Die Glaubenspille Tamiflu
Vom Ladenhüter zum Kassenschlager: Selbst gegen eine gewöhnliche Grippe nützt Tamiflu kaum, trotzdem ordern Regierungen die Pille aus Basel millionenfach.
Veröffentlicht am 18. September 2009 - 12:00 Uhr
Vergangenen Februar war Tamiflu klinisch tot. Das Roche-Mittel hatte in der letzten Grippesaison versagt. In den USA waren 98 Prozent der H1N1-Viren resistent gegen den Tamiflu-Wirkstoff Oseltamivir, in Norwegen 68 Prozent. «Das ist das Todesurteil für jedes Medikament», konstatiert der Arzt und Apotheker Wolfgang Becker-Brüser, Herausgeber des deutschen «Arznei-Telegramms».
Damit wäre die Tamiflu-Saga zu Ende gewesen. Wenn da nicht plötzlich ein neuartiges H1N1-Grippevirus in Mexiko aufgetaucht wäre. Die Meldung verbreitete sich mit atemberaubender Geschwindigkeit. Die Medien überschlugen sich fast mit Schreckensmeldungen. Eine Pandemie mit Hunderttausenden von Toten drohte. Der Notstand war da. Da erinnerte man sich an das Roche-Präparat, das Linderung gegen das angebliche Killervirus versprach. Tamiflu war auferstanden, wurde zur Geldspritze, die Roche immun machte gegen die Wirrungen der Wirtschaftskrise. Wie schon vor vier Jahren anlässlich der Vogelgrippe war das Grippemittel plötzlich wieder in aller Munde.
Tamiflu wurde als wirksames Mittel gehandelt, das die tödliche Gefahr des Schweinegrippevirus bannte. Notabene ein Medikament, das es wegen seines zweifelhaften Nutzens bei der Zulassung vor zehn Jahren nicht einmal auf die Spezialitätenliste des Bundes schaffte und bis diesen Sommer von Schweizer Krankenkassen nicht bezahlt wurde. So schwach ist seine Wirkung. Die Grippesymptome fallen etwas milder aus, die Krankheit verkürzt sich um einen halben bis anderthalb Tage, und das Ansteckungsrisiko sinkt. Wird Tamiflu aber nicht innerhalb von 36 bis 48 Stunden nach der Ansteckung geschluckt, nützt es gar nichts.
Was haben Schweinegrippepatienten davon? «Zumindest die Hoffnung, etwas Gutes für sich getan zu haben. Aber damit hat es sich auch schon», sagt Arzt Becker-Brüser. Und warum wird es von Regierungsstellen trotzdem millionenfach geordert? «Weil man nichts anderes hat, um die Menschen zu beruhigen.» Mit diesem vernichtenden Urteil ist Becker-Brüser in guter Gesellschaft.
«Selbst die Wirkung für Risikopatienten ist wegen der nach wie vor schlechten Datenlage unklar», berichtet auch der Pharmakologe Dirk Stichtenoth von der Medizinischen Hochschule Hannover. «Es ist nicht einmal belegt, dass Tamiflu einen Todesfall verhindert hätte.» Aufgrund der bisherigen Testergebnisse müsse man davon ausgehen, dass es wohl auch «keinen Einfluss auf die Überlebensrate von Schweinegrippekranken» habe.
«Selbst bei der gewöhnlichen Grippe wird die Bedeutung des Wirkstoffs häufig weit überschätzt», bemängelt Bernd Mühlbauer, Direktor des Instituts für Pharmakologie am Klinikum Bremen. Das Versprechen, Tamiflu reduziere in grosser Zahl schwere Komplikationen wie Lungenentzündungen, sei überrissen. Nur wenige Schweinegrippepatienten dürften wirklich profitieren. Das sei angesichts der Milliardeninvestitionen herzlich wenig.
«Rund um Tamiflu gibt es viel Unwägbares und momentan nicht Abschätzbares», sagt Etzel Gysling, Herausgeber der Schweizer «Pharma-Kritik». Dass das Medikament trotzdem massenweise gekauft werde, müsse man angesichts seiner bescheidenen Wirksamkeit als «Verzweiflungstat» taxieren. Gysling weiter: «Ich kann mir gut vorstellen, dass die Behörden sich nur deshalb für Tamiflu entschieden, damit ihnen hinterher niemand vorwerfen kann, sie hätten nicht alles Menschenmögliche getan, wenn es ganz schlimm kommen sollte.»
Im Bundesamt für Gesundheit (BAG) kennt man diese Bedenken. BAG-Pandemieexperte Patrick Mathys sagt denn auch überraschend offen: «Viele andere Möglichkeiten als Tamiflu haben wir gar nicht. Dann ist schon Ende der Fahnenstange.» Tamiflu sei «bestimmt nicht das Wundermittel, zu dem es einzelne Medien gemacht haben». Seine Wirkung sei beschränkt, vor allem dann, wenn es nicht früh im Krankheitsverlauf eingenommen werde. «Vielleicht wird man später einmal sagen, wir hätten übervorsichtig gehandelt und seien zu weit gegangen. Aber mit diesem Vorwurf kann ich gut leben», sagt er. Mit der Ausbreitung der Pandemie habe sich die Ausgangslage aber verändert. Kosten-Nutzen-Rechnungen für Tamiflu stünden nicht mehr im Vordergrund. Der Auftrag des BAG sei, die öffentliche Gesundheit zu schützen. «Anderthalb bis zwei Millionen Menschen könnten in der Schweiz erkranken. Da macht es schon einen Unterschied, wenn Erkrankte einen Tag weniger am Arbeitsplatz fehlen und das Ansteckungsrisiko sinkt», so Mathys.
Diese Unsicherheit zeigt das Dilemma der Politik. Gesundheitsbehörden haben bis zum Zeitpunkt, an dem ein Impfstoff verfügbar sein wird, keine Alternativen. Tamiflu ist für sie das einzige Argument gegen den Vorwurf, untätig zu bleiben. Damit ist es wohl das erste Medikament in der Geschichte der modernen Pharmakologie, das nicht wegen seines medizinischen Nutzens, sondern als Beruhigungspille für die Bevölkerung zum Kassenschlager avancierte. Und das bereits zum zweiten Mal.
Das erste Mal war vor fünf Jahren. Bis dahin hatte sich Tamiflu schlecht verkauft. Statt der erhofften Milliarden spielte das Medikament so wenig ein, dass es bis 2003 nicht einmal auf der Liste der 20 meistverkauften Roche-Medikamente auftauchte. Tamiflu blieb ein Ladenhüter – und das, obwohl Roche und die Analystengemeinde grosse Erwartungen in das Medikament gesetzt hatten. Jährlich 100 Millionen Grippekranke in Industrieländern und 20'000 Grippetote allein in den USA, das schrie förmlich nach Milliardenumsätzen.
Das war auch der Grund, weshalb sich Roche 1996 die Rechte an Tamiflu beim amerikanischen Biotech-Unternehmen Gilead Sciences sicherte und seine Entwicklung im Rekordtempo vorantrieb. Doch Roche hatte von Beginn weg mit gravierenden Problemen zu kämpfen.
Die US-Arzneimittelbehörde FDA machte eine Zulassung davon abhängig, dass Tamiflu – und das Konkurrenzprodukt Relenza von GlaxoSmithKline – die Dauer einer Grippeerkrankung um mindestens einen Tag verkürzen müsse. Nur, was genau sollte verkürzt werden? Zur Klärung dieser Frage flog Roche im Jahr 1997 Experten nach London, die dort Grippe als Mischung aus 14 Symptomen wie Fieber, Gliederschmerzen, Halsweh oder Müdigkeit definierten. Allesamt Beschwerden, die sich mit Schmerz- und anderen Mitteln gezielt und äusserst preiswert mildern lassen.
Die nächste Hürde in der Testphase: genügend Grippekranke finden für die notwendigen Doppelblindstudien. Die Grippe hat die für Forscher unangenehme Eigenschaft, nur kurzfristig und an unvorhersehbaren Orten der Welt aufzutreten. Zudem wird die Krankheit in drei von zehn Fällen von Ärzten falsch diagnostiziert. Ein grosses Problem für ein Medikament, das erst noch nach kurzer Zeit ein gravierendes Resistenzproblem bekommen sollte. Obwohl Roche ein weltumspannendes Netz von 300 speziell geschulten Ärzten bildete, konnte die Phase-3-Testserie nur an 1355 Patienten durchgeführt werden. Für einen neuen Medikamententyp eine erstaunlich kleine Gruppe.
Die dünne Datenlage hatte zur Folge, dass Tamiflu in der EU erst mit einer Verzögerung von zwei Jahren zugelassen wurde. Dass die Verkaufszahlen bis 2004 unter allen Erwartungen blieben, schrieb Roche aber weder der schwachen Wirksamkeit noch dem hohen Preis zu; eine Schachtel mit zehn Tabletten kostete Fr. 86.10. Die schwachen Grippewellen sollen schuld gewesen sein. Ein fadenscheiniges Argument. Denn bevor Tamiflu überhaupt verkauft werden konnte, musste das Verhalten von Millionen von Patienten auf den Kopf gestellt werden. «Man hat den Leuten 70 Jahre lang gesagt: ‹Wenn du eine Grippe hast, bleibst du gefälligst im Bett.› Jetzt mussten wir die Leute zum Arzt bringen», beklagte sich 2001 Produktemanager Mathias Dick.
Roche lancierte deshalb eine aggressive Werbekampagne, die einen dreistelligen Millionenbetrag kostete. Dies auch mit zweifelhaften Mitteln. So verteilte der Pharmamulti etwa in der Schweiz 5,4 Millionen kreditkartengrosse Merkzettel mit der Aufschrift «Kennen Sie Influenza? Informieren Sie sich über Grippe. Jetzt tamiflu.ch». Das ging der Interkantonalen Kontrollstelle für Heilmittel (IKS) zu weit, Roche hatte damit gegen das Werbeverbot für rezeptpflichtige Medikamente verstossen.
Erst das im Dezember 2003 in Hongkong erstmals identifizierte Vogelgrippevirus H5N1 holte Tamiflu vom Krankenbett. Es drohte eine Pandemie mit mehr als 40 Millionen Toten und einem Kollaps der Finanzmärkte. Nur einen Monat später meldete Roche, Tamiflu wirke. Und plötzlich waren alle Bedenken gegen das Mittel vom Tisch. Die Umsatzzahlen schnellten in zwei Jahren von 330 Millionen auf 2,6 Milliarden Franken hoch. Über 50 Länder hatten das Medikament in Basel bestellt.
Und das, obwohl Tom Jefferson von der renommierten «Cochrane Collaboration» nach der Auswertung von 50 Studien festgestellt hatte: «Wir konnten keine zuverlässigen Beweise für die Wirksamkeit von Neuraminidase-Hemmern (Tamiflu und Relenza, Anm. d. Red.) gegen Vogelgrippeviren beim Menschen finden.»
Es folgten weitere Tiefschläge für Roche. In Japan – dem einzigen Land, in dem Tamiflu regelmässig verabreicht wurde – wurden dem Medikament neben Kopfschmerzen und Erbrechen viel gravierendere Nebenwirkungen angelastet: Verwirrtheit und suizidales Verhalten. Jugendliche hatten sich in den Tod gestürzt. Zwar stellte eine vom Gesundheitsministerium in Tokio durchgeführte Untersuchung keinen Zusammenhang mit dem Mittel fest. Allerdings musste der Vorsitzende der Untersuchungskommission hinterher einräumen, er habe vom japanischen Tamiflu-Importeur Zahlungen von umgerechnet 88'000 Franken erhalten. Im Februar 2007 musste Roche schliesslich den Beipackzettel ändern und auf die möglichen Nebenwirkungen hinweisen.
Tamiflu verlor weiter an Kraft. 2008 und 2009 zeigt sich, dass das Medikament bei immer mehr Virenstämmen versagte. Die Resistenzen breiteten sich in atemberaubender Geschwindigkeit aus. Tamiflu war erledigt – bis die Angst vor der Schweinegrippe die Verkaufszahlen erneut explodieren liess. Und das, obwohl britische Forscher festgestellt hatten, dass das Medikament bei unter Zwölfjährigen nur schlecht wirke und bei jedem zweiten Kind schwere Nebenwirkungen verursache. Doch allen Bedenken zum Trotz deckten sich Regierungen auch diesmal in Basel ein. Sie bescherten Roche bis Anfang Juli einen Tamiflu-Umsatz von 1,01 Milliarden Franken.
Der gleiche Effekt wie bei der Vogelgrippe spielte auch diesmal, sagt der Berliner Arzt Wolfgang Becker-Brüser: «Wir beobachten im Moment eine Überreaktion auf allen Ebenen. Die Bedrohlichkeit dieser Virusgrippe wird ganz entschieden übertrieben.» Dass die Schweinegrippe-Erkrankungen in Europa bisher so milde verlaufen, sei weder ein Erfolg staatlicher Massnahmen noch von Arzneimitteln. Das liege am Erreger selber. Becker-Brüser kritisiert deshalb, dass Hunderte von Millionen «für ein zweifelhaftes Schutzschild» ausgegeben werden.
Solche Kritik hört man in der Schweiz kaum. Die Basler Professorin Ursula Maria Flückiger, Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Infektiologie etwa, stellt sich hundertprozentig hinter die Pläne des Bundesamts für Gesundheit, für Risikopatienten genügend Tamiflu bereitzustellen, «trotz dem bescheidenen Nutzen». Anders als im Rest der Welt lässt sich diese Position hierzulande zumindest aus wirtschaftlicher Sicht viel leichter vertreten. Das Schweizer Pflichtlager, in dem Tamiflu für einen Viertel der Bevölkerung bereitsteht, kostet den Bund praktisch nichts. Er muss lediglich die Ausgaben für die Lagerung tragen. «Bezahlt werden muss erst, wenn die Pflichtlager geöffnet werden und Tamiflu ausgegeben wird», stellt BAG-Pandemieexperte Mathys klar. «Wir haben damit die absolut billigste Variante weltweit.»
Tamiflu lag vor der Vogelgrippe schon einmal in den letzten Zügen und war vor der Schweinegrippe so gut wie erledigt. Doch beide Male stieg das Roche-Präparat wie ein Phönix aus der Asche auf. Und das einzig und allein, weil ein wirklich wirksames Medikament fehlt. Deshalb wird Tamiflu wohl auch beim nächsten Mal als Mittel der letzten Wahl neues Leben eingehaucht, wenn die nächste Grippepandemie anrollt. Nur muss die vor 2017 kommen. Dann nämlich läuft Roches Patent auf Tamiflu aus.
1997 | Roche kauft Gilead die Lizenz für das Antigrippemittel Oseltamivir ab und startet die Tests. Die Entwicklungskosten für das spätere Tamiflu belaufen sich auf mindestens 900 Millionen Franken. |
1999 | Tamiflu wird im September 1999 in der Schweiz zugelassen. Weil der europäische Arzneimittelausschuss zusätzliche Daten verlangt, kommt das Mittel in der EU erst im Juni 2002 auf den Markt. |
2002 | Die saisonalen Grippen verlaufen mild, die Verkaufszahlen enttäuschen. Bis 2003 schafft Tamiflu nicht einmal den Sprung unter die 20 meistverkauften Roche-Medikamente. |
2004 | Roche meldet, Tamiflu sei gegen das Vogelgrippevirus H5N1 wirksam. Über 50 Staaten ordern das Medikament. Tamiflu mutiert zum Verkaufsschlager. |
2005 | Gilead klagt, Roche werbe nicht genügend für Tamiflu. Nach einer aussergerichtlichen Einigung zahlen die Basler weitere 62,5 Millionen Dollar Lizenzgebühren. |
2006 | Unter dem Eindruck der Vogelgrippe verachtfacht Roche die Produktionskapazitäten bis 2006. Die Umsätze schnellen rasant auf neue Rekordwerte. |
2007 | Roche muss den Beipackzettel ändern und vor starken Nebenwirkungen bei Jugendlichen warnen. In Japan hatte es eine Reihe von Suiziden gegeben. |
2009 | In Mexiko taucht ein neues H1N1-Grippevirus auf. Regierungen bestellen Tamiflu als Mittel massenweise, obwohl es gegen die meisten saisonalen Grippeviren resistent geworden ist. |
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