Agnès P.* ist immer noch ausser sich. «Ein so kleiner Hund! So klein! Verstehen Sie?», sagt die 72-jährige Genferin mit dem rauen slawischen Akzent. Sie sei aus dem Tram gestiegen, ihren Zwergpudel Michka in der Tasche. Das sei Vorschrift, sonst müsse man für den Hund ein Billett lösen. Ein paar Schritte von der Tramstation Cornavin am Genfer Bahnhof habe sie das Tier aufs Trottoir gesetzt – wo es umgehend das Bein lupfte. «Drei Tropfen! Nicht mehr! Das versichere ich Ihnen!», empört sich Agnès P. Plötzlich habe sie jemanden rufen gehört: «Madame! Madame!»

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Es war ein Polizist. In barschem Ton habe er ihre Ausweispapiere verlangt. «Vor allen Leuten! Meine Hände zitterten! Ich schaffte es erst gar nicht, die Identitätskarte aus dem Etui zu klauben, wo ich sie immer aufbewahre.» Sie habe das Gesetz gebrochen, ihr Hund habe öffentlichen Grund verdreckt, belehrte sie der Polizist.

Drei Wochen später erhielt sie eine Abholungseinladung, Absender: die Gendarmerie. «In dieser Nacht konnte ich kaum schlafen», sagt Agnès P. Am Morgen ging sie zur Post und nahm eine Busse über 350 Franken in Empfang. «350 Franken für drei Tropfen Pipi! Können Sie sich das vorstellen?»

«Der Ort ist ohnehin eine Kloake»

Agnès P. beschliesst, sich zu wehren – und löst eine Welle der Solidarität aus. «Le Matin» berichtet über den Fall. «Diese Busse ist ungerechtfertigt und skandalös», ereifert sich der Anwalt von Agnès P. «Ich glaube kaum, dass drei Tropfen Hunde-Urin viel zur Verschmutzung der Passage beim Bahnhof beitragen. Der Ort ist ohnehin eine halbe Kloake.»

Den «Matin»-Bericht liest auch Manuel Alonso Unica. Er ist seit einem Jahr Hundebesitzer und wohnt im Paquis-Quartier. «In Genf müssen Hunde immer angeleint sein, ausser in den Hundeparks. Bloss: In unserem Quartier gibt es gar keinen richtigen Park. Wo also soll ich meinen Hund gesetzeskonform Gassi führen?»

Alonso arbeitet beim Bund als Spezialist für Wirtschaftskriminalität. «Ich bin ein kämpferischer Typ. Wenn ein Unrecht geschieht, greife ich ein.» Also gründet er die «Bewegung für die Verteidigung der Genfer Hundebesitzer» und beginnt Unterschriften zu sammeln. Bei Erfolg wird sich das Genfer Parlament mit der Frage befassen müssen, ob Hunde-Urin eine Verschmutzung des öffentlichen Grundes im Sinne des Gesetzes darstellt. «Die Petition ist ein Hit. Wir haben in einem Monat 2000 Unterschriften gesammelt», freut sich Alonso.

«Wie sollen die das aufwischen?»

In anderen Städten herrschen andere Sitten. «Für so etwas büssen wir Hundehalter nicht», sagt Jean-Philippe Pittet von der Lausanner Polizei. «Es ist ja auch schwer vorstellbar, wie denn die Besitzer den Pipi aufwischen sollten.» Auch in Freiburg, Bern, Zürich, Chur und St. Gallen beweisen die Behörden mehr Augenmass als in Genf, wie Nachfragen ergeben.

Den Genfer Sicherheitschef Antonio Pizzoferrato ficht das nicht an. «Das Gesetz verlangt nun mal, dass Hunde öffentlichen Grund nicht verschmutzen», sagte er gegenüber «Le Matin». Hunde müssten sich in den dafür vorgesehenen Parks versäubern.

«Es ist eine Tragikomödie», sagt Agnès P. Sie traue sich mit Pudelchen Michka kaum noch nach draussen – aus Angst, dass es irgendwo hinmache. Die Busse will sie aber nicht bezahlen: «Wenn nötig, gehe ich bis vor Bundesgericht.»

* Name der Redaktion bekannt