Die Courage teuer bezahlt
Zwei Frauen schlagen Silvia Leiser spitalreif. Das Gericht fasst die Täterinnen mit Samthandschuhen an, während das Opfer auf seinen Kosten sitzenbleibt.
Veröffentlicht am 27. September 2011 - 12:26 Uhr
Als die Polizei eintrifft, liegt Silvia Leiser noch am Boden. Geschlagen und getreten von zwei Frauen Mitte 20. Gemäss Zeugen sind die beiden schon vorher im Restaurant «Zum schiefen Eck» in Kleinbasel negativ aufgefallen: In Begleitung zweier Männer warfen sie der Bedienung Münzen als «Trinkgeld» nach.
Die vier verlassen gegen Mitternacht das Restaurant und dringen in einen nahe gelegenen Grillstand ein. Das beobachtet Silvia Leiser. Die damals 46-Jährige hilft an diesem Stand ab und zu einem Freund aus. Sie will die offensichtlich angetrunkenen Nachtschwärmer wegschicken, um Schaden zu verhindern. Der Wirt des «Schiefen Ecks» kommt kurz darauf nach, doch als er eintrifft, schlagen die zwei Frauen bereits auf Silvia Leiser ein. «Die ersten Schläge taten noch höllisch weh. Nachher spürte ich nichts mehr. Ich hielt nur noch die Hände vor den Kopf», erinnert sie sich an den Vorfall im Spätherbst 2009.
Die zwei Schlägerinnen sind derart betrunken, dass sie von der herbeigerufenen Polizei in die Ausnüchterungszelle gesteckt werden. Silvia Leiser ist so schwer verletzt, dass sie sofort ins Spital muss.
Die Sachlage scheint klar – die Suva jedenfalls übernimmt klaglos sämtliche Behandlungskosten. Silvia Leiser kann ihren Job als Sachbearbeiterin zuerst nur noch in Teilzeit ausüben, muss ein Jahr lang in die Rehabilitation. Sie leidet monatelang unter Kopf- und Rückenschmerzen. Die Ärzte diagnostizieren eine posttraumatische Belastungsstörung: Das Prügelopfer traut sich erst nach einer intensiven Therapie wieder auf die Strasse. Vorher sucht sie überall die nächstbeste Wand, aus Angst vor einem plötzlichen Angriff von hinten.
Das Basler Strafgericht spricht diesen Sommer eine der Täterinnen frei, die andere wird mit einer läppischen Busse von 300 Franken wegen Tätlichkeit bestraft. Ein Urteil im Sinn der Maxime «Im Zweifel für den Angeklagten», und dies nur, weil es für eine Minisequenz des Vorfalls keine brauchbaren Zeugenaussagen gibt: nämlich zur Frage, wer zuallererst geschlagen hat. Klar ist: Die Angeklagten schlugen Silvia Leiser spitalreif und blieben selbst unverletzt. Zudem war die Haupttäterin wegen ähnlicher Delikte schon mehrfach vorbestraft – sogar wegen Gewalt gegen Beamte.
Für Silvia Leiser bedeutet das Urteil, dass sie als Opfer auf mehreren tausend Franken ungedeckten Kosten sitzenbleibt. Denn anders als die beiden arbeitslosen Täterinnen hat sie keine unentgeltliche Rechtspflege zugute, dafür verdient sie als Sachbearbeiterin zu gut. Und doch bleibt ihr vom Lohn zu wenig übrig, um das Urteil angesichts des Kostenrisikos weiterzuziehen. Fazit: Eine Täterin bezahlt keinen Rappen, die andere 300 Franken – das Opfer aber ein paar tausend Franken Anwalts- und Gerichtskosten. Silvia Leiser könnte ihre Forderung nur auf dem zivilrechtlichen Weg einfordern. Damit riskiert sie aber noch mehr Kosten.
Dieses Schicksal droht mit der neuen Strafprozessordnung den meisten Opfern. Bei leichteren Vergehen kann eine Strafuntersuchungsbehörde seit Anfang Jahr nämlich auf ein aufwendiges Gerichtsverfahren verzichten – und das trifft gemäss Schätzungen auf mindestens drei Viertel der Fälle zu. Stattdessen kann die Behörde einen Strafbefehl ausstellen, quasi ein Urteil im Miniformat. Wird dieses vom Verurteilten akzeptiert, so ist die Sache vom Tisch. Die Krux dabei: Die Ansprüche des Opfers werden gar nicht berücksichtigt, es sei denn, ein Täter anerkennt diese ausdrücklich.
«Das ist absurd», sagt Strafrechtsprofessor Martin Killias. Tatsächlich kann eine Untersuchungsbehörde mit dieser Regelung einen Täter mit bis zu sechs Monaten Gefängnis bestrafen, nicht aber zu einer Entschädigung oder Genugtuung für das Opfer verurteilen. «Nur weil das Parlament die Effizienz der Verfahren steigern wollte, sind jetzt Opfer im neuen Strafprozessrecht sehr viel schlechter gestellt als früher», kritisiert Killias.
Silvia Leiser hat das am eigenen Leib erfahren: «Ich fühle mich, als ob ich zum zweiten Mal getreten werde. Diesmal vom Staat», sagt sie.