Der Banker, der zum Bankräuber wurde
Ein ausgesteuerter Banker überfällt eine Bank. Seither rätseln Psychiater, was dem Mann fehlt. Die Familie muss ohnmächtig zuschauen.
Veröffentlicht am 24. Mai 2019 - 16:33 Uhr
Es war kühl in der Linthebene an jenem Samstag. Das Abendessen stand bereit, die Frau und die drei Töchter warteten. Doch der Hund schlug nicht an, und der Mann nahm seit Stunden keine Anrufe entgegen. Er hatte gesagt, er sei an einem Seminar in Zürich. Da griff die Frau zum Handy und meldete ihren Mann bei der Polizei als vermisst.
Nach so vielen Jahren des Zusammenlebens wusste sie, dass etwas nicht stimmen konnte. Ihr Mann rief immer an. Ein- bis zweimal pro Tag. Auch aus Übersee. Nach Amerika reiste der erfolgreiche Kadermann einer Liechtensteiner Bank öfter. Er war Mitglied der Direktion des Schweizer Ablegers der Bank und betreute Privatkunden.
Zwei Stunden später kam die Kriminalpolizei und durchsuchte zur Überraschung der Familie das Haus von der Garage bis zum Estrich.
Der Mann sass zur selben Zeit ein paar Autominuten entfernt an der Bar eines Restaurants in Lachen SZ. Er ass und trank etwas und schaute Fussball, Borussia – Bayern. Er war ausser sich. Er war der festen wie irrigen Überzeugung, es laufe «eine richtige Show» gegen ihn, hier, live in Lachen. Polizisten in Autos und zu Fuss, Polizisten in Uniform und in Zivil, Polizisten ständig in der Nähe, ihn beobachtend, ihn bedrohend. Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder würde man ihn verhaften, oder er versteckte sich, wie er es im Militär gelernt hatte.
Er wählte die zweite Möglichkeit. Als das Lokal sich geleert hatte, ging er zur Toilette und fand einen Weg in den Innenhof. Plötzlich war er gefangen. Zurück konnte und wollte er nicht. Der Hof war vergittert, und es war eiskalt. Der Mann duckte sich unter die Lüftungsrohre neben dem Abfallcontainer. Dort blieb er und machte kein Auge zu.
An jenem Samstag, 5. März 2016, hatte der Mann eine Bank überfallen. Die Schwyzer Kantonalbank im Seedamm-Center in Pfäffikon SZ, gleich neben Lachen. Er griff sich gegen elf Uhr früh einen der Kunden, die Geld am Schalter abheben. Er drückte ihm eine Pistole in den Rücken , zog ihn vor die Bankangestellte hinter ihrer schusssicheren Scheibe und sagte: «Geld!»
Die Noten stopfte er in einen Plastiksack, schob die Pistole in seine Hose und rannte zum Auto. Hinter ihm her der Kunde, den er eben noch bedroht hatte. Der Kunde riss dem Räuber den Plastiksack aus der Hand und brachte das Geld zur Bank zurück. Präzis 55'400 Franken, wie die Angestellte nachzählte, als das Sicherheitsgitter wieder hochgezogen war und der Kunde das Geld zurückgeben konnte.
Dass ihm seine Geisel die Beute abgenommen hatte, brachte den Räuber vollends aus dem Konzept. Er wollte mit dem Geld offene Rechnungen bezahlen. Der Räuber fuhr nach Lachen. Dort hatte er mit seiner Familie zehn Jahre lang gewohnt. Im Parkhaus zog er sich um. Er stopfte die Kleider, die er beim Überfall getragen hatte, in einen Sack und drückte ihn am See in einen Kübel. Dann hob er 1000 Franken ab und ging Borussia – Bayern gucken. Der Match endete 0: 0.
Das Gitter zum Innenhof des Restaurants in Lachen wurde erst am Sonntag um halb neun geöffnet, als zwei Bewohner das Haus verlassen wollten. Vor Kälte zitternd, zückte der Räuber die Pistole. Er verlangte eine Winterjacke und 50 Franken. Dann fuhr er via Zürich nach Genf. Zur Tarnung in der ersten Klasse. Nach einer weiteren abenteuerlichen Nacht in einem Hotel und auf den Strassen in Genf ging er auf einen Polizeiposten zu und sagte: «Ich ergebe mich.» Man hielt es für einen Scherz. Bis der grossgewachsene, sportliche Mann die geladene Pistole zur Decke hielt.
Das war am Montag, 7. März. Beamte hatten die Familie des Bankers erneut aufgesucht. Sie nahmen eine Flinte, eine Pistole und einen Revolver mit, Munition, ein Notizbuch und das Dienstbüchlein des Mannes. Er war Offizier. Er arbeitete nicht bei der Zürcher Kantonalbank, wie er der Familie erzählt hatte. Sieben Monate lang war er am Morgen in Hemd und Anzug aus dem Haus gegangen und war am Abend zur Familie zurückgekehrt. Stets dabei das Aktenköfferchen, das mit jeder unbezahlten Rechnung schwerer wurde.
Anfang 2014 hatte der langjährige Kadermann die Liechtensteiner Bank verlassen. Da hatte er die 50 überschritten. Zwei weitere Arbeitgeber kündigten ihm die Stelle. Den Töchtern fiel auf, dass der Vater sehr viel schlief, mitten in der Nacht ass und plötzlich Wörter benutzte, die er den Kindern strikt verboten hatte.
Erst lebte die Familie vom Arbeitslosengeld. Ab Januar 2016 war der Mann ausgesteuert . Die Familie wusste von nichts. Die Schulden wuchsen. Mit der Beute wollte der entlassene Banker für seine Familie sorgen. «Er war der beste Ehemann und Vater, den man sich wünschen kann», sagt die Frau. Dann kam der Bankraub, und nichts mehr war wie zuvor.
Die Frau sah ihren Mann erst vier Monate später wieder. Nach dem Überfall schienen 22 Jahre Ehe und tägliche Gespräche wie vergessen. Ihr Mann war begeistert vom Gefängnis. Er machte einen gepflegten Eindruck – und Verbesserungsvorschläge für die Haftanstalt wie Balkone, was die Ehefrau verwirrte. Die drei Töchter hatten von heute auf morgen keinen Vater mehr daheim. Die Frau hatte zeitweise drei Jobs. Das Haus stand zum Verkauf. «Wir waren der Kollateralschaden, wir bekamen weder Informationen noch Hilfe», sagt die Frau.
Morbus Pick beeinträchtigt das Realitätsempfinden: Wahr ist, was sich gut anfühlt.
In den Monaten nach der Tat war der Mann mehrfach psychiatrisch untersucht worden. Im August 2016 wurde ihm die Diagnose vorgelegt. Morbus Pick, eine sehr schwere Form von Demenz. Bei Menschen mit Pick zerfällt nach und nach das moralische Korsett, während das logische Denken intakt bleibt. Was das konkret bedeuten kann, beschrieb die Tochter einer Pick-Patientin in der «NZZ». Ihre alte Mutter fasst fremden Leuten im Pflegeheim bisweilen in den Schritt, wenn sie Kontakt – nicht Sex – sucht.
Morbus Pick beeinträchtigt das Realitätsempfinden: Wahr ist, was sich gut anfühlt. Eine Heilung gibt es nicht, Medikamente ebenso wenig, es lassen sich bloss Symptome behandeln. Menschen mit Pick (die Krankheit heisst auch frontotemporale Demenz ) leben nach der Diagnose vielleicht noch sechs oder acht, vielleicht auch 20 Jahre lang. Ob die Diagnose korrekt war, weiss erst der Pathologe, der das tote Hirn untersucht.
Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) wurde eingeschaltet. Der Mann bekam einen Beistand. Er durfte keine wichtigen Entscheidungen mehr treffen, nicht mehr an Wahlen teilnehmen. Man verlegte ihn auf die geschlossene Station eines Pflegeheims im Thurgau. Auf die niederschmetternde Diagnose hin dachte er an Suizid. Im Heim sah der Mann, wie Pick im Endstadium aussieht. «Meine Zimmernachbarin beschmierte ihr Zimmer mit Kot, und einmal verrichtete sie ihr Geschäft direkt vor meiner Tür», sagt er. Er habe kein Pick, sagt er. «Die Diagnose war falsch. Ich will die Verantwortlichen verklagen. Und ich will darüber ein Buch schreiben.»
Die Diagnose gestellt hatte der Zürcher Gerichtspsychiater Frank Urbaniok . «Ich würde mir wünschen, dass er keinen Morbus Pick hat. Es gibt kaum eine schlimmere Diagnose», sagt er.
Was dem Banker fehlt, ob er dement ist oder nicht – die Antwort darauf ist entscheidend, um die Schuldfähigkeit zu klären. Also ob der Mann wusste, was er tat, als er mit einer Waffe die Bank betrat. Im Thurgau wurde er erneut intensiv körperlich und geistig begutachtet. Allerdings «von einer Internistin», wie das Gericht später säuerlich anmerkte und die Ärztin deswegen nicht in den Zeugenstand holen mochte, wie vom Verteidiger gewünscht.
Die Internistin kam ein Jahr nach dem Bankraub zum Schluss, für einen Morbus Pick gebe es «aktuell keinen Nachweis». Sie vermutete eine bipolare Störung mit depressiver Episode nach der Entlassung im Jahr 2014 und zur Zeit des Bankraubs eine psychotische Störung mit Symptomen einer Schizophrenie. Zudem habe der Mann narzisstische Züge.
In der Folge zog sich der Beistand der Kesb zurück, das Pflegeheim kündigte den Vertrag, der Mann wurde am frühen Morgen seines 55. Geburtstags in seinem Zimmer verhaftet und ins Gefängnis zurückgebracht. Dort wartete er auf den Prozess. Der fand zweieinhalb Jahre nach dem Bankraub in Schwyz statt.
In all der Zeit in Haft oder Heim war der Mann nie therapiert worden, weil es keine schlüssige Diagnose gab. Und ohne Diagnose keine Therapie. Also beauftragte die Anklagebehörde einen weiteren Psychiater. Dieser erkannte allein eine manisch-depressive Störung. Auf diese Diagnose stützte sich das Gericht. Im prunkvoll geschnitzten Saal in Schwyz richtete die Gerichtspräsidentin folgende Worte an den Angeklagten: «Wie wir sehen, haben Sie sich von Ihrer bipolaren Phase erholt.» Bipolar heisst im Volksmund: himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt.
Der Mann wurde wegen räuberischer Erpressung und bewaffneten Raubs zu 42 Monaten Gefängnis verurteilt – sechs Monate mehr, als der Staatsanwalt beantragt hatte. Die sieben Monate im Pflegeheim wurden ihm nicht angerechnet. Der Banker, dem das Geld ausging, muss die Verfahrenskosten von CHF 105'329.40 tragen und sein psychisches Leiden therapieren lassen.
Er akzeptierte die Strafe und somit seine Schuldfähigkeit. Sein Dilemma: Wenn er schuldunfähig gewesen wäre, hätten ihn die Behörden in eine geschlossene psychiatrische Institution einweisen und auf unbestimmte Frist verwahren können. «Ich will nicht als vollgepumpter Zombie enden», sagt der Mann. Da sei ihm das Gefängnis lieber.
«Es ist ein Leben wie auf der Achterbahn, wir fielen durch alle Maschen.»
Die Frau des Ex-Bankers
Er rechnete damit, nach dem Absitzen von zwei Dritteln der Strafe Mitte Januar 2019 freigelassen zu werden. Dazu kam es nicht. Der Mann habe sich geweigert, mit der Psychotherapeutin zu sprechen, hielt das Amt für Justizvollzug des Kantons Schwyz Ende Februar fest. Aber «ohne Behandlung der bipolaren Störung» könnte der Verurteilte «nach der Haftentlassung erneut in eine Situation kommen, die er nicht bewältigen» könne.
Nun sah aber der Gefängnispsychiater keine Veranlassung, dem Mann Medikamente zu verschreiben. Er erkenne bloss eine «nachvollziehbare Kränkbarkeit». Abgesehen davon sei weder von einem Morbus Pick noch von einer Schizophrenie noch von einer manisch-depressiven Störung auszugehen. Wovon denn sonst?
Das wüsste auch die Familie gern. «Die Lage für meinen Mann und für uns wird immer schwieriger, es ist ein Leben wie auf der Achterbahn, wir fielen durch alle Maschen», sagt die Frau. Das Haus ist weg, die Familie lebt zur Miete. Ihr Mann hat in all den Jahren nur fünfmal eingewilligt, sie oder seine Töchter zu sehen. In zehn Monaten soll er freikommen. Er will zu seiner Cousine ziehen. Oder nach Arizona.
In der Rubrik «Der Fall» geht es um Geschichten von Menschen, die eine Phase durchmachen, in denen es das Leben nicht gut meint mit ihnen. Auch die Stiftung SOS Beobachter unterstützt Menschen, die einen Schicksalsschlag verkraften müssen – mit einer Spende können Sie mithelfen.
1 Kommentar
Also ich bin da ja nicht vom Fach. Aber ich wuerde mal sagen: Hier fehlt der gesunde Menschenverstand. Hueben wie drueben. Smile.
Wieviele "Gutachten" wurden hier von Profis gemacht und dann alle mit einer anderen Diagnose?