Ernst Suter ist kein Einzelfall
Beobachter TV berichtete Mitte November über den Hilfsarbeiter Ernst Suter aus Dürnten ZH. Nun ist klar: Suter ist kein Einzelfall. Das zeigen weitere Fälle aus der Zürcher Gemeinde Dürnten.
Veröffentlicht am 25. November 2014 - 11:11 Uhr
Ein Hilfsarbeiter wird von der Gemeinde auf 480'000 Franken Einkommen eingeschätzt und soll jeden Monat 9000 Franken für Steuern abstottern – bei einem Verdienst von rund 5000 Franken. Der Fall des 41-jährigen Ernst Suter aus Dürnten ZH empört die Schweiz. Beobachter TV hatte ihn öffentlich gemacht. Weil Suter nur schlecht lesen und kaum schreiben kann, reichte er nie eine Steuererklärung ein. Die Behörden schätzten sein Einkommen jedes Jahr massiv höher ein. Suter schwieg und zahlte, solange er konnte. 2007 verkaufte er der Gemeinde Land und beglich aus dem Erlös die Steuern, die um mehrere hunderttausend Franken zu hoch waren. Nun steht er vor dem Ruin. Nur wenn er auch noch sein selbst bewohntes Haus verkauft, kann er die ausstehenden Steuern zahlen.
Ernst Suter ist nicht der Einzige, der wegen absurder Steuerforderungen vor dem Abgrund steht: Auch in Dürnten gibt es weitere Fälle. So reichte ein selbständiger Handwerker seit 2008 keine Steuererklärung ein. Eine Scheidung hatte ihm zu schaffen gemacht – und dann trennte er sich von seiner Buchhalterin. Der «Papierkram» blieb liegen. «Ja, ich liess mich gehen. Das war ein riesiger Fehler – mein Fehler», sagt der Mittfünfziger. Die erste Steuereinschätzung fiel noch moderat aus. Doch bereits 2011 wurde er aufs Doppelte seines realen Einkommens geschätzt, die Steuerforderung verdreifachte sich. Es folgten Betreibungen und Pfändungen. Heute muss er mit rund 2500 Franken leben, der Rest des Einkommens fliesst ans Betreibungsamt. «Es ist schon verrückt», sagt er. «Ich stottere Steuern ab für ein Einkommen, das ich nie erzielt habe.»
Noch krasser ist die Lage eines Ehepaars, das kurz vor der Pensionierung steht. Beide hatten schwere gesundheitliche Probleme und reichten ab 2010 keine Steuererklärung mehr ein. 2011 fiel die Einschätzung doppelt so hoch aus wie ihr reales Einkommen, 2012 sogar 2,5-mal so hoch. Es folgten Rechnungen über 17'000 und 20'000 Franken. Sie drohen dem Paar finanziell das Genick zu brechen.
So schätzten die Steuerbehörden den Hilfsarbeiter Ernst Suter Jahr für Jahr höher ein. Für 2012 konnte die Einschätzung nachträglich korrigiert werden.*
Treuhänderin Barbara Schnyder, die sich auch um Ernst Suter kümmert, versucht in diesen Fällen das Schlimmste zu verhindern. «Es ist herzlos und unkooperativ, wie mit Bürgern umgegangen wird, die in eine Krise geraten», sagt sie. Sie habe Kunden, die sich nicht mehr auf die Gemeinde trauten und keine Briefe mehr öffneten. «Statt dass man ihnen hilft und nach Lösungen sucht, werden sie mit immer neuen Betreibungen noch tiefer in den Schlamassel geritten.»
Wie kommt es überhaupt zu den realitätsfremden Beträgen? Die Gemeinde Dürnten beantragte beim Kanton Zürich jeweils die Schätzung von Suters Einkommen. Sie lieferte dem Kanton sogenannte Fehlblätter samt dem Vorschlag, wie hoch der Steuerpflichtige einzuschätzen sei.
Dürnten legte Suters Einkommen jedes Jahr um 20 Prozent höher fest. Dabei kann es sich auf eine verbreitete Praxis stützen, die ihren Ursprung in einem Bundesgerichtsentscheid aus den vierziger Jahren hat. Damals ging es allerdings nicht um «Wiederholungstäter». Es ist darum umstritten, ob die Regel auch für Personen gelten soll, die jahrelang keine Steuererklärungen einreichten. Denn eine Einschätzung muss realistisch bleiben, sie darf nicht zu einer Strafe verkommen. Dafür gibt es Bussen.
Der Kanton schätzte Suter auf Grundlage der Informationen aus Dürnten ein. «Der Steuerkommissär überprüft die Werte, indem er die Vorjahre und die individuellen Umstände beurteilt, sofern sie ihm bekannt sind», sagt Roger Keller, Sprecher der Zürcher Finanzdirektion. Und: «Man muss davon ausgehen, dass es zwei Gründe für das Nichteinreichen der Steuererklärung gibt: um dem Fiskus etwas vorzuenthalten oder weil jemand die Übersicht über seine Pflichten verloren hat.» Der Kommissär gehe tendenziell davon aus, dass die Steuerämter kleinerer Gemeinden die Umstände ihrer Bürger eher kennten.
Im Fall Suter nahmen Gemeinde und Kanton offenbar an, er verberge etwas. Wohl bestärkt dadurch, dass der Mann immer brav zahlte. Anders ist kaum zu erklären, was geschah: 2009 schlug Dürnten vor, das Einkommen des Hilfsarbeiters auf atemberaubende 195'000 Franken festzulegen. Der Kanton senkte den Betrag nicht, sondern hob Suters Einkünfte auf 250'000 Franken. Dürnten nahm 2010 diese als neue Basis und schlug die «üblichen» 20 Prozent auf – macht 300'000 Franken. Zwar hätte Dürnten Suters realen Lohn bei der AHV erfahren können, doch zogen es Gemeinde und Kanton vor, sich gegenseitig hochzuschaukeln.
Ernst Suter lebt seit seiner Geburt in Dürnten und ging dort zur Schule. 2007 stand er wegen des Landverkaufs mit der Gemeinde in Kontakt. Er sagt, er habe dabei um Hilfe gebeten. Im Gemeindehaus lag der Vertrag bereit, Suter musste ihn bloss noch unterzeichnen. Dürnten zählt 7157 Einwohner. «Es kann nicht sein, dass die Gemeinde von Suters Schwäche und seinen Lebensumständen nichts wusste», sagt Treuhänderin Schnyder. Für sie ist unverständlich, dass die Gemeinde ihren Spielraum nicht nutzt und erträgliche Lösungen sucht. Dass das möglich wäre, sehe sie in anderen Gemeinden. «Aber man muss auf die Betroffenen zugehen.»
Die Unterstützung einzelner Steuerpflichtiger durch das Steueramt sei heikel und könne zur Bevorteilung führen, warnt Dürntens Gemeindepräsident Hubert J. Rüegg. «Aber: Wo immer möglich unterstützen und helfen wir. Und wir werden auch Empfehlungen für Anlaufstellen weitergeben, sofern wir angefragt werden.» Für Schnyder reicht das nicht: «Es ist leider nicht jeder in der Lage, sich selber die nötige Hilfe zu organisieren.»
Es stellt sich zudem die Frage, ob die Gemeinde nicht verpflichtet gewesen wäre, von sich aus Hilfe anzubieten. «Wenn Amtspersonen erfahren, dass ein Bürger hilfsbedürftig ist, müssen sie heute die Erwachsenenschutzbehörde informieren», sagt Walter Noser, Beobachter-Experte für das neue Erwachsenenschutzrecht, das seit Anfang 2013 in Kraft ist. In der Botschaft zum Gesetz unterstrich der Bundesrat, dass der Begriff der Amtsperson weit auszulegen sei. «Aber auch vor 2013 – unter dem alten Vormundschaftsrecht – hätte man von jeder Behörde und von jedem Amt erwarten können, dass eine Meldung gemacht wird. Ob das nun gesetzlich geregelt war oder nicht», so Noser. Eine Meldung hätte auch nicht automatisch eine Massnahme zur Folge gehabt. Aber die Behörde wäre verpflichtet gewesen, der Problematik auf den Grund zu gehen. Eine Lösung könnte auch eine Beratung oder die Vermittlung eines Treuhänders sein.
Dass man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen kann, räumt selbst Gemeindepräsident Rüegg ein. «Es hat eine Sensibilisierung stattgefunden. Politik, Verwaltung, aber auch die Steuerpflichtigen müssen ihre Lehren daraus ziehen.»
Am 3. Dezember werden sich die Beteiligten treffen, um den Hilfsarbeiter vor dem Ruin bewahren zu können. Gemeindepräsident Hubert J. Rüegg brachte die Idee ein, Suter in den kommenden Jahren Steuern zu erlassen – als reine Goodwill-Aktion der Gemeinde. Das Problem dabei: Suter droht bereits der Zwangsverkauf seines Hauses, weil er die überhöhten Steuern für das Jahr 2011 nicht bezahlen kann. Suters Vertreter schlägt darum einen Verzicht auf diesen Betrag vor. Die evangelische Kirchenpflege hat bereits einstimmig entschieden, auf ihren Anteil von 6000 Franken für das Jahr 2011 zu verzichten. Am 4. Dezember dürfte die Dürntner Steuerpraxis auch Thema an der ordentlichen Gemeindeversammlung werden.
Wer die Steuererklärung nicht fristgerecht einreichen kann, sollte eine Verlängerung beantragen. Wer bereits eine Mahnung erhalten hat, muss unbedingt reagieren. Und wer bereits eingeschätzt wurde, hat noch 30 Tage Zeit für eine Einsprache – die letzte Chance, eine Steuererklärung nachzureichen. Wem das nicht möglich ist, der holt sich am besten Hilfe bei Bekannten oder einem Berater. Wer mit Administrativem allgemein überfordert ist, kann bei der Erwachsenenschutzbehörde einen Beistand beantragen. Dieser übernimmt die nötigen administrativen Aufgaben.
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