatte das Bundesgericht exakt dieses Argument als «willkürlich» entkräftet. Der Syrer hatte einen Teil der Schuld bereits abgezahlt. Wenn jemand integriert sei wie Aldroubi und so gut Deutsch spreche, dann müsse das im Sinne der Gesamtbetrachtung gewürdigt werden. 

Raphaela Cueni, Staatsrechtsprofessorin Universität St. Gallen.

Raphaela Cueni kritisiert den Thurgauer Entscheid scharf.

Quelle: Privat

«Ein Bundesgerichtsurteil ist nicht einfach ein unverbindlicher Vorschlag.»

Raphaela Cueni, Staatsrechtsprofessorin, Universität St. Gallen

«Die Ablehnung dieses Gesuchs ist rechtsstaatlich höchst problematisch», findet die Professorin und Staatsrechtlerin Raphaela Cueni von der Universität St. Gallen. «Wenn ein Kantonsparlament findet, es brauche einem Bundesgerichtsentscheid keine Folge zu leisten, ist die Gewaltenteilung in Gefahr.» 

Das Bundesgericht ist das oberste Gericht der Schweiz. Es sorgt für die einheitliche Anwendung des Rechts und schützt die Rechte der Bürgerinnen und Bürger. «Ein Bundesgerichtsurteil ist nicht einfach ein unverbindlicher Vorschlag», sagt Cueni.

Rechtliches oder politisches Verfahren?

Dennoch sei in der Schweiz vielerorts eine veraltete Meinung verbreitet, die laute: «Wir, also die Kantone oder Gemeinden, entscheiden als politisches Gremium, wer zu uns gehört und wer nicht.» Das sei ein Missverständnis. «Das Einbürgerungsverfahren ist kein politisches, sondern ein rechtliches Verfahren. Und in diesem sind die Behörden an die relevanten rechtlichen Massstäbe und Rahmenbedingungen gebunden», sagt Cueni.

Der Anwalt Talal Aldroubis kündigte bereits vor der Abstimmung an, den Fall bei einer negativen Entscheidung erneut ans Verwaltungsgericht weiterzuziehen. Also an die Instanz, deren früheres Urteil das Bundesgericht bereits kassierte. Dem Thurgau droht eine Farce: Der Grosse Rat würde per Gerichtsurteil zurechtgestutzt.

Talal Aldroubi kämpft weiter

Der Apéro im Grossen Rat von Thurgau ging ohne Talal Aldroubi über die Bühne. Er hatte gehofft, dass sein Kampf nach sieben Jahren endlich ein Ende fände. Nun muss er weiterkämpfen.