Im Blindflug durch die Pandemie
Bis zuletzt hatte die Schweiz zu wenig solide Daten zu Covid-19-Fällen. Spitäler, Bund und Kantone weisen sich gegenseitig die Schuld zu. Parlamentarier fordern Aufklärung.
Am Ende der Pandemie wurde das Bundesamt für Gesundheit (BAG) plötzlich transparent. Es veröffentlichte Daten zur Frage, wie viele Personen «wegen» und wie viele «mit» Corona ins Spital mussten. Das war während der gesamten Pandemie immer wieder Anlass für Spekulationen gewesen.
Das BAG hätte sie jederzeit beenden können. Denn es verfügte seit April 2020 über die entsprechenden Daten, hielt sie aber bis Anfang Februar 2022 unter Verschluss. Den Sinneswandel erklärt das BAG kurz angebunden mit dem Bemühen um Transparenz.
Zwei weitere Datenprobleme sind gravierender: Erstens hat das BAG die Zahl der Toten in der ersten Welle um fast einen Viertel unterschätzt. Zweitens hat es im ersten Pandemiejahr nur zwei Drittel der Corona-Spitaleintritte erfasst. Dafür will niemand die Verantwortung tragen. Das BAG gibt die Schuld den Kantonen, die Kantone verweisen an die Spitäler, die Spitäler wiederum an den Bund.
Dabei waren Hospitalisierungsdaten eine der wichtigsten Kennziffern für das Pandemiemanagement in der Schweiz. Wenn sie einen kritischen Wert erreichten, wie während der zweiten Welle im November 2020, verschärfte der Bundesrat umgehend die Massnahmen.
Im letzten Herbst entdeckte das Bundesamt für Statistik (BFS), dass die eigenen Corona-Hospitalisierungszahlen für das erste Pandemiejahr höher sind als jene des BAG. Die Differenz ist nicht eben klein: Sie beträgt 56,5 Prozent, wie das BFS für den Beobachter ausgerechnet hat. Das Onlineportal «Infosperber» kritisierte Anfang Februar deshalb den «schludrigen Umgang mit Zahlen».
11'278 Patientinnen und Patienten zu wenig
In einer Analyse kommt das BFS zum Schluss, die Spitäler hätten wegen eines hohen bürokratischen Aufwands schlicht nicht alle Fälle dem BAG gemeldet. Diese Meldungen hätten «relativ wenig direkten Nutzen versprochen», heisst es im Bericht der Bundesstatistiker. Die Meldungen ans BFS hingegen seien mit dem Abrechnungssystem der Spitäler verknüpft: Was nicht gezählt wird, wird nicht bezahlt.
Diese Verletzungen der Meldepflicht hatten keine Folgen. Dabei stellen sie einen Gesetzesverstoss dar. Das Epidemiengesetz sieht für die vorsätzliche Verletzung der Meldepflicht Bussen bis zu 10'000 Franken vor. In der Botschaft zum Gesetz von 2010 hat der Bundesrat die Meldepflicht gar als «zentrales Systemelement» bezeichnet.
Beim BAG wusste man, dass es die Spitäler damit nicht so genau nahmen. Doch man drückte beide Augen zu. «Um angesichts der starken Belastung der Spitäler nicht noch mehr Druck auf die Spitäler zu machen, wurde bewusst darauf verzichtet, die Meldepflicht durchzusetzen oder zu sanktionieren», so das Bundesamt. «Es wurde darauf verzichtet, Strafantrag gegen einzelne Spitäler zu stellen.» Das Amt habe aber in sämtlichen Kontakten mit den Spitälern auf die Wichtigkeit dieser Meldungen hingewiesen.
Statt der Spitäler habe man die Kantone «mehrfach» auf die Meldeverzögerungen hingewiesen, schreibt das BAG. Die Kantone hätten sich in Gesprächen dazu verpflichtet, mit den Spitälern Kontakt aufzunehmen, um die Disziplin bei Meldungen zu verbessern.
Gegenseitige Schuldzuweisungen
Die Kantone schieben die Schuld anderen zu. «Die Verantwortung für die vollständige Meldung liegt bei den Spitälern», teilt etwa die St. Galler Gesundheitsdirektion mit. «Aus Ressourcengründen» habe man «keine zusätzliche Qualitätssicherung vornehmen» können, schreibt das Aargauer Gesundheitsdepartement. Und aus Luzern heisst es, der Kanton könne gar nicht feststellen, wenn ein Spital einen Covid-Befund nicht melde.
Der Spitalverband H+ wiederum will sich «klar von der Aussage distanzieren», die Differenz bei den Hospitalisierungsdaten sei auf fehlende Meldedisziplin der Spitäler zurückzuführen. Überhaupt müssten die Bundesämter erst genauer analysieren, wie die Unterschiede zustande gekommen seien.
Einsichtiger zeigt man sich am Inselspital Bern. Es sei bekannt, dass die Meldungen ans BAG «nie vollständig» seien. Selbst wenn die Spitalverwaltung die Ärzteschaft an ihre Meldepflicht erinnere, lasse sich «keine vollständige Meldecompliance erreichen». Das Kantonsspital Baselland berichtet Ähnliches. Viele Spitäler wollten sich zum Thema nicht äussern.
«Während der Pandemie wurde eine Unmenge an Daten erhoben. Quantität ist aber nicht gleichbedeutend mit Qualität.»
Isabella Locatelli, Biostatistikerin
Die Verantwortung für die fehlerhaften Daten verschwindet so im Dickicht der Zuständigkeiten. Auch bei den Sterbedaten gab es enorme Unterschiede, deren Ursachen noch abzuklären sind. So kommt das BAG für die erste Welle von Februar bis Mai 2020 auf insgesamt 1724 Tote. Das BFS hingegen auf 2130 Tote, fast einen Viertel mehr.
«Diese Unterschiede sind sehr erstaunlich. Während der Pandemie wurde eine Unmenge an Daten erhoben. Quantität ist hier aber offensichtlich nicht gleichbedeutend mit Qualität», sagt Isabella Locatelli. Die Lausanner Biostatistikerin kritisiert ganz grundsätzlich den Umgang mit Zahlen während der Krise. «Meist wurden von offizieller Stelle und in den Medien nur absolute Zahlen kommuniziert, etwa bei den Sterbezahlen. Gerade bei der Sterblichkeit ist es aber wichtig, die Zahlen in Bezug zu setzen zur Grösse der Bevölkerung und zu ihrer demografischen Verteilung. Ohne diese Einordnung können Vergleiche leicht zu irreführenden Interpretationen führen.»
406 Tote zu wenig
Seltsam mutet an, dass für die Erfassung der verschiedenen Daten in den rund 150 Akutspitälern zwei verschiedene Departemente zuständig sind. Um die Spitaleintritte kümmert sich das BAG. Es ist dem Departement des Innern zugeteilt. Für die Aufnahmen auf den Intensivstationen ist der Koordinierte Sanitätsdienst (KSD) zuständig. Das Gremium ist dem Bundesrat direkt unterstellt und administrativ beim Verteidigungsdepartement angesiedelt.
Bei der Erfassung der Daten wenden BAG und KSD unterschiedliche Methoden an. Die Angaben zu den Spitaleintritten müssen die Ärztinnen und Ärzte in einem Formular erfassen und innerhalb von 24 Stunden dem BAG nach Bern übermitteln. Anders bei den Angaben zu den Intensivstationen: Hier müssen die Daten über eine Eingabemaske im Internet an den KSD gehen. Bei einer ohnehin schon hohen Arbeitsbelastung musste sich das Spitalpersonal also mit zwei Meldesystemen für tagesaktuelle Daten herumschlagen. Hinzu kommt: Die vom BAG verlangten Daten waren in den Spitälern meist bereits elektronisch vorhanden. Das Ausfüllen des Formulars war eine Doppelspurigkeit, die nur nötig wurde, weil keine Schnittstelle zwischen der EDV des BAG und den Systemen der Spitäler existiert.
FDP-Gesundheitspolitiker Marcel Dobler schüttelt den Kopf: «Das ist doch ein Witz.» Es könne nicht sein, dass die Spitäler Daten ein zweites Mal erfassen müssen, die elektronisch schon da sind. «Eine solche Schnittstelle zu programmieren oder zumindest die Prozesse zu vereinheitlichen und nicht über mehrere Departemente zu verteilen, wäre kein grosses Problem gewesen.»
Diese Doppelspurigkeit kritisiert auch die grüne Nationalrätin Manuela Weichelt: «Der Bundesrat muss das umgehend ändern.» Sie habe bereits in der Gesundheitskommission einen entsprechenden Antrag gestellt. Ärgerlich sei ausserdem, dass bis heute keine einfache Übersicht erstellt werden könne, was für Daten im Zusammenhang mit Covid-19 erhoben werden.
Die Corona-Taskforce des Bundes schreibt, im Zuge der Pandemie seien «einige Schwachstellen» bei der Datenqualität sichtbar geworden. Im Hinblick auf künftige Gesundheitskrisen fordert sie verbindliche Vereinbarungen darüber, wer welche Daten erheben muss.
Druck aufgesetzt
Im Parlament hat die Aufarbeitung der Pandemie begonnen. Der Nationalrat hat dazu einen Bericht bestellt, der Vorstoss trug den sinnigen Titel «Je besser die Daten, desto besser die Politik». Das BAG will die offenen Fragen noch vor dem Sommer beantworten – im Rahmen der externen «Evaluation der Krisenbewältigung Covid-19».
Beteiligte Departemente und Bundesämter müssen dem Bundesrat zudem bis im Juli Vorschläge liefern, die das Datenmanagement verbessern. Ein nationales Spitalregister, einfachere Meldeprozesse, beschleunigte Digitalisierung und bessere Datenauswertung unter Führung des Bundesamts für Statistik sollen es richten. Was im Bundesratsbericht unerwähnt bleibt: Das beste Epidemiengesetz nützt nichts, solange der Staat Meldepflichten selbst nicht ernst nimmt.
Wegen oder mit Corona im Spital?
Jetzt folgen, um über neue Artikel zum Thema per E-Mail informiert zu werden
Das Neuste aus unserem Heft und hilfreiche Ratgeber-Artikel für den Alltag – die wichtigsten Beobachter-Inhalte aus Print und Digital.
Jeden Mittwoch und Sonntag in Ihrer Mailbox.
2 Kommentare
Ich habe einmal beim Bundesamt für Statistik angefragt, ob diese den verlässliche Daten hätten. Es gab keine Antwort dazu. Mich wundert das nicht mehr. Ein Administrations-Apparat den man mal gründlich unter die Lupe nehmen müsste.
Wahrscheinlich ist es wie so oft, Schutz eigener Königreiche. Und: ich habe das bessere System, de Ander chunt ja nit druus.