«Irgendwann habe ich gemerkt: Da ist der Wurm drin», sagt Walter Hüppi und meint mit «da» seine Ehe. An sich ist das nichts Aussergewöhnliches: Würmer stecken in manch einer Beziehung, Ehen werden zuweilen geschieden. Doch bei den Hüppis blieb der Wurm einfach stecken. Ihre Scheidung ist seit zehn Jahren vor dem Regionalgericht Albula hängig. 

Das Paar lernt sich 1995 kennen. Beide sind Architekten. Elf Jahre führen sie eine Fernbeziehung, im zwölften heiraten sie. Er steht kurz vor der Pensionierung, sie mitten im Berufsleben. «Meine Frau ist 19 Jahre jünger und wollte sich beruflich neu orientieren. Ich unterstützte sie massgeblich bei ihrer Firmengründung, logistisch und finanziell», sagt Hüppi.

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Mit 65 bezieht er das Geld aus seiner Pensionskasse und gibt ihr ein Darlehen. Die Hoffnung: So stünde sie finanziell auf eigenen Beinen. 

Die Realität: der Wurm. 

«Ohne Humor längst verrückt»

Das Paar streitet. Erst über die Beziehung, dann über die Scheidung. Er will sein Darlehen zurück, also kommt es im März 2013 zu einer Scheidungsklage. Am Regionalgericht Albula in Tiefencastel, da Hüppi zu dieser Zeit auf einer Savogniner Alp wohnt und arbeitet. Beide werden vorgeladen, nennen Zeugen, sollen weitere Schritte abwarten. «Meine Anwältin ging von zwei Jahren Verfahrensdauer aus.

Das schien mir damals eine wahnsinnig lange Zeit», sagt Walter Hüppi. Die Pointen seiner Geschichte sitzen so gut wie bei einem Schwank im Dorftheater. «Ohne Humor wäre ich schon lange verrückt geworden.»

Walter Hüppi ist ein freundlicher, geduldiger Mann. Also wartet er. Bis aus zwei Jahren fünf geworden sind. Vom Gericht kommt kein Brief, kein Anruf, kein Bescheid. Weil seine Anwältin den Fachbereich wechselt, nimmt Hüppi die Zügel selbst in die Hand und bittet Gerichtspräsident Hermann Laim um ein Update. Als es nicht kommt, hakt er nach. Und wieder: nichts. Ein Jahr verstreicht. 

«Man will ja nicht stürmen», sagt Hüppi. Wie Kafkas Mann vom Lande setzt er sich vor das Gesetz und wartet auf Einlass. Mit einem Unterschied: In der Parabel plaudert der Türhüter, in Graubünden schweigt er. 

«Ich warte noch immer auf mein Geld – weil das Gericht die Klage verschleppt.»

Walter Hüppi, pensionierter Architekt

2018 versucht es Hüppi ein drittes, 2020 ein viertes Mal. Langsam geht ihm das Geld aus, also hängt er den Briefen seine Steuererklärung an. Wann er was ans Gericht geschickt hat, notiert er in einer Excel-Tabelle: Jahr, Ereignisse, Briefe. Unter «Sonstiges» steht: «Meine Ungeduld wächst», vier Jahre hintereinander. Doch irgendwann hat auch der geduldigste Hüppi genug. «Meine Geduld ist am Ende», notiert er 2022. 

«Vor Weihnachten sass ich mit mir selber am Tisch und sagte mir: ‹Moment, Walter, bald sind es zehn Jahre – das muss ein Ende haben!›» Also verfasst der 78-Jährige ein letztes Schreiben und droht mit rechtlichen Schritten. Und tatsächlich: Im Januar 2023 zeigt der Türhüter eine Reaktion. 

Aber nicht die gewünschte: Hüppi wird lediglich mitgeteilt, dass die Scheidungsklage von einer neuen Rechtsanwältin übernommen wird. Sie werde das Verfahren zügig vorantreiben. Der Gerichtspräsident bedankt sich für ein längst nicht mehr vorhandenes Verständnis und entschuldigt sich «für die infolge Überlastung eingetretene Verzögerung».

«Belastender Pendenzenberg»

Das macht Hüppi nun doch etwas wütend. «Ihre Entschuldigung nehme ich zur Kenntnis. Sie reicht aber bei weitem nicht aus», antwortet er – und informiert das Bündner Justizdepartement, das Kantonsgericht, den Beobachter. «Ich warte noch immer auf mein Geld – und muss mein Budget gleichzeitig massiv kürzen, weil das Gericht die Klage verschleppt. Das kann es ja nicht sein!»

Auf Anfrage schreibt Gerichtspräsident Hermann Laim, er könne über ein laufendes Verfahren nur beschränkt Auskunft geben. Unter anderem seien die Fallzahlen beim Regionalgericht Albula in den vergangenen Jahren stark gestiegen: «Dadurch hat sich ein belastender Pendenzenberg aufgetürmt, den das ausserordentlich knapp bemessene Personal nicht abbauen konnte.»

Auf Gesuch wurden nun zwei zusätzliche Vollzeitstellen bewilligt. «Die getroffenen Massnahmen geben Anlass für Zuversicht.»

Und zeigen offenbar Wirkung. Im März sollen die gegnerischen Zeugen befragt werden. Zu viele Hoffnungen will sich Walter Hüppi aber noch nicht machen.

Der Wurm wird sich noch eine Weile winden.