Mit diesen Folgen hatte Sarah Ineichen nicht gerechnet: Vor fünf Jahren ging sie mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit und erzählte, wie sie als Baby unter fragwürdigen Umständen aus Sri Lanka in die Schweiz gebracht und hier adoptiert worden war.

Von da an war nichts mehr wie zuvor. Dauernd klingelte ihr Telefon. Dutzende Betroffene meldeten sich, bald wurden es Hunderte. Und alle berichteten von einer ähnlichen Erfahrung. Dabei hatte Sarah Ineichen nur die Frage klären wollen, wo ihre eigenen Wurzeln sind.

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Für sie selbst sei die Geburt der eigenen Kinder ein entscheidender Faktor gewesen: «Da wurde mir klar: Es kann nicht sein, dass eine Mutter freiwillig ihr Kind weggibt, ohne dass dies bei ihr Spuren hinterlässt», sagt Sarah Ineichen. «Der Schmerz, von meiner Mutter getrennt worden zu sein, und das Bedürfnis, sie zu finden, nahmen mich komplett ein.»

Auf der Suche nach ihrer Mutter

Ihrer Herkunft nachgehen konnte sie erst, als sie mit ihrer Familie selbst Wurzeln geschlagen hatte. Und so reiste sie 2017 mit den Angaben aus ihrer Geburtsurkunde von 1981 voller Hoffnung nach Sri Lanka. 

Doch zur ersehnten Begegnung mit ihrer Mutter kam es nicht. Sie fand zwar die Frau, die auf der Geburtsurkunde als Mutter eingetragen war. Doch die war, wie sich später zeigte, eine acting mother; eine Frau also, die gekauft worden war, um gegenüber den Behörden die Mutter zu spielen und ihr Einverständnis zur Adoption zu geben.

Das Bittere daran: «Was in meiner Geschichte genau passiert ist, könnte mir nur meine biologische Mutter berichten», sagt Sarah Ineichen.

Mit ihrer Herkunftssuche und dem anschliessenden Gang an die Öffentlichkeit trat Sarah Ineichen eine Lawine los, die nach und nach das fragwürdige System der Ostschweizerin Alice Honegger Illegal adoptiert Das Schicksal der verkauften Kinder aus Sri Lanka entlarven sollte. Vier Jahrzehnte lang war diese als Adoptionsvermittlerin von Babys tätig, ihre Tätigkeit wurde zu einem eigentlichen Kinderhandel. Ab den 1970er-Jahren begann sie intensiv, Kinder aus Sri Lanka an Ehepaare in der Schweiz zu vermitteln. 

Wie Celin Fässler dazustiess

Nach verschiedenen Medienberichten gründete Sarah Ineichen 2018 gemeinsam mit anderen Betroffenen den Verein Back to the Roots. Die Organisation unterstützt Betroffene bei ihrer Herkunftssuche und engagiert sich für die gesellschaftliche Aufarbeitung dieses internationalen Adoptionsskandals.

Celin Fässler war eine dieser Betroffenen, die sich damals beim Verein meldeten. 1982 war sie von Alice Honegger mit nicht einmal drei Wochen in die Schweiz vermittelt worden. Sie wuchs wohlbehütet auf. Und doch: «Ich wollte schon früh meine Wurzeln suchen, hatte viele Fragen in mir – und keine Antworten.» 

«Von den adoptierten Kindern wird stillschweigende Dankbarkeit erwartet, denn die neuen Familien glauben, Gutes getan zu haben.»

Celin Fässler

Solche Phasen der Selbstfindung wurden von ihrem Umfeld mitunter als Illoyalität ausgelegt. Dass sich betroffene Kinder unendlich tief wünschten, ihre Mütter zu finden, verstehe das neue Umfeld oft nur schwer, sagt Celin Fässler. «Von den adoptierten Kindern wird stillschweigende Dankbarkeit erwartet, denn die neuen Familien glauben, Gutes getan zu haben.» Das habe auch dazu geführt, dass sie sich selbst als undankbar wahrnahm.

Ihre Geburts- und Adoptionsdokumente hat sie, seit sie 18 Jahre alt war. Doch der richtige Zeitpunkt für die Herkunftssuche kam auch bei ihr erst vor wenigen Jahren. Bis heute hat sie ihre leibliche Mutter nicht gefunden. 

Dokumente voller Lügen

In ihren Adoptionsunterlagen stimmt so gut wie nichts. Inzwischen musste Celin Fässler auch erkennen, dass vermutlich die ganze Geschichte, die man ihr immer erzählt hat, falsch ist. Denn die Kinder aus Sri Lanka stammten nicht generell aus armen Familien, die froh waren, sie wegzugeben, damit sie in der Schweiz eine schöne Zukunft haben können.

Doch genau dieses Narrativ pflegten viele Familien, die damals ein Baby aus dem Inselstaat im Indischen Ozean adoptierten. Kein Wunder: Es wurde ihnen von den Adoptionsvermittlern auch entsprechend verkauft.

«Es ist eine emotionale Achterbahnfahrt.»

Celin Fässler

Celin Fässler ist sich bewusst: «Die meisten von uns werden ihre Eltern wohl nie finden.» Aber die Hoffnung will sie nicht aufgeben. Inzwischen hat sie ihre DNA in einer Datenbank hinterlegt, in der Hoffnung, es würde sich dereinst in Sri Lanka eine Frau dort eintragen – und es käme zu einem Treffer. Das wäre ein Glücksfall. «Es ist eine emotionale Achterbahnfahrt», sagt sie.

Tausende Babys aus Sri Lanka

Was Betroffene wie Sarah Ineichen und Celin Fässler sowie die anschliessenden Recherchen verschiedener Medien vor fünf Jahren losgetreten haben, ist in ihrer Tragweite bis heute kaum abzuschätzen: 2020 veröffentlichte die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Auftrag des Bundesamts für Justiz einen Forschungsbericht – mit einem schockierenden Fazit: Zwischen 1973 und 1997 stellten die Schweizer Behörden gesamthaft 950 Einreisebewilligungen für Babys aus Sri Lanka aus.

Und genauso bedrückend: Seit den frühen 1980er-Jahren war der Kinderhandel einer breiten Öffentlichkeit bekannt – und damit auch den Behörden. Trotzdem erwog die Schweiz nie, die Adoptionen zu stoppen. 

Insgesamt wurden Tausende Babys aus Sri Lanka geschafft. Angeheizt wurde dieser Handel vor allem durch den unerfüllten Kinderwunsch von Paaren aus Westeuropa. In Sri Lanka führte die grosse Nachfrage zu einem regelrechten Adoptionsmarkt, der von einem Netzwerk aus Anwälten und Agentinnen beherrscht wurde.

Behörden blieben jahrzehntelang untätig

Die ZHAW-Studie kam zum Schluss: «Den Schweizer Behörden war bekannt, dass in Colombo Kinder gegen Geld, Güter des täglichen Bedarfs und Luxuswaren eingetauscht wurden. Die Personen, die Kinder aus Sri Lanka in die Schweiz vermittelten, waren Teil eines korrupten Systems.» Im Dezember 2020 äusserte schliesslich auch der Bundesrat sein «Bedauern» über die fragwürdigen Adoptionen.

Besonders denkwürdig ist aus heutiger Sicht, wie Behörden von Bund und Kantonen wegschauten. Die St. Galler Aufsichtsbehörde etwa liess die Adoptionsvermittlerin Alice Honegger jahrzehntelang gewähren, obwohl Klage um Klage über sie einging und sie sich immer wieder über behördliche Anordnungen und Verbote hinwegsetzte.

Mangelhafte Dossiers wurden durchgewinkt

Die ganze Dramatik legte schliesslich letztes Jahr ein Forschungsbericht des Kantons St. Gallen offen. Untersucht worden waren sämtliche 86 Adoptionen aus Sri Lanka zwischen 1973 und 2002. Das schockierende Ergebnis: Kein einziger Fall erfüllte die damaligen rechtlichen Voraussetzungen für eine Adoption. In allen Dossiers fanden sich mehr oder weniger gravierende Ungereimtheiten. 

Im Begleitbericht heisst es: «So wurden fehlende, unvollständige oder widersprüchliche Angaben auch in den für die Schweizer Verfahren zentralen sri-lankischen Dokumenten ohne weitere Nachforschungen akzeptiert. Verschiedentlich fehlen etwa die Zustimmungen der leiblichen Eltern zur Adoption oder die Geburtsurkunden der Kinder. Waren sie vorhanden, wiesen sie oft offensichtliche Ungereimtheiten auf. Dadurch konnte die Herkunft der Kinder verschleiert oder gefälscht werden, womit eine Herkunftssuche Adoption Die Suche nach den Wurzeln deutlich erschwert oder gänzlich verunmöglicht wird.»

Viele Betroffene, wenig Ressourcen

Wie wichtig die Herkunftssuche für Betroffene ist, weiss Celin Fässler aus eigener Erfahrung: «Mir reichte es nicht, zu wissen, dass ich adoptiert bin. Ich musste auch einen Umgang damit finden, dass man mir im Alltag immer wieder zu verstehen gegeben hat, nicht von hier zu sein und auch nicht hierher zu gehören.»

Mit dem Verein Back to the Roots erreichten Sarah Ineichen und Celin Fässler letztes Jahr einen Meilenstein: Als erste Organisation in dieser Thematik erhielt man vom Justiz- und Polizeidepartement und der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) einen Dienstleistungsauftrag: Back to the Roots wird bis Ende nächsten Jahres finanziell unterstützt, um 60 Betroffenen bei ihrer Herkunftssuche in Sri Lanka zu helfen und diese persönlich zu betreuen. 

Der Verein umfasst inzwischen 18 Personen und verfügt auch über ein kleines Team in Sri Lanka. Das Problem: Mit den aktuellen Ressourcen kann Back to the Roots nur einen Bruchteil der Betroffenen unterstützen, die sich auf die Suche nach ihren Wurzeln machen. 

Die Politik macht nicht vorwärts

Auch politisch ist das Thema bei weitem nicht abgeschlossen, im Gegenteil: Noch diesen Spätsommer soll ein neuer wissenschaftlicher Bericht veröffentlicht werden, der Adoptionen aus einer Reihe weiterer Länder unter die Lupe genommen hat. Man darf gespannt sein, ob es auch dort zu derart vielen fragwürdigen Praktiken und Versäumnissen gekommen ist wie im Fall der adoptierten Kinder aus Sri Lanka.

Die Frage, wie die Schweiz künftig mit der Herkunftssuche von Adoptierten umgehen soll, sorgt hinter den Kulissen weiter für Diskussionen. Bund und Kantone spielen sich gegenseitig den Ball zu. Ein Bericht einer Arbeitsgruppe unter der Leitung der KKJPD hat zwar Empfehlungen dazu erarbeitet, wie Adoptierte bei ihren Nachforschungen unterstützt werden sollen. Doch das Papier blieb bisher unter Verschluss. Die Kantone und der Bund können sich nicht einigen, wer welche Rolle übernehmen soll.

Mit ihrem Engagement für Back to the Roots haben Sarah Ineichen und Celin Fässler ein gesellschaftlich relevantes Kapitel Sozialgeschichte an die Öffentlichkeit gezerrt, über das die verantwortlichen Behörden lieber weiter geschwiegen hätten. Doch für die beiden ist klar: Was bisher politisch erreicht wurde, kann nur ein erster Schritt sein. «Uns läuft die Zeit davon, wir können nicht darauf warten, dass in ein paar Jahren Gesetze verabschiedet werden, die uns selbst nicht mehr helfen», sagt Celin Fässler. «Wir wurden nicht aus freien Stücken hierher verpflanzt, versuchen aber, für uns das Beste daraus zu machen.»

Personen in der Schweiz, die aus Sri Lanka adoptiert wurden und sich mit ihrer Herkunft auseinandersetzen möchten, finden Unterstützung und Beratung beim Verein Back to the Roots: info@backtotheroots.net

Bühne frei für mutige Menschen

Der Prix Courage des Beobachters geht in eine neue Runde: Das Porträt der jungen Synchronschwimmerinnen, die Missstände in ihrem Verband publik gemacht haben, bildete den Auftakt einer Artikelserie. Die Serie beleuchtet neben den einzelnen Nominationen auch die weiteren Aspekte des Preises.

Verliehen wird der diesjährige Prix Courage, der inspirierende Menschen hinter mutigen Taten und unerschrockenem Handeln ins Zentrum stellt, am 9. November.

Davor werden die Leserinnen und Leser des Beobachters eingeladen, ihre Stimmen für die überzeugendste Kandidatur abzugeben. Das Publikumsvoting und die Einschätzungen der Jury entscheiden schliesslich über die Gewinnerin oder den Gewinner.

Die einzelnen Nominationen stellen wir in einer Artikelserie vor. Bisher erschienen: 

  • Kandidatur 1 – Aline Stettler, Anouk Helfer und Fabienne Nippel: Die Synchronschwimmerinnen machten fragwürdige Trainingsmethoden publik und prangerten Vergünstigungen bei den Wettkämpfen an. Dafür opferten sie ihre sportlichen Karrieren. 
  • Kandidatur 2 – Jonas Staub: Der frühere Sozialpädagoge und heutige Unternehmer kämpft unerbittlich seit bald zwei Jahrzehnten für mehr Selbstbestimmung von Menschen mit Beeinträchtigungen.
  • Kandidatur 3 – Sarah Ineichen und Celin Fässler: Die beiden Frauen wurden als Babys in die Schweiz gebracht. Als Erwachsene deckten sie einen Adoptionsskandal auf, über den die verantwortlichen Behörden lieber geschwiegen hätten.
  • Kandidatur 4 – Thomas Zumtaugwald: Er rettete einen abgestürzten Skifahrer aus zehn Metern Tiefe unter einem Gletscher vor dem sicheren Tod.
  • Kandidatur 5 – Rosmarie Wydler-Wälti bringt den Bundesrat vor den Europäischen Gerichtshof, weil uns der Staat nicht genügend vor den Folgen der Klimaveränderung schütze.

Alle Informationen zum Prix Courage finden Sie unter beobachter.ch/prix-courage.