Ärzte kapitulieren
Die Persönlichkeitsstörung einer jungen Frau bringt in Luzern Psychiater und Pflegepersonal an die Grenzen und wirft die Frage auf: Ist es ethisch vertretbar, ärztliche Hilfe zu verweigern?
Veröffentlicht am 7. Juli 2009 - 09:13 Uhr
Hannah Steiner (Name geändert) lag auf dem Rücken im Bett, angeschnallt an Armen und Beinen. Der ganze Körper juckte. Kratzen konnte sie sich nicht, auch nicht selber essen und nicht aufs WC. Die Pfleger fütterten sie, wechselten die Windeln, wischten ihren Hintern ab. Ihre Handgelenke schwollen unter den zu eng angelegten Fesseln mehr und mehr an. Die Patientin schrie, wurde mit Medikamenten ruhig gestellt und dämmerte dahin. Drei Tage und zwei Nächte.
«Das war eine Strafmassnahme, weil ich ein Kopfkissen zerrissen hatte – aus Trotz», sagt sie. Ihr Trotz habe sich gegen die totale, monatelange Isolation in der geschlossenen Abteilung gerichtet: «Ich habe mich den ganzen Tag nur im Kreis gedreht und es einfach nicht mehr ausgehalten. Es gab nichts zu lesen, nichts zu schreiben, kein Radio, keinen Fernseher, keine Spaziergänge, keine frische Luft – einfach nichts. Und ich trug nur eine Unterhose und ein T-Shirt.» Sowohl beim Essen, bei der Körperpflege wie auch auf dem WC sei immer ein Pfleger neben ihr gestanden «und hat die Sekunden gezählt»
Hannah Steiner ist eine attraktive Frau Ende 20. Sie stammt aus gutem Haus, wo Erfolg und Ansehen einen hohen Stellenwert haben. Auch sie war erfolgreich: als Schachspielerin, beim Tischtennis und in weiteren Wettkampfsportarten. Sie gab Behinderten Schwimmunterricht, machte Praktika in einem Kinder- und Jugendheim und in einer heilpädagogischen Schule.
Doch Hannah Steiner wich plötzlich von der Norm ab: Sie verschluckte Gegenstände. Stecknadeln, aufgebogene Sicherheitsnadeln, Drähte, Kugelschreiber, Löffel und Zahnbürsten. Auch fügte sie sich immer wieder Stichverletzungen mit Drähten und Ähnlichem am Unterleib zu. In den letzten vier Jahren musste sie 13-mal hospitalisiert und operiert werden. Zuletzt im März, als sie sich Bleistifte in die Blase stiess.
Sie hat auch schon mal – «aus innerer Not», wie sie sagt – den Inhalt eines Containers in Brand gesteckt. Und wegen öffentlicher Drohungen hat sie sich der «Schreckung der Bevölkerung» schuldig gemacht. Seither geht es bei ihr nicht mehr allein um Selbst-, sondern auch um Fremdgefährdung und um strafrechtliche Fragen. Das Amtsgericht der Stadt Luzern wies sie in die Psychiatrie ein – fürsorgerischer Freiheitsentzug (FFE).
Das macht es für den zuständigen Chefarzt der stationären Dienste der Luzerner Psychiatrie, Julius Kurmann, nicht einfacher. Dabei sei dieser Fall an sich schon «einer der schwierigsten meiner Laufbahn». Bei Hannah Steiner gehe es um eine sogenannte Borderline-Persönlichkeitsstörung (siehe «Info») mit ausgeprägten, lebensbedrohlichen Selbstverletzungen.
Das Gericht sah in Hannah Steiners selbstzerstörerischem Handeln Machtstreben und das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit: Sie setze ihre ganze Energie ein, um immer wieder neue medizinische Behandlung und persönliche Fürsorge zu erzwingen. Mit diesem Verhalten würde sie die Betreuer in der Luzerner Psychiatrie praktisch «instrumentalisieren» – das heisst zu unfreiwilligen Akteuren ihres Spiels machen: Wer ist der Stärkere, wer hat den längeren Atem? Und da stellte sich für die Klinik die Frage, wie sie im Interesse der Patientin diesen Teufelskreis von Selbstverletzung und medizinischer Versorgung durchbrechen konnte.
«Sie fordert uns immer wieder heraus, zu entscheiden, ob wir intervenieren sollen oder ob wir das selbstverletzende Verhalten gewähren können. Jedes Mal, wenn wir ihr mehr Freiheit zugestanden haben, hat sie sich wieder verletzt», präzisiert Julius Kurmann. Das Betreuerteam sei schlicht an seine Grenzen gestossen.
Steiner sieht das natürlich ganz anders. Sie wolle zwar provozieren, aber eigentlich seien ihre Taten Hilferufe. «Bekommen habe ich jedoch immer nur Klinikaufenthalte. Das sind Machtapparate, die auf einem ausgeklügelten System von Belohnung und Bestrafung beruhen. Sogenannt therapiert wird meist nur mit Medikamenten.»
Zwangsmedikation als Mittel zur Ruhigstellung – und um dem Druck nachzugeben, der vom Akutspital ausging: «Die Chirurgen machten uns bei jeder Notfalleinlieferung Vorwürfe, ob wir denn nicht aufpassen könnten», sagt Kurmann. Es gebe unter den Ärzten im Kantonsspital auch solche, die Hannah Steiner nicht mehr anfassen möchten, weil mittlerweile jeder neue Eingriff lebensbedrohend sei.
Ein externer Gutachter empfahl sogar Elektroschocks und eine «stereotaktische Operation am Gehirn». Im Klartext: Ein Teil des Gehirns solle der Patientin einfach wegoperiert werden.
Kurmann und sein Team haben einen anderen Weg gewählt: Sie haben ein ethisches Konsilium durchgeführt und dafür das Institut Dialog Ethik zu Rate gezogen. Dabei ging es um Fragen wie diese: Muss in jedem Fall nach selbstverletzendem Verhalten interveniert werden? Wie weit darf oder muss man zum Schutz des Patienten gehen? Sind Zwangsmedikation, Fixierung am Bett, Verstösse gegen Menschenrechte wie die monatelange Isolation ethisch vertretbar? Oder umgekehrt: Wer haftet, wenn die Patientin während eines Spaziergangs abhaut und sich oder Dritten Schaden zufügt? Er, Kurmann, stehe oft «mit einem Bein im Gefängnis, mit dem anderen in der Öffentlichkeit».
Im Lauf der ethischen Reflexion wurde immer deutlicher, dass der Aufwand, der das Betreuungsteam an seine Grenzen brachte, bei Hannah Steiner kaum Auswirkungen zeigte und ihr mehr schadete als nützte – weil sie sich immer wieder neu verletzte. Also galt es, nicht immer sofort einzugreifen. Aber darf man damit schwere Komplikationen oder gar den Tod der Patientin riskieren?
«Wir kamen zum Schluss, in Absprache mit den Chirurgen, das Risiko in Kauf zu nehmen. Das muss das Personal aber auch aushalten können», sagt Julius Kurmann. Er habe deshalb die Belastung auf sich abwechselnde Teams verteilt. Ausserdem wurde ein Stufenplan erstellt, der auf der untersten Ebene rigorose Massnahmen vorsah: totale Isolation, keine Beschäftigung, keine Unterhaltung, ständige Kontrolle. Hannah Steiner konnte ihre Situation bei korrektem Verhalten verbessern und aufsteigen – oder auch wieder eine Stufe zurückfallen. «So wurde versucht, ihr etwas an Verantwortung für ihr eigenes Tun zurückzugeben», erklärt Kurmann.
Fast scheint es, als wäre das Vorgehen erfolgreich gewesen: Hannah Steiner hat den Aufstieg geschafft und konnte nach überraschend kurzer Zeit mit Einwilligung des Regierungsstatthalters aus dem FFE entlassen werden. Sie selbst glaubt allerdings, dies sei nur aufgrund des Drucks von aussen, von Freunden und Bekannten, geschehen.
Ganz wohl ist dabei jedenfalls niemandem: «Wir haben keine Therapie mit ihr gemacht, es ging nur um Schadensbegrenzung», betont Kurmann. Kliniken seien heute nur mehr Zwischen- und keine Endstationen. «Langzeittherapien gibt es im stationären Bereich nicht.» Und die Aufenthaltsdauer nehme unter dem Spardruck im Gesundheitswesen laufend ab. «Wir behandeln die Patienten fast nur noch in Krisensituationen.»
Für Hannah Steiner sieht er eine Chance in einer ambulanten Therapie, ausserhalb der psychiatrischen Institutionen, die sie bereits alle durchlaufen hat und ablehnt: «Bei einem Therapeuten, zu dem sie Vertrauen fasst.» Den müsse sie selber finden. Die Verantwortung liege nun bei ihr.
Borderline-Syndrom
Das Borderline-Syndrom ist eine Persönlichkeitsstörung mit einem unterschiedlich ausgeprägten Krankheitsbild. Die Patienten sind emotional instabil und leiden unter Stimmungsschwankungen, impulsivem Handeln ohne Rücksicht auf Konsequenzen, streitsüchtigem Verhalten, mangelndem Selbstwertgefühl. Häufig sind selbstverletzende Handlungen: sich schneiden oder sich Brandwunden zufügen. Dadurch werden Spannungen abgebaut. Betroffene berichten, sie spürten sich dadurch wieder oder empfänden danach auch eine angenehme Erregung.
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