VORHÖLLE

Melanie Beier* war sechs, als es anfing. Jeden Sonntag holte ihr 17-jähriger Bruder sie zu sich ins Bett. Das war Anfang der achtziger Jahre. Sie sei frech, schimpfte ihre Mutter, als Melanie ihr davon erzählte. Was der Bruder mache, sei Ausdruck seiner Liebe und der Liebe Gottes.

Auch auf den Schoss des Vaters musste sie sich setzen – er, mit Erektion, fasste ihr an die Brust. Die Mutter sass daneben und sagte nichts. Im Gegenteil, sie drohte Melanie, wenn sie sich beschwerte. Sie werde bei Harmagedon sterben, wenn sie weiterhin so frech sei. Harmagedon ist die endzeitliche Schlacht, auf die die Zeugen Jehovas warten. Nur wer braver Zeuge ist, wird bei diesem letzten Kampf überleben.

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Beiers Eltern waren Mitglieder der Zeugen Jehovas. Der Bruder studierte mit einem Vertreter regelmässig die Bibel, als die Missbräuche Kindsmissbrauch Wer hilft bei Missbrauch? anfingen. Auch er und der Vater drohten dem Mädchen mit Harmagedon.

Melanie Beier wandte sich wegen der Misshandlungen nie an die Polizei. «Ich hatte Angst vor der Rache meiner Familie, davor, verstossen zu werden, Angst vor Satan.»

Vertuschung

Weltweit häufen sich Berichte, dass die Zeugen Jehovas Zeugen Jehovas «Es war, als gäbe ich mein Hirn ab» sexuellen Missbrauch an Minderjährigen seit Jahrzehnten vertuschen – und die Täter schützen. Auch in der Schweiz, wo gut 19'000 Zeugen leben, gibt es diese Vorwürfe. Aussteiger Micha Barth hat nun eine Plattform für mutmassliche Opfer lanciert. Barth gehörte einer Versammlung in der Innerschweiz an, einer Gemeinde der Zeugen Jehovas. Vor zwei Jahren ist er ausgestiegen.

Während seiner Zeit als Zeuge erlebte er mit, wie das «System» Täter schützt. «Ein Vater meiner Versammlung hat seine beiden Töchter im Alter von acht und elf Jahren missbraucht. Intern wurde nichts gemacht. Nur weil die Mädchen mit der Mutter zur Polizei gingen, kam es raus», erzählt er. Das habe den Ältesten, also den örtlichen Gemeindevorstehern, nicht gefallen. «Es gab immer Drohungen: Wenn du zur Polizei gehst, bringst du Schmach auf die Organisation.»

Durch das systematische Verheimlichen seien die Fälle jahrzehntelang unter den Teppich gekehrt worden, so Barth. Jetzt kommen sie über die Plattform Robin-Witness.com ans Licht. Jeden Tag würden bis zu 15 Personen mit ihm in Kontakt treten, berichtet Barth. Viele haben selbst sexuellen Missbrauch erlebt oder in ihrem Umfeld beobachtet. Einige seien noch Mitglied bei den Zeugen, sagt Barth. Neun Fälle hätten sich im letzten Jahr zugetragen, der zuletzt gemeldete vor drei Monaten. Auch in anderen europäischen Ländern haben Aussteiger entsprechende Aufrufe gestartet.
 

«Sexueller Missbrauch ist schwerwiegend, ein Offizialdelikt. Das darf man nicht intern regeln.»

Regula Schwager, Beratungsstelle Castagna


Castagna, die Zürcher Beratungsstelle für sexuell ausgebeutete Kinder, Jugendliche und in der Kindheit ausgebeutete Frauen und Männer, betreute letztes Jahr 17 Personen wegen Übergriffen innerhalb der Zeugen Jehovas – ältere und aktuelle Fälle. Der Fachstelle für Sektenfragen Infosekta wurden ebenfalls Fälle zugetragen. Einige Täter seien bis heute Teil der Gemeinschaft.

Die Zeugen Jehovas widersprechen den Vorwürfen. Vieles sei «Anti-Sekten-Propaganda», die «jeglicher Grundlage» entbehre. Schilderungen müsse man kritisch hinterfragen. Zu den Drohungen, Schmach über die Organisation zu bringen, sagen die Zeugen etwa, es könne sein, dass sie auch nur so empfunden worden seien. «Es heisst aber nicht, dass es so war.»

Selbstüberhöhung

Sexuellen Missbrauch gibt es überall in der Gesellschaft. Doch viele Glaubensgemeinschaften tabuisieren das Thema. Dazu gehören laut Infosekta auch die Zeugen Jehovas. Die Fachstelle zeigte 2017 in einem Bericht auf, wie die Strukturen der Organisation dazu führen, dass Fälle von sexuellem Missbrauch nicht nur nicht aufgedeckt, sondern bewusst geheim gehalten werden.

Eine zentrale Rolle spiele der ideologische Hintergrund der Organisation, so der Bericht. «Wenn es heisst, Jehova, also Gott, wolle sexuellen Missbrauch nicht, bedeutet das nicht nur, dass die Mitglieder der Gruppe das nicht tun sollen. Es heisst auch, dass es nicht sein kann.» Viele Mitglieder der Gemeinschaft würden deshalb nicht sehen, was sie sehen sollten. Die moralische Selbstüberhöhung werde zur täterschützenden Struktur. Noch schlimmer: Die Ideologie der Zeugen Jehovas liefere den Tätern Begründungen für ihr Tun. So berichteten laut Infosekta viele Opfer, dass die Täter ihnen eingeredet hätten, sie würden bei Harmagedon vernichtet werden, wenn sie sich jemandem anvertrauten – wie bei Melanie Beier.

Es gebe weder in der Glaubenslehre noch in der Glaubenspraxis einen Ansatz für ein solches Schreckensszenario, sagt ein Zeugen-Jehovas-Sprecher. Solche Fälle liessen darauf schliessen, dass in den betroffenen Familien die sexuelle und religiöse Erziehung vernachlässigt worden sei.
 

Das sei «Anti-Sekten-Propaganda», die jeglicher Grundlage entbehre, sagen die Zeugen Jehovas.


Den Opfern wird auch eine Mitverantwortung zugeschrieben. Das zeigt sich im Infomaterial, das die Zeugen zum Thema sexueller Missbrauch herausgeben. In einem Artikel sagt eine Tanisha: «Man darf auf keinen Fall über zweideutige Witze lachen oder bei Anspielungen zu diesem Thema mitmachen. Und auch nicht ständig mit Mädchen rumhängen, die nur Jungs im Kopf haben. Sonst denken die anderen, du seist genau so.» Dem Opfer werde so eine Mitschuld gegeben, sagt Udo Obermayer vom deutschen Verein JW Opfer Hilfe, der 2018 von ehemaligen Zeugen Jehovas als Aufklärungsorganisation gegründet wurde. Er selbst war Ältester, 2016 ist er ausgestiegen.

Auch das sei Anti-Sekten-Propaganda, so die Zeugen Jehovas. «Es ist zutreffend, dass wir unsere Kinder und Jugendlichen vor gefährlichen Situationen warnen.» Das bedeute aber nicht, dass dem Opfer eine Mitschuld gegeben werde.

FLUCHT

Melanie Beier wagte mit 16 den Ausbruch. Sie verliebte sich in einen Jungen ausserhalb der Gemeinschaft. Der Vater schlug sie darauf fast bewusstlos. Mit dem Freund flüchtete sie per Autostopp Richtung Italien. «Ich rechnete fest damit, zu sterben, dass Satan mich holen würde. Das hatte man mir mein Leben lang so eingeredet. Aber ich sagte mir: Wenn ich auch nur zwei Jahre in Freiheit habe, ist es das wert.»

Unterwegs rief die Mutter des Freundes an: Sie wisse von einem sicheren Ort. Melanie kam ins Frauenhaus, später zog sie in eine WG für Jugendliche. Ihre Familie gab eine Vermisstmeldung Facebook-Aufrufe Einmal vermisst – für immer gesucht auf. Irgendwann kamen Melanie Beier Zweifel. Nach neun Monaten wurden sie übermächtig. «Ich war immer noch ein Kind, ich sehnte mich nach Eltern, wünschte mir ein Zuhause», sagt sie heute. Sie kehrte zurück.

Aussenwelt

Laut Infosekta funktionieren die Zeugen Jehovas als geschlossene und autoritäre religiöse Gemeinschaft. Sie werden global und sehr hierarchisch von einem achtköpfigen Führungsgremium in den USA geführt. Die sogenannte Leitende Körperschaft gibt Regeln vor. Auch ihre Weisungen an die lokalen Ältesten zum Vorgehen bei Kindesmissbrauch Kindesschutzmassnahmen Verdacht auf Missbrauch? Nicht zögern! erfolgen weltweit.

Erlösung und Heil gibt es Infosekta zufolge nur innerhalb der Gemeinschaft. Das Aussen werde als böse betrachtet, und von dort sei auch keine Hilfe zu erwarten. Für viele Opfer und für ihre Angehörigen seien darum die psychologischen Hürden hoch, sich an die Behörden zu wenden, sagt Susanne Schaaf, Leiterin von Infosekta. Seit einiger Zeit gelte zwar die Devise, dass Älteste Opfer von sexuellem Missbrauch nicht daran hindern sollten, Anzeige zu erstatten Opfer einer Straftat Den Täter anzeigen? . «Bei vielen fehlt aufgrund der jahrelangen Beeinflussung durch die Lehre aber das Vertrauen in weltliche Behörden. ‹Die Welt›, wie Zeugen Jehovas alle Nicht-Zeugen nennen, wird als gegen die Zeugen gerichtet wahrgenommen.»
 

«Ich rechnete fest damit, zu sterben, dass Satan mich holen würde. Das hatte man mir mein Leben lang so eingeredet.»

Melanie Beier*, Aussteigerin, Missbrauchsopfer


Im neusten Ältestenbuch von 2019, dem Leitfaden für Älteste, weisen die Zeugen neuerdings darauf hin, dass Älteste Missbrauchsvorwürfe den Behörden melden müssen – «wo solche Gesetze bestehen». Grundsätzlich müssen sich Älteste aber immer zuerst an die Rechtsabteilung der Zeugen Jehovas wenden, die dann entscheidet, ob eine Meldung an die Behörden erfolgt oder nicht. Aber auch Opfern und ihren Eltern wird explizit das Recht eingeräumt, sich direkt an die Behörden zu wenden.

Durch die Meldung an die interne Rechtsabteilung werde der Schutz betroffener Kinder gewährleistet. Das diene dazu, «zu vermeiden, dass Vorwürfe von Kindesmissbrauch wegen der persönlichen Nähe der Opfer zu den beschuldigten Personen nicht objektiv beurteilt werden». Eine Anzeigepflicht würde die Opfer der Möglichkeit berauben, selber eine Entscheidung mit all ihren Folgen zu treffen.

Auswirkungen einer Kursänderung seien noch nicht sichtbar, sagt Regula Schwager von Castagna. Allerdings sei wohl auch der Zeitraum zu kurz: «Die Strukturen bei den Zeugen Jehovas waren über lange Zeit von Verboten, Drohungen und Ängsten geprägt. Sollte sich wirklich etwas an der Praxis im Umgang mit Opfern von sexuellem Missbrauch geändert haben, wird es einige Zeit brauchen, bis sich die Wirkung zeigt.»

Zwei-Zeugen-Regel

Statt auf offizielle Behörden zu verweisen, lösen die Zeugen Jehovas ihre Angelegenheiten möglichst intern, sagt Udo Obermayer von der JW Opfer Hilfe. «Sie kennen eine eigene Gerichtsbarkeit. Die radikalste Massnahme ist der Gemeinschaftsentzug», heisst es bei Infosekta. Zu dieser Gerichtsbarkeit gehört die Zwei-Zeugen-Regel beim Umgang mit sexuellem Missbrauch. Sie besagt, dass einer Anschuldigung nur nachgegangen werden solle, wenn der Täter geständig ist oder es für die Tat mindestens zwei Zeugen gibt. Neben dem Opfer muss also eine weitere Person die Tat bezeugen können. Erst dann wird ein sogenanntes Rechtskomitee gebildet, ein internes Gremium, das den Fall untersucht.

Regula Schwager von Castagna kritisiert das: «Sexueller Missbrauch ist schwerwiegend und ein Offizialdelikt. Diese Delikte darf man nicht intern regeln. Eine Organisation, in der Übergriffe geschehen sind oder der entsprechende Verdacht besteht, kann dem weder objektiv noch professionell nachgehen. Das widerspricht sich.» Auch Melanie Beier wandte sich nie an die Zeugen Jehovas: «Sie hätten mir nicht geholfen. Ich hatte keine zwei Zeugen.»

Täterschutz

Die Zwei-Zeugen-Regel schütze in den meisten Fällen die Täter. Zu diesem Schluss kam 2016 ein staatlicher Bericht in Australien. Demnach haben von 1950 bis 2014 mutmasslich 1006 Zeugen Jehovas in Australien insgesamt 1800 Kinder sexuell missbraucht.

Über die Hälfte der Täter seien geständig – intern. In keinem der Fälle wurde der Missbrauch der Polizei gemeldet. Die Organisation sei nicht in der Lage, Kinder zu schützen, urteilte der Bericht. Ihre Richtlinien und Praktiken seien unangemessen und ungeeignet für die Anwendung in Fällen von Kindesmissbrauch. Besonders wird die Zwei-Zeugen-Regel kritisiert: Selbst wenn ein Opfer zwei Zeugen vorweisen könne, würden Täter oft nur mit einem Redeverbot in den Zusammenkünften bestraft. Wenn sie die Tat nicht bereuten, könnten sie aus der Versammlung ausgeschlossen werden.

Die Zeugen Jehovas widersprechen diesen Vorwürfen, die Aussagen beruhten auf einem unzutreffenden Verständnis ihres Religionsrechts. Jedem Vorwurf von Kindesmissbrauch sei nachzugehen und der Schutz des Opfers sicherzustellen. Auf die Aussage des Opfers hin werde der Beschuldigte in der Regel von allen geistlichen Ämtern entbunden, damit nicht die Gefahr bestehe, sie zu weiteren Taten nutzen zu können. Ein Beschuldigter stehe unter der Beobachtung der Ältesten, die in jedem Fall den Schutz des Opfers oder potenzieller Opfer sicherstellten.

Die Zwei-Zeugen-Regel sei lediglich eine Vorgabe für die Eröffnung eines Gemeinschaftsentzugsverfahrens nach gravierenden Verstössen gegen Glaubenslehren. «Es tritt damit weder in Konkurrenz zur staatlichen Justiz, noch soll es diese ersetzen.» Wenn ein reuiger Täter in der Gemeinschaft bleiben darf, erhalte er strenge Auflagen, die einen Umgang mit Kindern so gut wie unmöglich machten. Opfer seien also bestens geschützt.

RETTUNG

Melanie Beier schaffte mit 17 endgültig den Absprung. Eine ehemalige Freundin ihres Bruders half ihr. Sie versteckte Melanie für eine Weile. Der Vater kam vorbei, der Bruder, Vertreter der Zeugen Jehovas. «Es war bedrohlich», sagt die Freundin. Beier zügelte quer durch die Schweiz, machte eine Lehre. Sie belegte am Berufswettkampf den zweiten Platz. Einige Jahre später brachte sie eine Tochter zur Welt. Sie lebte mit ihr in der Ostschweiz, weit weg vom Elternhaus, weit weg von der Versammlung.

Heute ist Beier 42. Sie leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer schweren Traumafolgestörung. Seit Jahren ist sie in Therapie, zeitweise stationär. Bis heute hat sie grosse Angst vor Gewittern. Wenn es früher blitzte, habe die Mutter ihr eingeredet, das sei die Rache Gottes für ihren Ungehorsam. Beziehungen sind schwierig für sie. «Ich habe Angst, zu vertrauen, meine Bedürfnisse durchzusetzen. Ich habe immer ein schlechtes Gewissen , das Gefühl, frech zu sein.» Dass sie ausgestiegen ist, hat sie nie bereut. «Es kostet Kraft, aber ich würde es immer wieder tun.»


*Name geändert

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Dominique Strebel, Chefredaktor
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