So einen Gerichtsentscheid habe es so noch nie gegeben in der Schweiz, sagt Anwalt Philip Stolkin. Gemäss Thurgauer Obergericht sind die Forderungen des Missbrauchsopfers Walter Nowak noch nicht verjährt – und das, obwohl die Taten schon 40 Jahre her sind.

Walter Nowak lebte zwischen 1962 und 1972 im Kinderheim des Klosters Fischingen TG, wo ihn ein katholischer Pater mehrfach missbrauchte. Der Geistliche schlug ihm beim gemeinsamen Duschen den Wasserschlauch auf den Hintern, steckte ihm das Schlauchende in den After, griff ihm ans nackte Glied. Den traumatisierten Bub lieferten die Benediktiner in die psychiatrische Klinik Münsterlingen TG ein. Dort führten die Ärzte an Walter Nowak Medikamentenversuche durch, statt ihm zu helfen. 

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Nun muss das Bezirksgericht in Münchwilen TG erneut prüfen, ob Walter Nowak wegen dieser Taten eine Entschädigung nach Opferhilfegesetz zusteht. Es geht um einen Betrag von 150'000 Franken sowie eine Genugtuung von 70'000 Franken. Das Argument, das alles sei zu lange her, zieht nicht mehr. Der Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau ist rechtskräftig.

Justiz anerkennt Verdrängung des Missbrauchs

«Für uns war das Seelenmord, was die an uns verbrochen haben. Das verjährt nicht», sagt Walter Nowak, der vor kurzem 65 Jahre alt geworden ist. «Zum ersten Mal in meinem Leben feierte ich meinen Geburtstag. Ich habe in den letzten zwei Jahren an mir gearbeitet und wieder Lebenskraft geschöpft.» 

Walter Nowak leidet an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung, die laut Gutachten von den Misshandlungen in Fischingen herrührt. Ein Kausalzusammenhang, der wichtig ist, um gemäss Opferhilfegesetz Anspruch auf eine Entschädigung zu haben.

Die Aufarbeitung seiner Vergangenheit hat Walter Nowak schwer mitgenommen. Jahrzehntelang hatte er seine Kindheit verdrängt. Er habe wie hinter einem Schleier gelebt. Erst vor rund zehn Jahren, als die Medien über Missbrauchsfälle in einem Vorarlberger Kloster berichteten, hätten ihn die Jugenderinnerungen eingeholt. 

Die Jahrzehnte der Verdrängung werden nun bei der juristischen Berechnung der Verjährungsfrist anerkannt. Walter Nowak habe erst im Juli 2010 realisiert, dass er als Kind das Opfer von Straftaten geworden war, stellt das Obergericht aufgrund psychiatrischer Beurteilungen fest. Deshalb beginne erst ab diesem Zeitpunkt die Verjährungsfrist von fünf Jahren zu laufen, wie sie das aktuelle Opferhilfegesetz vorsieht. Die Verjährungsfrist ist in Walter Nowaks Fall also das Jahr 2015. Da er sein Opferhilfegesuch bereits 2013 eingereicht hat, erfüllt er diese Frist laut Obergericht. Das Gesuch von 2013 behandelte das Obergericht erst jetzt, weil zuerst ein zivilrechtliches Verfahren gegen den Täter abgewartet wurde.

«Dieses Urteil hat Strahlkraft über den Einzelfall hinaus. Es kann anderen Missbrauchsopfern mit posttraumatischen Störungen helfen.»

Philip Stolkin, Anwalt

Ursprünglich hatte die Thurgauer Justiz entschieden, dass die Verjährungsfrist 1995 abgelaufen sei. Nowak hätte sein Gesuch spätestens zwei Jahre nach Inkrafttreten des Opferhilfegesetzes im Jahr 1993 einreichen müssen. Nur wenn er beweisen könne, dass er 1995 nicht gewusst habe, dass er in seiner Kindheit Opfer einer Straftat geworden sei, würde die Verjährungsfrist aufgehoben, so das erstinstanzliche Urteil. Diese Beweislastumkehr zulasten des Opfers sieht das Gesetz aber so nicht vor; auch dies hat das Obergericht jetzt gerügt. 

«Dieses Urteil hat Strahlkraft über den Einzelfall hinaus», sagt Nowaks Anwalt Philip Stolkin. «Der Entscheid kann anderen Missbrauchsopfern mit posttraumatischen Störungen helfen.» Die katholische Kirche führt in vielen Fällen die Verjährung als Hauptargument dafür an, nicht auf die Forderungen von Missbrauchsopfern einzugehen. «Wenn sich andere Obergerichte dem Urteil der Thurgauer Richterinnen und Richter anschliessen, wird das Verjährungsargument in der ganzen Schweiz an Kraft verlieren», so Stolkin.

Thurgauer Regierungsrat soll 1,4 Millionen Franken zahlen

Der Anwalt will den Kanton Thurgau nun mithilfe des neuen Urteils zudem zu Verhandlungen zwingen. Er hatte den Thurgau bereits früher auf eine Entschädigung von rund 1,4 Millionen Franken verklagt. «Der Kanton hat bei den Misshandlungen im Kinderheim Fischingen sowie den Medikamententests in Münsterlingen seine Aufsichtspflichten verletzt. Das bescheinigen die neuen historischen Studien», sagt er. Walter Nowak stehe deshalb eine Entschädigung von 1,389 Millionen Franken zu. Das entspreche dem Lohn, der ihm aufgrund seiner körperlichen und seelischen Versehrtheit entgangen sei.

«Wir werden mit dem Regierungsrat des Kantons Thurgaus in Kontakt treten, um aussergerichtliche Verhandlungen aufzunehmen. Die Verjährung kann jetzt nicht mehr als Argument dienen, eine Staatshaftung abzulehnen», sagt Stolkin. Gibt es keine Einigung, werde er eine sistierte Klage reaktivieren, die seit Jahren vor dem Thurgauer Verwaltungsgericht hängig ist. Der Zürcher Anwalt hat bereits mehreren Opfern vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg zu ihrem Recht verholfen.

Walter Novak sagt, er habe sein ganzes Erspartes verloren aufgrund seiner Vergangenheit. Als er eine Eigentumswohnung gekauft habe mit Blick auf einen Kirchturm, der so ausgesehen habe wie jener von Fischingen, sei die Erinnerung zurückgekommen. Mit solch einer Wucht, dass er die Wohnung sofort wieder habe verkaufen müssen – mit happigem Verlust. Geld könne das Erlittene nicht wettmachen, sagt Walter Novak, aber es stehe für die Anerkennung einer grossen Schuld. «Die haben uns kaputt gemacht. Alle, die das erleben mussten, haben eine Entschädigung verdient.»

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