Zur falschen Zeit am falschen Ort
Eine Familie wird unverschuldet in einen tödlichen Verkehrsunfall verwickelt. Seither geht es nur noch abwärts.
aktualisiert am 3. August 2017 - 14:42 Uhr
Hätten sie sich im Supermarkt doch nur an der schnelleren Kasse angestellt. Und unterwegs nicht am Rotlicht halten müssen. Dann wären sie mit ihrem grauen Kombi eine Minute früher durch diese Kurve auf einer Landstrasse im Zürcher Oberland gefahren – und alles wäre gut gewesen. Raul Roduner* hätte den Weg in die Selbständigkeit weiter verfolgen können. Und Tamara Hallers* Wunsch, die gemeinsame Tochter Selina* in einem schönen Haus aufwachsen zu sehen, wäre vielleicht wahr geworden. Aber die Familie war zur falschen Zeit am falschen Ort.
4. August 2012, ein milder Samstagabend, 20.05 Uhr. Raul Roduner hat das Dorf Dürnten hinter sich gelassen und steuert seinen Daewoo über die Oberdürntnerstrasse in Richtung Wald, nach Hause. Wenig Verkehr, etwa 60 km/h. Hinten sitzt seine Partnerin Tamara Haller mit der damals halbjährigen Selina. Die Familie hat nach den Ferien einen Grosseinkauf getätigt.
In der Gegenrichtung ist ein Motorradfahrer unterwegs. Der 48-Jährige kitzelt die PS aus seiner feuerroten Ducati 851 Superbike heraus. Legt sich beim Haus Nummer 11, das die Sicht etwas verstellt, in hohem Tempo tief in die Rechtskurve.
«Dee chunt! Dee chunt!», ruft Raul Roduner im Auto, das zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Der Motorradfahrer schlittert seitlich, nur noch halb auf dem Gefährt sitzend, direkt auf den Wagen zu. Schon knallt es – erst der Töff, dann der Körper. Der Mann stirbt noch auf der Unfallstelle. «Er verlor aus bislang unbekannten Gründen die Beherrschung über seinen Töff», steht am Tag danach in der Polizeimeldung.
«Uns wurde die schönste Zeit des Lebens gestohlen.»
Tamara Haller
Raul Roduner und Tamara Haller bekommen keine Zeit, den Schock zu verdauen. Bis zwei Uhr nachts werden sie von Kantonspolizisten befragt, ehe man sie und das Kleinkind nach Hause bringt. Körperlich sind sie unversehrt – scheinbar. Bei Roduner, dem es durch den Airbag den Kopf nach hinten geschleudert hat, machen sich ein paar Tage später Kopfschmerzen sowie Sehstörungen bemerkbar. Haller beklagt Nackenbeschwerden, die sich später als Fraktur eines Dornfortsatzes herausstellen. Das Baby bleibt unverletzt.
Die Strafuntersuchung wegen fahrlässiger Tötung, die in solchen Fällen zwangsläufig erfolgt, wird kurz darauf eingestellt. Damit ist es amtlich: Raul Roduner trägt am tödlichen Unfall keine Schuld.
Es sollte bis heute das letzte Mal gewesen sein, dass er sich gerecht behandelt fühlt.
Bereits aktenkundig ist, dass die Ducati des Verursachers nicht eingelöst, der Halter somit ohne Versicherungsschutz war. Auch deshalb bleibt ungeklärt, wer für die Folgen des Unfalls haftet. 
Im Juli 2017, fast fünf Jahre nach der fatalen Kollision, verfasst Raul Roduner einen Lagebericht – er dokumentiert eine Abwärtsspirale, die nicht aufhört, sich zu drehen. «Zu Tamara: Absolut am Anschlag, Epilepsie, extreme Müdigkeit, Schmerzen. Wütend auf die Schweizer Politik und deren Gleichgültigkeit.» Über sich selber: «Komplett am Anschlag mit dauernden Nervenkrämpfen, Kopf- und Genickschmerzen und starker Einschränkung des Sehvermögens. Wütend, dass eine junge Familie über Jahre hinweg so behandelt wird.» Und als Fazit: «Egal, wie wir strampeln und strampeln, die Gesamtsituation bleibt prekär.»
Bis zum Unfalltag seien sie kaum je bei einem Arzt gewesen, sagen Roduner und Haller. Jetzt füllen ihre Krankengeschichten ganze Ordner. In Kliniken und bei Gutachterstellen von Suva, IV und privaten Versicherungen soll der Nachweis erbracht werden, was für sie selber sonnenklar ist: dass ihr schlechter Gesundheitszustand eine Folge des Unfalls ist. «Beweispflicht der Kausalität» nennt sich dieses Unterfangen im sperrigen Jargon des Haftpflichtrechts – ein Vorgang, der fast beliebig in die Länge gezogen werden kann.
Raul Roduner und Tamara Haller sind gesundheitlich angeschlagen, das steht ausser jedem Zweifel. Das zeigt sich auch daran, dass ihnen eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit attestiert wird: bis März 2014 zu 100 Prozent, später dann noch teilweise; vollständig erwerbsfähig sind sie erst im Frühling 2015 wieder. Es sind endlose drei Jahre, in denen eine Zeitlang Unfalltaggelder ausbezahlt werden, es sonst aber nur unregelmässige Einkünfte gibt.
Raul Roduner verliert in dieser Zeit seinen Kundenstamm, den er sich zuvor als selbständig erwerbender IT-Fachmann und Gärtner aufgebaut hat. Und Tamara Haller leidet seit Herbst 2013 – nach der Geburt der zweiten Tochter Sarah* – plötzlich unter teils heftigen Epilepsieanfällen. Sie verunmöglichen lange eine Wiederaufnahme der Berufstätigkeit. «Unsere Schulden werden täglich grösser», steht in Roduners Bericht.
Eigentlich hätte die Familie unter diesen Umständen Anspruch auf Sozialhilfe. Doch Raul Roduner zischt: «Um keinen Preis!» In seiner Stimme liegt unüberhörbar eine trotzige Schärfe, die keinerlei Argumentieren zulässt. Denen vom Amt sei nicht zu trauen. «Wir schaffen das allein.»
Der Lohn aus Tamara Hallers Job als Callcenter-Agentin, den sie letztes Jahr gefunden hat, hilft, aber ohne die Unterstützung von Bekannten und Verwandten ginge es nicht. Doch es ist diese private Hilfe, die der Invalidenversicherung einen Grund dafür liefert, keine Rente zu sprechen. «Sie haben einige Freunde, die Sie unterstützen. Das zeigt, dass grundsätzlich Ressourcen da sind», schreibt die IV-Stelle Zürich in ihrem Entscheid vom Januar 2016. «Es ist Ihnen somit zumutbar, einer Arbeitstätigkeit nachzugehen.» Zudem sei kein invalidisierender Gesundheitsschaden vorhanden.
«Zynisch», bezeichnet Raul Roduner diese Argumentation. Und: «Typisch!» Letzteres sagt der kleine, drahtige Mann öfters, wenn er über die Akteure erzählt, die in der Geschichte vorkommen, die seine Familie so zermürbt. Er sagt es mit dem anklagenden Unterton von einem, der hinter allem ein Ränkespiel vermutet. «Typisch!» heisst: In der Welt da draussen, der Welt der Ämter, Versicherungen, Anwälte, da sind alle gegen uns.
Tamara Haller, 44, und Raul Roduner, 52, haben unterdessen geheiratet. Die beiden sind ein Paar der Gegensätze. Sie gibt den sanften, überlegten, ausgleichenden Part. Er, der als Kind aus Argentinien in die Schweiz gekommen ist, hat dagegen eine mitunter aufbrausende Art. Das lässt sich heraushören in den Mitschnitten von Telefongesprächen über den Fall, die Roduner – neben einem Wust von schriftlichen Dokumenten – «zur Beweisführung» sammelt, wie er sagt. Erst ruhig und kontrolliert im Ton, dann immer lauter, schneller, schneidender. Nie ausfällig, aber stets misstrauisch, womit das Gegenüber diesmal wohl wieder kommen würde.
«Ich traue prinzipiell gar niemandem mehr.»
Raul Roduner
Nur wenn das Gespräch auf Selina und Sarah kommt, heute fünfeinhalb und vier Jahre alt, verschwindet die Verbissenheit. Dann wird die Stimme weich. Die beiden Mädchen sind die helle Seite in Raul Roduners ansonsten düsterer Sicht auf die familiäre Situation: «Unseren Kindern geht es gut, sie sind sehr stark.» Ihretwegen, sagt der Vater, führe er diesen Kampf. Und die Mutter: «Sie sollen nicht unter unseren Problemen leiden müssen.»
Deshalb ist der Brief, der im Oktober 2015 aus heiterem Himmel eintrifft, ein Schlag ins Gesicht – noch einer. Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) des Bezirks Hinwil teilt darin in nüchternem Ton mit, dass man aufgrund einer Gefährdungsmeldung «Abklärungen zur Belastungssituation» treffen müsse. Die Meldung ist anonym eingegangen.
Sie enthält eine Ansammlung von Anwürfen gegen die Eltern: psychische Probleme, finanzielle Schwierigkeiten, Drogenkonsum. «In meinen Augen», schreibt der unbekannte Melder mit vorgegaukelter Sorge, «besteht das erhöhte Risiko einer Kurzschlusshandlung, wie zum Beispiel eines erweiterten Suizids.»
Es dauert bis Februar 2016, ehe das Dossier geschlossen wird. Die Untersuchung der Kesb hat «keine Hinweise auf eine Kindswohlgefährdung» ergeben. Die Sorge, man könnte sie bevormunden, was den Umgang mit ihren Kindern anbelangt, sind Roduner und Haller los. Ihr Groll gegen die vermeintlich feindliche Aussenwelt aber ist nur noch gewachsen.
«Wenn so etwas auf einen losgelassen wird, glaubt man nicht mehr an das Gute.»
Tamara Haller
In der Haftungsfrage ist dagegen keine Lösung in Sicht, auch nach fünf Jahren bleibt die juristische Lage vertrackt. Theoretisch ist für Verkehrsunfälle, die durch den Fahrer eines nicht eingelösten Motorfahrzeugs verursacht werden, zwar vorgesorgt. Aus dem Topf des Nationalen Garantiefonds werden Leistungen erstattet, die keine andere Versicherung trägt.
In der Praxis kann sich daraus aber eine Endlosschleife entwickeln: Der Garantiefonds wartet auf Informationen darüber, welche Kosten die Krankenversicherung übernimmt, diese wiederum wartet auf die ärztlichen Befunde, die Ausmass und Ursache der Gesundheitsschäden erklären. Und mittendrin Raul Roduner und Tamara Haller, die auf finanzielle Hilfe warten, um ihre Situation zu entschärfen, in die sie völlig unverschuldet geraten sind.
Die Krux ist, wie sogar der eigene Anwalt einräumt, dass die zentrale Frage «höchst strittig» ist. Sind die gesundheitlichen Einschränkungen und der daraus resultierende Erwerbsausfall direkt auf den Unfall vom August 2012 zurückzuführen? Die Basler Versicherung, die in diesem Fall den Garantiefonds vertritt, verweigert Akontozahlungen. Sie verfüge nach wie vor nicht über alle unfallrelevanten Unterlagen.
Roduner und Haller tun sich schwer damit, die Orientierung zu behalten in dieser Abklärungsmaschinerie. Fehlende Dokumente zu Untersuchungen und Massnahmen sind denn auch ein steter Streitpunkt zwischen ihnen und den Anwälten, die dank ihrer Rechtsschutzversicherung für sie arbeiten.
Wieder so ein Leerlauf: Der Anwalt benötigt Papiere, um die Forderungen der Klienten zu vertreten. Diese halten ihm im Gegenzug vor, er würde nichts tun. «Aufforderung zur Handlung», titelt Roduner im Dezember 2015 ein Einschreiben an seinen Anwalt: «Wir müssen leider feststellen, dass Sie unsere Akten noch nie richtig gelesen haben.» Tags darauf legt der Jurist sein Mandat entnervt nieder. Er ist nicht der Erste.
Mit dem aktuellen Anwalt wiederholt sich alles. Roduner sagt, dass es eine Intervention beim Anwaltsverband gebraucht habe, um die monatelange Funkstille zu beenden. Doch die Bestandesaufnahme vom letzten Mai bringt keine neuen Erkenntnisse. Wohl bestehe in zeitlicher Hinsicht ein Zusammenhang zwischen Krankheit und Unfall, fasst der Anwalt zusammen, ursächlich lasse sich dieser aufgrund der Aktenlage aber nicht belegen. «Dafür braucht es noch weitere Abklärungen.»
Dasselbe Mantra, seit Jahren. Bei Raul Roduner und Tamara Haller verstärkt es das ohnmächtige Gefühl, im Stich gelassen zu werden.
*Name geändert
1 Kommentar
Unglaublich, dass weder Versicherungen noch der Fonds bis dato eine Entschädigung an die unschuldige Familie bezahlt haben! Dies erinnert mich stark an das amerikanische Modell wie in Michael Moors Film "Sicko". Grundsätzlich wollen die Versicherungen nicht zahlen. Darauf beruht ihr Geschäftsmodell.