«Ich will nicht von einem Roboter ersetzt werden»
Daniel Goldberger kennt den Beobachter so gut wie kaum jemand. Er liest das Heft seit 30 Jahren von vorn bis hinten vor. Und möchte das noch lange tun.
Aufgezeichnet von Caroline Freigang:
Meinen eigenen Text hier vorzulesen, wird seltsam sein. Aber es wird schneller gehen, denn ich werde keine Namen nachschauen müssen. Das braucht oft sehr viel Zeit. Ich möchte alles richtig aussprechen. Und kriege immer wieder Feedback von Hörerinnen und Hörern, wenn ich einen Fehler mache.
Letztens habe ich bei einem Bündner Bergdorf angerufen, um zu fragen, wie man einen Strassennamen ausspricht. Nach 30 Jahren habe ich eine gewisse Routine entwickelt, wie ich vorgehe. So lange lese ich den Beobachter schon ein für die SBS Schweizerische Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte.
Dass ich dazu kam, war Zufall. Ich spielte Theater, brauchte einen Nebenverdienst. Eine Schauspielkollegin erzählte mir von ihrem Nebenjob bei der SBS – und dass man dort einen Nachfolger suche. Neben dem Beobachter lese ich auch Belletristik ein, Romane, Biografien.
So lange wie der Beobachter begleitet mich keine Publikation. Als ich anfing, musste ich ein Dokument unterzeichnen, dass ich niemandem verrate, was in der nächsten Ausgabe steht. Denn ich erhielt die Ausgaben vorab. Einmal habe ich eine Ausgabe sogar erst später gekriegt, weil der Inhalt so geheim war. Da ging es um die Kopp-Affäre, der Artikel sorgte mit für den Rücktritt von alt Bundesrätin Elisabeth Kopp .
Besonders gern lese ich die längeren Texte ein. Sie sind einfacher, man kommt in einen Fluss, möchte wissen, wie es weitergeht. Ich vermisse den 7-Minuten-Roman. Den gibt es leider nicht mehr. Kompliziert wird es beim TV-Programm. Für die zwei Seiten brauche ich rund eine Stunde.
Eine ganze Ausgabe einzulesen, dauert rund zwölf Stunden. Davon sind rund fünf Stunden reine Lesezeit. Hinzu kommen Korrekturen, manchmal verplappere ich mich. Bei komplizierten Texten lese ich mich ein. Es soll ja nicht so klingen, als würde ein kompletter Laie die Texte vorlesen. Das braucht Zeit.
Ich muss mir vor jedem Text überlegen, welche Stimmfarbe es braucht, ob sachlich oder emotional. Bei einem Medium wie dem Beobachter kann man Emotionen transportieren, es muss nicht klingen wie bei einem Nachrichtensender. Wenn ich etwas Trauriges vorlese, zum Beispiel über den Krieg in der Ukraine, kann ich zeigen, dass es mich berührt, dass ich mitfiebere.
«Schwer fällt es mir, wenn ich mit dem Inhalt eines Artikels nicht einverstanden bin.»
Daniel Goldberger, 63, Sprecher
Meine Arbeit als Vorleser sehe ich wie die eines Schauspielers: Ich übernehme eine Rolle. Schwer fällt mir das, wenn ich mit dem Inhalt eines Artikels nicht einverstanden bin. Das passiert beim Beobachter selten. In ganz wenigen Fällen, zum Beispiel wenn ich mit einem Leserbrief gar nicht übereinstimme, habe ich Möglichkeiten, das den Hörerinnen und Hörern mitzuteilen. Ich kann den Inhalt zwar sauber wiedergeben, aber mit dem Ton meiner Stimme andeuten, dass ich damit nicht einverstanden bin.
Man könnte meinen, das Vorlesen reiche mir. Aber ich verschlinge auch in der Freizeit viele Bücher. Ich hatte das Glück, dass meine Mutter mir das Lesen beigebracht hat, als ich vier Jahre alt war. Sie kam als ungarische Holocaust-Überlebende in die Schweiz und legte viel Wert darauf, dass wir Kinder die richtige Ausbildung erhielten. Als ich in den Kindsgi kam, war ich zu schüchtern, um mit anderen zu sprechen. Ein Jahr lang sagte ich kein Wort. Bis meine Mutter auf die Idee kam, mich etwas vorlesen zu lassen. Ich las ein Gedicht. Ab dem Zeitpunkt traute ich mich, mit den anderen zu reden.
Viele Jahre später las ich im Beobachter einen Artikel über Kinder, die ausserhalb ihres Daheims nicht sprechen können. Erst da habe ich verstanden, was mit mir los war. Das hat mich ziemlich aufgewühlt.
Ich hoffe, dass ich den Beobachter noch lange vorlesen darf. Mittlerweile gibt es ja Einlese-Roboter. Die lesen aber ohne die Emotionen einer menschlichen Stimme. Ich hoffe, dass ich es nicht mehr erlebe, durch so einen ersetzt zu werden. Ich finde, für die Hörerinnen und Hörer ist es ein riesiger Vorteil, eine menschliche Stimme zu hören.
Das Neuste aus unserem Heft und hilfreiche Ratgeber-Artikel für den Alltag – die wichtigsten Beobachter-Inhalte aus Print und Digital.
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2 Kommentare
Ich finde das Vorlesen absolut faszinierend. Da kommt mir sofort der Film „The Reader“ in den Sinn!
Unserem Sohn habe ich grosse Teile von Harry Potter vorgelesen und er ist jeweils „fascht vergizzlet“, wie es denn nun weiter ginge! Und ich selbst war in beinahe derselben Emotion von Spannung, Trauer, Freude oder Wut, und Erlösung, wenn eine neue Wendung Bewegung in eine haarige Situation brachte.
Darüber hinaus sind die (deutschen) Sätze von Frau Rowling manchmal viele Zeilen lang und kompliziert zu betonen.
Dabei habe ich bemerkt, dass ich mir das Vorlesen gut als berufliche Tätigkeit vorstellen könnte.
Falls das Jemand liest, der einen solchen Kontakt herstellen könnte, würde ich mich darüber sehr freuen!
Den Artikel über Daniel Goldberger hat mich sehr gefreut, und ich hoffe auch das er noch viele BEOBACHTER Vorlesen kann