Der Druck, neue Organspender zu finden, wird immer grösser. Über 1100 Personen warten aktuell in der Schweiz auf ein Organ, das ihr Leben retten könnte. So lang war die Warteliste noch nie. Pro Jahr durchgeführt werden aber nur rund 500 Transplantationen.

Jetzt plant das Bundesamt für Gesundheit (BAG), das erst 2007 eingeführte Transplantationsgesetz bereits wieder zu ändern. Neu geregelt werden soll die Grundsatzfrage, ab welchem Zeitpunkt erste medizinische Massnahmen eingeleitet werden können, um danach Herz, Lunge, Niere, Leber und andere Organe zu entnehmen. Die Revision ist weit fortgeschritten. Schon in den nächsten Wochen will das zuständige Bundesamt die revidierte Regelung den vorberatenden Kommissionen von National- und Ständerat vorlegen.

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Erste «Massnahmen» schon vor dem Tod

Angekündigt hatte das BAG den Entwurf im Herbst als «Präzisierung» des heutigen Transplantationsgesetzes. Doch dahinter steckt mehr: Künftig soll es möglich sein, bei einem Menschen bereits vor dem Eintritt des Todes gerinnungshemmende oder gefässerweiternde Medikamente zu verabreichen oder arterielle Kanülen zur Kühlung der Organe zu setzen. Das ethische Problem dabei: Diese sogenannten organerhaltenden Massnahmen sind medizinische Eingriffe, dienen aber nicht dem gesundheitlichen Wohl des Sterbenden, sondern liegen einzig im Interesse des künftigen Empfängers.

Gemäss der geplanten Formulierung dürfen Ärzte bei Patienten, deren Hirn stark beschädigt ist, deren Herz aber noch schlägt, mit solchen organerhaltenden Massnahmen beginnen. Heute müssen Ärzte zuerst den Hirntod abwarten, also bis alle Funktionen des Hirns ausgefallen sind und der Mensch nach wissenschaftlicher Definition als tot gilt.

Die zweite Änderung ist genauso brisant: Bisher durften solche Eingriffe vor dem Tod nur dann durchgeführt werden, wenn Betroffene «frei zugestimmt» hatten. Falls sich die sterbende Person nie für oder gegen eine Organspende ausgesprochen hat, sollen neu Angehörige im Namen des Sterbenden solchen Eingriffen zustimmen – also vor seinem Tod und ohne sein ausdrückliches Einverständnis, nur aufgrund des «mutmasslichen Willens» des bewusstlosen, aber noch lebenden Patienten.

Für Angehörige von hirnverletzten Patienten können solche Entscheide enorm belastend sein, ja sogar unerträglich. Sie müssen nicht nur damit fertig werden, in einer medizinisch aussichtslosen Situation die lebenserhaltenden Massnahmen auszusetzen und so das Leben ihres Angehörigen zu beenden, also passive Sterbehilfe zu leisten. Sie müssen auch damit rechnen, dass nicht sie den Zeitpunkt für das Lebensende ihres Angehörigen bestimmen, sondern Ärzte: Werden organerhaltende Massnahmen eingeleitet, wird der Tod genau dann herbeigeführt, wenn er optimal in den Ablauf einer anstehenden Transplantation passt.

«Ärzte stürzen sich auf den Körper»

Wie eine solche Organentnahme in der Praxis abläuft, beschreibt die Stiftung Dialog Ethik in ihrer jüngsten Publikation anhand eines Fallbeispiels: Für den Therapieabbruch wird der noch lebende Patient in einen Operationssaal gebracht. Die Angehörigen können sich verabschieden, zusammen mit einem Betreuungsteam wird die Beatmungsmaschine abgeschaltet.

Im Nebenzimmer steht ein Transplantationsteam bereit, jetzt muss alles schnell gehen. Entweder entnimmt das Team die Organe unverzüglich nach Eintritt des Herzstillstands, oder es setzt den Kreislauf nach der Feststellung des Hirntods – exakt zehn Minuten nach dem Herzstillstand – mit einer Herz-Lungen-Maschine wieder in Gang. Damit werden die Organe wieder durchblutet, die anstehende Transplantation kann beginnen.

Patientenschützerin Margrit Kessler kennt solche Situationen: «Nach den vorgeschriebenen zehn Minuten stürzen sich die Ärzte wie Bienen auf den Körper, um ihn wiederzubeleben. Es ist unglaublich.» Der für tot erklärte Patient werde reanimiert, einzig zum Zweck, ihm möglichst viele Organe entnehmen zu können. «Kann man da noch von Sterben in Würde sprechen?» Mit dieser neuen Regelung werde der Arzt Richter über Leben und Tod. «Je nach seiner ethischen Einstellung kann er den Tod früher oder später herbeiführen», sagt Kessler. «Die operativen Eingriffe am noch lebenden Patienten mit dem Ziel, Spenderorgane zu erhalten, und die dann folgende Herztodherbeiführung durch den Arzt sind ethisch nicht vertretbar.» Werde diese Regelung eingeführt, werde sie ihren Organspendeausweis zerreissen.

Juristen sind sich nicht einig

In Deutschland und Kanada etwa ist die Organentnahme bereits nach dem Herztod nicht erlaubt. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, die die Gesetzesrevision vorangetrieben hat, stützt sich bei ihrer Einschätzung auf ein Gutachten des Neuenburger Rechtsgelehrten Olivier Guillod. Im Auftrag des BAG kommt er zum Schluss, dass schon heute vorbereitende Massnahmen für eine Organentnahme vor dem Tod erlaubt seien, selbst wenn der mutmassliche Wille zu einer Organspende nicht bekannt sei. Seine Überlegung dahinter: Angenommen, ein Sterbender befürwortet tatsächlich eine Organspende, dann wären solche Eingriffe unabdingbar, um später eine Transplantation überhaupt erfolgreich durchführen zu können.

Vorbereitende Massnahmen für eine Organentnahme widersprächen nicht unbedingt den Interessen eines Menschen, in Würde zu sterben, sagt Olivier Guillod. Seiner Ansicht nach geht es für Patienten mit einer aussichtslosen Diagnose nicht mehr um einen therapeutisch bedingten Eingriff und deshalb auch nicht um einen Entscheid zwischen Leben und Tod. «Eher ist es ein Entscheid zwischen zwei Arten, das Leben dieser Patienten ausklingen zu lassen.»

Doch es gibt auch eine andere Sicht. Die Zürcher Medizinrechtlerinnen Birgit Christensen und Margot Michel betrachten die geplante Gesetzesänderung kritisch. Wenn künftig bereits vor dem Tod eines Menschen «Drittinteressen» berücksichtigt würden, werde die Rechtsposition des noch lebenden Menschen «beträchtlich eingeschränkt», schreiben sie in einer Analyse. Margot Michel: «Alle medizinischen Behandlungen vor dem Tod stellen eine Verletzung der körperlichen Integrität des Patienten dar. Sie sind deshalb in der Regel nur mit dessen Einwilligung rechtmässig.» Und: «Es besteht die Gefahr, dass ein Mensch vor dem Tod für Drittinteressen instrumentalisiert wird.»

Die Methode wird schon angewandt

Trotz schwerwiegenden juristischen Zweifeln und ohne die Gesetzesänderung abzuwarten, hat die Akademie der Medizinischen Wissenschaften ihre Richtlinien genau in diesem Punkt bereits überarbeitet und die neue Standesregelung schon am 1. September 2011 in Kraft gesetzt. Damit ist der Herztod anstelle des Hirntods als entscheidendes Kriterium für anstehende Organentnahmen für Ärzte bereits verbindlich geregelt. Erste Universitätsspitäler wenden die neue Praxis an. Der Jahresbericht 2011 von Swisstransplant weist jedenfalls drei Fälle von «Spendern nach Herzstillstand» aus.

Für die Akademie der Medizinischen Wissenschaften stehen die neuen Richtlinien nicht im Widerspruch zur geltenden Gesetzgebung. Es sei nur eine Präzisierung, betont die stellvertretende Generalsekretärin Michelle Salathé. Dabei stützt sich die Akademie auf die rechtliche Auslegung von Gutachter Guillod, der beim Erarbeiten der neuen Richtlinien auch gleich noch als Berater mitgewirkt hat.

Doch ganz so wohl scheint es der Fachorganisation nicht zu sein. Man wolle «Ärzte keineswegs in eine Situation bringen, sich zwischen Standesrecht und gesetzlichen Bestimmungen entscheiden zu müssen», betont sie. Doch genau das könnte eintreffen. Margot Michel: «Diese Richtlinien sind teilweise nicht mit dem geltenden Transplantationsgesetz vereinbar.» Für sie ist klar: «Die Akademie der Medizinischen Wissenschaften hat ihre Richtlinien etwas vorschnell angepasst.»

Dass sich Ärzterichtlinien und Gesetzesentwurf auffallend ähnlich sind, ist kein Zufall. Der Vorschlag für die Formulierung der entscheidenden Passage stammt von der Akademie selber, wie Michelle Salathé bestätigt. Es gehe darum, «Interpretationsschwierigkeiten», die allerdings nicht weiter ausgeführt werden, zu beseitigen.

Offensichtlich befürchtete die Akademie, mit dem 2007 eingeführten Gesetz würde die Zahl der Spender zurückgehen. Salathé: «Aufgrund der unklaren Situation bestand die Gefahr, dass weniger Transplantationen durchgeführt werden, als unter anderen Umständen möglich wären.» Die Zahlen zeigen einen anderen Trend auf. Bei der Einführung des Gesetzes zählte man vor fünf Jahren 81 tote Organspender, im letzten Jahr waren es bereits 99.