Was ein Jahr nach dem Protest geblieben ist
Im Juni 2019 nahmen eine halbe Million Menschen am Frauenstreik teil. Fünf Frauen erzählten damals im Beobachter, wo sie an Grenzen stossen. Ein Jahr danach ziehen sie nun Bilanz und sagen, wer ihre Hoffnungsträgerinnen sind.
Veröffentlicht am 8. Juni 2020 - 17:58 Uhr
- Care-Arbeit: «Diese Menschen sind der Kitt unserer Gesellschaft»
- «Es wird so viele Streiks geben, bis wir alles erreicht haben»
- «Männer, nutzt die Chancen der Teilzeitarbeit!»
- Solidarität: «Zusammen können wir etwas erreichen»
- «Eltern kranker Kinder brauchen Wertschätzung
Rückblick:
Die Parolen lautstark, die Geschichten dahinter oft leise: Vor dem Frauenstreik 2019 erzählten uns fünf Frauen, wo sie an ihre Grenzen stossen.
Journalistin Anne-Sophie Keller würdigt Pflegefachfrau Beatrice Dietrich stellvertretend für alle, die Care-Arbeit leisten – und dafür schlecht entlöhnt werden.
Für Autorin und Journalistin Anne-Sophie Keller, 30, steht Beatrice Dietrich exemplarisch für alle Frauen, die in ihren Berufen Aussergewöhnliches leisten und selten genügend Wertschätzung dafür bekommen. «Diese Menschen sind der Kitt unserer Gesellschaft.» Corona habe gezeigt: Die Care-Arbeit , das Sich-Kümmern-um-jemanden, sei systemrelevant. «Darum zeugt es von einem kaputten System, dass Menschen in diesen Berufen so wenig verdienen.»
Beatrice Dietrich zögerte keine Sekunde, als die Anfrage kam. Weil Bern eine Corona-Welle erwartete, musste beim Intensivpflegepersonal aufgestockt werden. Drei Monate dauerte der Einsatz der 47-jährigen Mutter zweier Kinder. Als der letzte Beatmungsschlauch entfernt war, kehrte Dietrich an ihren angestammten Arbeitsplatz zurück. Heute sagt sie: «Für mich war das kein Müssen, sondern ein Dürfen.»
Als Leute auf den Balkonen dem Pflegepersonal applaudierten, freute sich Beatrice Dietrich: «Das war das erste Mal, dass ich ausserhalb vom persönlichen Umfeld Wertschätzung spürte für das, was ich mache.» Aber: «Viel wird sich wohl nicht ändern.»
Für Anne-Sophie Keller wäre das ein Skandal: «Wem jetzt noch nicht klar ist, welchen Stellenwert diese Arbeit hat, dem ist nicht zu helfen.»
Von allein werde aber nichts passieren. Es brauche das Engagement von Politikerinnen, Verbänden und Privaten. «Die Pandemie hat ans Tageslicht gebracht, dass es nichts Wichtigeres gibt als die Gesundheit. Und dass wir alle solidarisch zueinander schauen müssen.»
Peter Aeschlimann
Christiane Brunner, Grande Dame der Frauenbewegung, übergibt das Wort an Noemi Grütter, Feministin und Menschenrechtsaktivistin.
Als treibende Kraft hinter dem ersten Frauenstreik von 1991 wurde Christiane Brunner zur Ikone der Frauenbewegung. Den Streik von 2019 verfolgte sie passiv via Internet. Heute will sich die 73-Jährige nicht mehr zum Thema äussern. Jetzt müssten neue Frauen das Wort ergreifen.
«Man darf nie aufhören mit dem Aufbegehren», hatte Brunner ihren Nachfolgerinnen vor einem Jahr mit auf den Weg gegeben. Noemi Grütter, 24, brauchte diese Beschwörung nicht. «Wir werden dafür sorgen, dass uns verdammt noch mal zugehört wird!», schleuderte sie am Streiktag in Luzern in die Menge. 16 ungezähmte Minuten lang sprach sie damals aus, was Frauen fühlen, wenn sie Herabsetzung und Gewalt erleben. «Eine Rede wie ein Donnergrollen», schrieb die Presse.
«Diese Flut von Energie, diese Wucht, die von den Frauen ausging!» – das ist Grütter von jenem Tag im Gedächtnis geblieben. Die Energie habe eine Bewegung in Gang gesetzt. «Die Mobilisierung war schlicht zu gross, als dass man Gleichstellungsthemen und feministische Anliegen weiter ignorieren und auf die lange Bank schieben kann. Was eine halbe Million Menschen sagt, da muss eine Wahrheit dran sein.»
Dass die Politik bei der Revision des Sexualstrafrechts nun sexuelle Gewalt griffiger ahnden wolle, ist für die gebürtige Nidwaldnerin nur ein Indiz für das Umdenken.
Der stärkste Effekt des Streiks ist für Noemi Grütter, dass sich Interessengruppen vernetzt haben. Sie kenne viele Frauen, die sich vorher nicht getraut hätten, frauenrechtliche Forderungen laut auszusprechen. «Jetzt, im Wissen um den breiten Rückhalt, tun sie es. Der Streik hat die Legitimität dafür geschaffen.» Das gelte auch für die Männer, denen es jetzt leichter falle, ihren Teil für die Gleichstellung zu leisten.
Aber: «Von den Männern muss mehr kommen. Zuallererst das Eingeständnis, in einer Gesellschaft zu leben, in der sie in vielem bevorteilt sind.» Der letztjährige Streik sei erst der Start gewesen, die Ziele noch weit weg, etwa Lohngerechtigkeit, Anerkennung von Care-Arbeit oder sexuelle Selbstbestimmung.
Was also, wenn den Worten keine Taten folgen – oder bloss solche, die niemandem wehtun? Ein nächster Frauenstreik? «Natürlich! Es wird so viele Streiks geben, bis wir erreicht haben, was wir fordern», so Noemi Grütters Ansage.
Die Frauenbewegung habe nun Grösse und Know-how, könne schnell mobilisieren. «Nehmt euch in Acht!» Sagts – und lacht schallend.
Daniel Benz
Franziska Zemp dankt ihrem Mann Melwyn Fernandes, der sein Arbeitspensum zugunsten der Kinderbetreuung reduziert hat.
Vor einem Jahr war sich die Neuropsychologin Franziska Zemp nicht sicher, ob sie am Frauenstreik teilnehmen soll. «Als benachteiligt sehe ich mich nicht. Mein Mann und ich machen gleich viel im Haushalt, haben gleich gute Ausbildungen und sind zufrieden im Job.»
Schliesslich ging sie doch an den Streik. «Aus Solidarität mit allen Frauen, die in der Vergangenheit für uns gekämpft haben. Sie haben erreicht, dass wir es heute besser haben.»
Der Streik habe sich gelohnt. Er sei noch monatelang Thema gewesen in ihrem Arbeitsteam und unter Freundinnen. «Der Streik hat mich daran erinnert, dass wir Frauen selbstbewusster auftreten können.»
Am meisten freut Zemp, 39, dass ihr Mann Melwyn Fernandes seit einem Jahr ihre drei Kinder intensiver betreut. Er übernimmt einen Tag, sie zwei. Hinzu kommen die Grosseltern und die Krippe für je einen Tag. «Die Kinder lieben es, einen Tag mit ihrem Papi zu verbringen. Melwyn wird dadurch ihre Rollenbilder aufweichen.»
Fernandes, 37, war anfänglich wenig begeistert von seiner Rolle als Hausmann. «In meiner Kultur in Indien ist das unüblich.» Sein Vater war nur drei Monate pro Jahr zu Hause, sonst arbeitete er in Kuwait. Er sei froh, dass er es anders machen könne. «Heute bin ich sehr glücklich, dass ich das Pensum reduziert habe.» Jetzt könne er früh eine enge Beziehung zu den Kindern knüpfen. Vielleicht helfe das, wenn dann im Teenageralter die Probleme kämen.
«Alle jungen Väter in der Schweiz, die diese Chance haben, sollten sie unbedingt nutzen. Teilzeitarbeit ist nicht überall so akzeptiert wie hier.» Sein Arbeitgeber profitiere auch, sagt der Umweltingenieur. «Dank der Kinder bin ich beim Arbeiten flexibler geworden. Ich kann mit geänderten Abläufen oder unvorhersehbaren Störungen leichter umgehen; ich bin es gewohnt.»
Yves Demuth
Nora Bienz ist müde von der 14-Stunden-Schicht auf der Covid-19-Station des Berner Inselspitals. Die Ärztin ist Realistin, bei der Einschätzung der Pandemie – «sie wird uns noch lange begleiten» – wie bei der Frauenfrage. «Es wäre ja vermessen, zu meinen, ein Jahr nach dem Frauenstreik sei subito alles besser und wir hätten jetzt plötzlich viel mehr Ärztinnen in den Chefetagen.» Das war ihre Hauptforderung vor einem Jahr.
Berufungsprozesse für einen Chefärztinnen-Posten, verbunden mit einer Professur, dauerten Jahre, da müsse frau geduldig sein.
Nora Bienz, 34, ist aber in der Gleichstellungs- und verschiedenen Nachfolgekommissionen engagiert und meint, es gehe allmählich voran. Es gebe mehr Frauendossiers als auch schon. Immerhin. Ernüchtert ist sie dennoch. Sie will für diesen Artikel keine Person nominieren, die sich bei der Gleichstellung in der Medizin letztes Jahr besonders verdient gemacht hätte.
«Ich kenne Ärztinnen, die leitende Positionen erreicht haben. Das ist toll. Aber der Preis dafür ist nach wie vor viel zu hoch.» Um in der Medizin Karriere zu machen, müsse man immer noch extrem viel arbeiten, sich enorm einsetzen und auf vieles verzichten. Keine Kinder, keine Freizeit beispielsweise. Das zu opfern, sei sie nicht bereit. «Ich liebe meinen Job, aber ich habe auch noch ein Privatleben. Und das ist auch wichtig», sagt die angehende Fachärztin für Intensivmedizin.
Es müsse und werde sich etwas ändern. Die Medizin wird immer weiblicher, über 60 Prozent der Studierenden sind Frauen, aber Chefärztinnen machen noch immer bloss gut einen Zehntel aus, ein krasses Missverhältnis.
Der Frauenstreik habe aber bewirkt, dass es mehr kollektive Solidarität unter Frauen gebe, sie sich vermehrt gegenseitig stützen und helfen. «Wir rücken enger zusammen.» Das Vorurteil, dass es unter Frauen immer Zickenkrieg gebe, sei eben genau das, ein Vorurteil.
Das habe sich auch bei den Wahlen vom vergangenen Herbst gezeigt. «Ich habe fast nur Frauen gewählt und wollte damit ein Zeichen setzen.» Genauso ihre Freundinnen. Das hat geklappt. Der Anteil der Nationalrätinnen erhöhte sich um 10 auf 42 Prozent. «Ein historischer Moment. Das hat es noch nie gegeben», freut sich Nora Bienz noch heute. Die Wahlen hätten gezeigt: «Zusammen können wir etwas erreichen, das ist wunderbar.»
Es bleibe aber noch viel zu tun. «Dass während der Corona-Krise eine Frau an der Spitze des Bundesrats steht, ist natürlich ein Zufall. Es zeigt aber, dass sich der stetige Kampf für die Gleichberechtigung lohnt – und dass er von starken Frauen lebt.»
Birthe Homann
Nicole Janouschek nennt als Vorbild Bea Blaser von der Kinder-Spitex des Kantons Zürich, weil sie sie bei der Pflege ihrer schwer kranken Tochter Jara so grossartig unterstützt hat.
Nicole Janouschek leistet Care-Arbeit. Manchmal pflegt sie ihre schwer behinderte Tochter Jara rund um die Uhr. Ohne Lohn, ohne Absicherung.
Daran hat sich seit dem Frauenstreik nichts geändert. Doch immerhin: «Gesundheitlich ging es Jara im letzten Jahr verhältnismässig gut.» Bis ihre Wirbelsäule kollabierte. Seither hat die Sechsjährige starke Schmerzen und noch mehr Krampfanfälle. Im März sollte Jara operiert werden, doch dann kam der Lockdown.
Nicole Janouschek, 37, wirkt gelassen. «Wir sind gewohnt, durchhalten zu müssen.» Wirklich belastend sei, dass die IV kurz nach Jaras sechstem Geburtstag ankündigte, sie wolle die Unterstützung durch die Kinder-Spitex kürzen. Begründung: Die Krampfanfälle seien weniger lebensbedrohlich geworden. Zudem zweifelt die IV plötzlich die Schluckbeschwerden der bettlägerigen Tochter an. «Völlig unverständlich. Das schmerzt und ist enorm zermürbend», sagt Nicole Janouschek.
Wie sie das alles schaffe? «Nur dank der Unterstützung durch Menschen wie Bea Blaser. Ohne sie würden wir untergehen in der ganzen Bürokratie.» Blaser kennt Jara, seit sie geboren wurde. «Alle dachten damals, die Kleine werde höchstens ein paar Tage leben.» Dass sie jetzt mit ihrer gesunden Zwillingsschwester den sechsten Geburtstag feiern durfte, grenze an ein Wunder. Jara muss 24 Stunden pro Tag überwacht und gepflegt werden.
«Was die Familie Janouschek leistet, ist enorm», sagt Pflegefachfrau Bea Blaser. Sie hätte sich für Jara etwas anderes gewünscht als den Brief der IV. «Die Janouscheks haben dank der Kinder-Spitex ein ganz kleines bisschen Normalität zurückgewonnen. In manchen Nächten können sie nun beruhigt schlafen.»
Nicole Janouschek hat oft erfahren, wie schnell das ganze System ins Wanken gerät, wie sehr die Geschwister leiden, wie die Paarbeziehung Schaden nimmt, wenn zu den Herausforderungen des Tages durchwachte Nächte kommen. Dahin will sie nicht zurück.
Bea Blaser unterstützt sie voll. Als Fachfrau verstehe sie, dass Versicherungen den Bedarf der Kinder genau überprüfen. Wichtig sei aber, dass deren Rechte gewahrt bleiben. «Was Eltern kranker Kinder brauchen, ist Wertschätzung, Verständnis und Entlastung.»
Blaser hat die Einsprache in Jaras Fall kürzlich bei der IV eingereicht. Sie wünscht sich, dass Familie Janouschek ihr kleines bisschen Normalität nicht verliert.
Tanja Polli