Die Alternative zu den Lotterbuden
Sozialhilfeempfänger sind ein gutes Geschäft für private Vermieter. Biel setzt dagegen auf gemeinnützige Wohnungen – und spart viel Geld.
Veröffentlicht am 25. April 2014 - 17:32 Uhr
Mit heruntergekommenen Liegenschaften lässt sich sehr viel Geld verdienen: mit Randständigen als Mietern, die auf dem Wohnungsmarkt keine Chance haben. Denn die Sozialhilfe zahlt einen definierten Maximalbetrag an die Miete – auch wenn diese überrissen ist.
Der Beobachter berichtete im März über solche Liegenschaften im Zürcher Kreis 4. Satte 1200 Franken kostet dort ein Studio mit Kochnische in einem Haus mit 50 Wohnungen, Drogenhandel auf den Gängen inklusive. Ähnliches geschieht in Basel: In seinem verwahrlosten Haus verlangt ein Zürcher Eigentümer 750 bis 1000 Franken für kleinste Absteigen, wie die «Basler Zeitung» im April berichtete. Vor allem Sozialhilfe- und IV-Bezüger gehören zu den Mietern.
Vergleichbare Beispiele finden sich in allen grösseren Schweizer Städten. Auch die Stellungnahmen der Sozialämter ähneln sich: «Unsere Klientinnen und Klienten mieten ihre Wohnungen wie Menschen ohne Unterstützung selbständig und eigenverantwortlich», heissts in Basel. «[…] richtig und wichtig, um die Selbständigkeit der Klientinnen und Klienten zu erhalten», sagt das Sozialdepartement Zürich. Kurz: Mieter müssten selber Alternativen zu den vernachlässigten Wohnungen suchen – oder rechtlich gegen ihre Vermieter vorgehen.
Dass es auch anders geht, zeigt Biel, die Stadt mit dem schweizweit höchsten Anteil an Sozialhilfebezügern. Auch in Biel versuchen Eigentümer von überteuerten Lotterhäusern ein Geschäft mit den Sozialhilfeempfängern zu machen.
Die Stadt Biel hat jedoch eine langfristige Strategie, um günstigere Alternativen zu schaffen. Bereits 1990 schlug sie einen unkonventionellen Weg ein. Anders als heute litt Biel damals unter einer allgemeinen Wohnungsnot. Es musste dringend Wohnraum verfügbar gemacht werden, um Bürger unterzubringen, die keine Unterkunft mehr fanden. Zudem brauchte es zusätzliche Sozialarbeiter. Weil für eine schnelle städtische Lösung Geld und politische Einigkeit fehlten, gründete die Stadt den gemeinnützigen Verein Casanostra, der das Problem angehen sollte. Konkret: geeignete Häuser kaufen und Wohnungen mieten. Sozialarbeiter, die Klienten in ihren Wohnungen nach Bedarf unterstützen, wurden ebenfalls vom Verein angestellt. Der kann seine Leistungen der Stadt verrechnen. Zudem wird er bescheiden finanziell unterstützt.
Heute besitzt die Stadt Biel keine einzige eigene Sozialwohnung und auch keine Notwohnungen. Dafür ist Casanostra zuständig. Dem Verein gehören 8 Liegenschaften mit 91 Wohnungen, 46 weitere hat er dazugemietet. Ein halbes Dutzend Sozialarbeiter betreuen Klienten.
Der Verein Casanostra geniesst politische Unterstützung von links bis rechts. Warum? «Unsere professionell verwalteten Wohnungen sind im Schnitt 20 Prozent günstiger als vergleichbare Angebote auf dem Markt», sagt Geschäftsleiter Fritz Freuler. Das habe nicht nur mit Verhandlungsgeschick bei den Käufen zu tun. «Unsere Liegenschaften sind nicht subventioniert. Sie werden aber als Genossenschaften geführt und müssen darum keinen Gewinn abwerfen.» Alles andere wäre für Freuler auch unsinnig: «Wer mit dem Vermieten von Wohnungen an Sozialhilfeempfänger Gewinn erwirtschaftet, wird letztlich staatlich subventioniert. Denn die Mieten sind in diesen Fällen ja nichts anderes als Steuergelder.» Die Casanostra-Wohnungen kosten auch weniger als die maximalen Bieler Wohnzuschüsse von 700 Franken pro Person. Kleinere Studios gibt es bereits ab 540 Franken, die Stadt «spart» in diesem Fall 160 Franken pro Monat.
Entscheidend für erfolgreiche Liegenschaftskäufe war auch eine gewisse Unabhängigkeit von der Politik. Jede Stadtregierung, die heute selber Liegenschaften kaufen will, muss fast jedes Projekt zuerst durch die politische Mühle bringen, da es die Ausgabenkompetenzen der Regierung meist überschreitet. «Allein der Zeitverlust wäre ein riesiges Handicap», sagt Freuler.
Auch andere Städte haben Stiftungen, Fonds oder Vereine ins Leben gerufen, die Liegenschaften unabhängiger kaufen können. Doch Casanostra fokussiert sich – wie kaum ein anderes Projekt – auf Menschen, die auf dem Markt schlicht keine vernünftige Wohnung mehr finden.
Einer von ihnen ist René Müller*. Er hat ein Drogenproblem und eine Augenverletzung, ist seit Jahren auf Sozialhilfe angewiesen. «Ich habe jahrelang in Lotterhäusern gewohnt, bevor ich bei Casanostra eine Bleibe gefunden habe. Die Unterschiede sind riesig. Ich habe keine hohen Ansprüche. Aber eine gewisse Ruhe und etwas Ordnung sind wichtig, damit es mir gutgeht.» Genau das fehlte ihm vor Casanostra. Rücksichtslose oder auch nur überforderte Vermieter und ständige Auseinandersetzungen mit Mitbewohnern machten sein Heim zur Hölle und Nachbarn zu Feinden.
Oft sind es kleine Dinge, die immer wieder zu heftigen und eigentlich unnötigen Auseinandersetzungen führen. Verlorene Schlüssel oder Sicherungen zum Beispiel, weiss Fritz Freuler aus Erfahrung. «Wenn Sicherungen rausfliegen, können sie ersetzt werden – solange es welche hat. Wenn sie aufgebraucht sind, kann man noch die des Nachbarn rausschrauben, um wieder Strom zu haben. Damit ist Krach garantiert.» Realität in manchen Altbauten.
Casanostra versucht auch solche kleinen Konfliktherde auszuräumen, weil sie einen grossen Einfluss auf das Zusammenleben haben. «Man darf nicht vergessen, dass diese Mieter – weil sie nicht arbeiten – viel mehr Zeit in der Wohnung verbringen als andere Menschen.» Wohnungen werden darum mit einfachen, aber beständigen Materialien saniert: mehr Plattenböden, weniger Parkett.
Ein weiterer Punkt: verlorene Schlüssel. Weil das hohe Kosten verursacht und öfter vorkommt als bei «gewöhnlichen» Mietern, hat Casanostra in einer grösseren Liegenschaft gleich ein Schliesssystem mit umprogrammierbaren Schlüsseln eingebaut.
Eine wissenschaftliche Befragung zeigt, dass es bei den Bewohnern eine hohe Zufriedenheit gibt. Ein Grund dafür ist das flexible Betreuungsmodell. Es reicht von einer kostenlosen Beratung nach Bedarf über monatliche Hausbesuche (Kosten: 320 Franken pro Monat) bis zu wöchentlichen Besuchen (490 Franken). Das wird vom Sozialamt bezahlt, wenn der Klient dazu nicht in der Lage ist. Auch Personen, die in privaten Liegenschaften wohnen, können sich auf diese Art beraten lassen.
René Müller lebt seit 14 Jahren bei Casanostra – eine Ausnahme. «80 Prozent unserer Klienten ziehen nach zwei bis drei Jahren wieder aus, weil sie eine gewöhnliche, bezahlbare Wohnung gefunden haben», sagt Casanostra-Leiter Freuler. Für Casanostra ist das gut, weil so immer wieder Wohnungen für neue Klienten frei werden. In einer Stadt wie Zürich wäre das wohl anders, weil der Markt für günstigere Wohnungen viel stärker ausgetrocknet ist.
In anderen Städten wird das Bieler Modell durchaus positiv gewertet. Es sei aber nicht der einzige Weg. Zürich habe einen hohen Anteil gemeinnütziger Wohnungen, allerdings ohne Betreuung, sagt Thomas Meier, Sprecher des Sozialdepartements. «Nur ein kleiner Teil der Sozialhilfeempfänger braucht diese auch. Für die anderen haben wir schon lange betreute Wohnangebote und auch Notwohnungen.» Solche Angebote sind aber relativ teuer.
Zürich hat heute einen Anteil von einem Viertel gemeinnütziger Wohnungen. Dieser muss bis 2050 auf einen Drittel erhöht werden. Das hat die Bevölkerung 2011 an der Urne beschlossen. Wie das umgesetzt werden soll, ist weitgehend unklar. Mehr gemeinnützige Sozialwohnungen könnten einen kleinen Teil dazu beitragen.
Die Stadt Basel hat keine eigenen Sozialwohnungen. Sie setzt auf die sogenannte reine Subjektfinanzierung. Bedürftige bekommen eine finanzielle Unterstützung, um auf dem freien Markt eine Wohnung zu mieten. Im Herbst nahm die Bevölkerung aber ein Wohnraumförderungsgesetz an, das auch eine direkte Vergabe von günstigem Wohnraum an besonders benachteiligte Personen vorsieht. Auch hier ist noch unklar, wie die Stadt dies erfüllen wird.
Für Felix Wolffers, Leiter des Berner Sozialamts, ist Casanostra ein «sinnvolles Projekt». Nicht ganz überraschend, denn Ende der achtziger Jahre arbeitete er in Biel und initiierte die Idee. «Ohne eine solche Einrichtung ist es für Personen in der Sozialhilfe, die oft psychische Probleme oder Schulden und Betreibungen haben, sehr schwierig, überhaupt eine Wohnung zu finden», sagt Wolffers.
Bern gehe mit dem Verein Wohnenbern einen ähnlichen Weg. Dieser bietet betreutes und begleitetes Wohnen an. Aber er kauft keine Wohnungen. «Er würde das gern tun. Und das Sozialamt unterstützt diese Absicht», sagt Wolffers. In Bern wird die gesamte Wohnpolitik derzeit aber ganz grundsätzlich hinterfragt, nachdem im Februar bekannt wurde, dass über die Hälfte der Bewohner von subventionierten Wohnungen gar keinen Anspruch darauf hätte.
Nicht nur in Bern fordern bürgerliche Politiker und Hauseigentümer darum die Einführung einer reinen Subjekthilfe, wie sie Basel kennt. Unterstützt würden dann einzelne Mieter, nicht mehr Wohnungen.
Gerade für Randständige wäre das schlecht, ist Fritz Freuler von Casanostra überzeugt. «Weil der Markt für diese Leute nicht spielt, müssten sie wieder die überteuerten Lotterwohnungen mieten.»